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2.Felder der Theaterpädagogik

von Mathis Kramer-Länger


2.1 EINLEITUNG

Theaterpädagogik hat sich – wie im ersten Kapitel vielfältig dargestellt – über die Jahre und Jahrzehnte hinweg stetig (weiter-)entwickelt, wurde beeinflusst von sich immer wieder neu darstellenden Erkenntnissen und Rahmenbedingungen, seien es gesellschaftliche, pädagogische, künstlerische, bildungs- oder kulturpolitische. Die laufenden Veränderungen von Bildungsbegriff und Theaterverständnis spielten eine wichtige Rolle im Wandel von Selbst- und Fremdverständnis der Theaterpädagogik, und immer wieder spiegelten sich das Menschenbild und die anthropologischen Annahmen in den unterschiedlichen Ausprägungen theaterpädagogischer Arbeitsweisen.

Weil Theaterpädagogik in dieser vielfältigen Entwicklung – wie im Kapitel 1 dargestellt – nicht einer einzigen Wurzel entspringt und sich über die Jahre hinweg nicht linear entwickelt hat, haben sich unterschiedliche Felder ergeben, in denen theaterpädagogisch gearbeitet wird. Diesen Feldern liegen – wie ebenfalls in Kapitel 1 erwähnt – unterschiedliche Verständnisse zugrunde, aus denen unterschiedliche Begrifflichkeiten und Arbeitsweisen entstanden sind. Aus diesen ergeben sich wiederum Definitionsansätze, gemäss denen theaterpädagogische Arbeit nach Einsatz- und Tätigkeitsgebiet beschrieben und benannt werden kann.

Diese Definitionsansätze schliessen sich gegenseitig nicht aus, vielmehr ergänzen sie sich, indem sie Theaterpädagogik aus unterschiedlichen Blickwinkeln und mit Bezug zu unterschiedlichen Grundlagen- und Bezugswissenschaften betrachten. So ergeben sie zusammen ein Gesamtbild – gleichsam eine Landkarte – theaterpädagogischer Felder. Diese Landkarte dient der Verortung und Orientierung und ermöglicht es theaterpädagogisch Arbeitenden, ihrem jeweiligen Arbeitsfeld entsprechend ein konturiertes theaterpädagogisches (Selbst-)Verständnis zu entwickeln.

2.2 THEATERPÄDAGOGIK IM SCHNITTBEREICH VON THEATER, PÄDAGOGIK UND THERAPIE

Theaterpädagogik ergibt sich – lapidar und dem Wortsinn folgend gesagt – durch die Überschneidung der beiden Felder Theater und Pädagogik, mithin von Kunst und Bildung. Theaterpädagogik kann in diesem Sinne als Bildungs- oder Ausbildungsgebiet verstanden werden, bei dem es inhaltlich um Theater geht: Inhalt und Ziel der Theaterpädagogik ist, Menschen in Theater auszubilden – Theaterpädagogik ist das kunstpädagogische Gebiet, in dem Menschen Theater lernen.

Als drittes Feld, das sich in der Praxis mit den beiden genannten überschneidet, ist die Therapie zu nennen: Im Laufe des letzten Jahrhunderts wurden in diversen therapeutischen Ansätzen aus dem Umfeld der Gestalttherapie Methoden entwickelt, die sich stark an Schauspiel, Inszenierung und Theater orientieren.

Jedes der drei genannten Felder trägt einen Teil zur inhaltlichen und methodischen Besonderheit der Theaterpädagogik bei, jedes dieser drei gibt der Theaterpädagogik einen Aspekt ihrer Identität. Doch genau so wenig wie der Kern der Theaterpädagogik allein in der Vermittlung und Erziehung liegt, so wenig lässt er sich aufs Künstlerische oder aufs Therapeutische reduzieren: Theaterpädagogik liegt exakt im Schnittbereich, der sich aus der Überlappung dieser drei Felder ergibt.


Abb. 1: Theaterpädagogik im Schnittbereich von Theater, Pädagogik und Therapie

Theater und Pädagogik

Die Berührungen und Überschneidungen von Theater und Pädagogik sind vielfältig und oft ganz selbstverständlich – im überlappenden Bereich befinden sich sogar eigentliche Kerngebiete der beiden Felder Theater und Pädagogik.

So ist es beispielsweise gleichsam axiomatisch, dass dem Theater ein Bildungsanspruch eigen ist. Von der antiken Tragödie, die mit der Katharsis eine läuternde Erkenntnis beim Publikum anstrebt, über Bertolt Brechts Stücke, in denen der V-Effekt sicherstellen soll, dass den Zuschauenden das analytische Erkennen der dargestellten Umstände möglich ist, liesse sich die Liste beliebig erweitern, in der sich dieser theaterimmanente Bildungsanspruch verfolgen lässt. In diesem Sinne ist Theater immer auch pädagogisch, wobei es den Anspruch hat, nie einer plumpen Didaktisierung zu erliegen, sondern sich immer an künstlerischen Aspekten zu orientieren.

Andrerseits lassen sich in der Pädagogik immer auch theatrale Anliegen erkennen: Darstellung und Inszenierung sind zentrale Aspekte von Vermittlung, Ausbildung und Bildung. Darstellendes und szenisches Spiel haben eine eminente Bedeutung für das Lernen im Kindesalter und darüber hinaus. Spielszenen bieten Möglichkeiten, Wirklichkeit in der Interaktion zu erproben, ohne reale Konsequenzen zu riskieren.

So berühren und überschneiden sich Theater und Pädagogik an unterschiedlichen Stellen ihrer jeweiligen Fachlichkeit. Theaterpädagogik bewegt sich in diesem vielfältigen Schnittbereich, nutzt zum einen pädagogische Aspekte von Theater und stellt zum andern theatrale Anliegen und Methoden in den Dienst von Vermittlungs-, Ausbildungs- und Bildungsprozessen.

Dabei können in kunstpädagogischem Sinne theatrale Kompetenzen in den Fokus des Lernens, der Ausbildung gestellt werden, wie beispielsweise das Theaterspielen, darstellerische Kompetenzen also; oder auch das ‹Theaterschauen›1.

Es geht im eigentlichen Sinn darum, Theater zu lernen. Eine Theaterpädagogin oder ein Theaterpädagoge sind so gesehen Fachlehrpersonen für Theater, die Lernanlässe schaffen, in denen theatrale Kompetenzen erlangt werden können – wie es Musiklehrer oder Sportlehrerinnen in ihren Gebieten tun. Theaterpädagogik im Rahmen von Kunstpädagogik hat demnach das Ziel, Menschen theatrale Kompetenzen zu vermitteln, die es ihnen ermöglichen, sich darstellerisch auszudrücken, innere und äussere Bilder mit ihrem Körper und ihrer Stimme darzustellen. Ebenso sollen diese Menschen Dargestelltes ansehen und ‹lesen› können. Inhalt und Ziel von Theaterpädagogik im kunstpädagogischen Sinne ist es also, Menschen zur aktiven Teilhabe an der darstellenden Kunstform Theater zu befähigen.

Es kann aber auch der kultur- oder menschenbildende Aspekt von Theater ins Zentrum gerückt werden, d.h. die Beschäftigung mit der Kulturform Theater an und für sich, welcher bildender Wert zugeordnet werden kann. In dieser Hinsicht geht es einerseits darum, darstellendes Spielen und den Spieltrieb mit dem Ziel einer umfassenden Menschenbildung zu wecken und zu unterstützen. Andrerseits soll Theater als kulturelles Gut erfahren und erlebt werden, das unsere Gesellschaft prägt und ausmacht. In diesem Sinne sind Theaterpädagoginnen und -pädagogen Menschenbildnerinnen und Kulturpädagogen, wie es Lehrpersonen ja auch sind, wenn sie sich nicht auf fachliche Ausbildung beschränken.

Oder aber es geht bei der Theaterpädagogik um die Nutzung von schauspielerischen Methoden oder dramaturgischen und inszenatorischen Aspekten von Ausbildungs- und Bildungsprozessen. Dabei wird theatrales Know-How genutzt und in den Dienst theaterfremder Anliegen gestellt. Das kann beispielsweise die Organisation und Durchführung von (Lehr-)Veranstaltungen sein, bei denen es nicht um Theater geht, genauso wie die Ausbildung von Fremdsprachen- oder Auftrittskompetenz. Theaterpädagoginnen und Theaterpädagogen, die in diesem Gebiet tätig sind, stellen sich als Fachpersonen mit ihrem Fach- und Methodenwissen in den Dienst anderer Inhalte.

So offen und durchlässig die Grenzen zwischen den Feldern des Theaters und der Pädagogik auch sind, muss Theaterpädagogik im Schnittbereich der beiden doch immer wieder klar eingegrenzt werden, wenn es in der Arbeit ausschliesslich oder allzu stark um rein künstlerische oder rein pädagogische Anliegen geht. So besteht beispielsweise die Gefahr, das der pädagogische Aspekt abhanden kommt, wenn in der künstlerischen Theaterarbeit keine Impulse der Spielenden zugelassen werden können, weil ein feststehender und nicht veränderbarer Theatertext anhand eines vorgefertigten Regiekonzepts umgesetzt wird. Umgekehrt können die künstlerischen Aspekte untergehen, wenn es – wie beispielsweise oft im (Fremd-)Sprachunterricht – ausschliesslich darum geht, auswendig gelernte Dialoge korrekt ausgesprochen wiederzugeben, ohne dass der szenischen Gestaltung Aufmerksamkeit gewidmet wird.


Abb. 2: Regietheater respektive (Fremd-)Sprachunterricht liegen ausserhalb des Schnittbereichs, in dem Theaterpädagogik mit sowohl künstlerischem als auch pädagogischem Anliegen angesiedelt ist.

Wie immer Theaterpädagoginnen und -pädagogen sich im Schnittbereich von Pädagogik und der Fachdisziplin Theater bewegen, sie befinden sich in der Nachbarschaft anderer thematischer und inhaltlicher Felder aus Kunst, Spiel, Gestaltung und Interaktion, die einen Schnittbereich mit Pädagogik haben: Musikpädagogik, Kunstpädagogik, Kulturpädagogik und -vermittlung, aber auch Spielpädagogik, Gestaltpädagogik, Sozialpädagogik, Erlebnispädagogik oder Museumspädagogik. Wie die Theaterpädagogik orientieren sich auch diese Disziplinen an den sich ständig verändernden Dimensionen ihrer jeweiligen Fachlichkeit, des Bildungsverständnisses und der anthropologischen Annahmen.


In Bezug auf die künstlerische Seite befindet sich Theaterpädagogik in unmittelbarer Nähe weiterer Felder aus dem Bereich der Künste und des Kunstschaffens, insbesondere der darstellenden Künste wie beispielsweise dem Tanz oder der Performance, aber auch anderer Künste, wie auch der Theater- und anderer Kunstwissenschaften.

Therapie

Ebenso in der Nachbarschaft liegt das Feld der Therapie: der Gestalt- und der Verhaltenstherapie sowie gestaltender und darstellender Ansätze der Psychotherapie. Auch mit ihr als drittem grundlegendem Bereich neben Theater und Pädagogik ergeben sich Überlappungen und Schnittbereiche.

Wie präsent therapeutische Ansätze in der theaterpädagogischen Arbeit sind und wie sehr sich die Methoden therapeutischer und theaterpädagogischer Arbeit vermischen, lässt sich am Begriff des ‹Rollenspiels› aufzeigen. Wohl wegen der Kombination der Begriffe ‹Rolle› und ‹Spiel›, die dem Theater zu entstammen scheinen, wird das Rollenspiel in aller Regel der Theaterpädagogik zugeordnet. Genau genommen entstammt der Begriff aber der Sozial- und der Entwicklungspsychologie.2

Im sozial- und verhaltenspsychologischen Kontext versteht man Rollenspiel als therapeutische Methode, in der das Rollenhandeln in soziologischem Sinn im Zentrum steht, das auf der (soziologischen) Rollentheorie basiert. Diese beschreibt die Rollenerwartungen, die von der Gesellschaft an einen Rollenträger gestellt werden und zu Rollenfestlegungen führen, durch die sich dem Rollenträger bestimmte Handlungsmuster und -räume in bestimmten sozialen Rahmen eröffnen. Im Rollenspiel können diese Handlungsmuster und -räume erprobt, variiert und erweitert werden. Als therapeutische Methode gibt das Rollenspiel den Spielenden die Möglichkeit, in konsequenzentlastetem Rahmen Erfahrungen damit zu machen, wie sich ihr Rollenverhalten modifizieren lässt.

Die Entwicklungspsychologie baut auf diesem sozialpsychologischen Ansatz auf und nutzt den Begriff des Rollenspiels für das kindliche Spiel, in dem sich Kinder – in aller Regel im Vorschul- und Grundstufenalter – in andere Menschen hineinversetzen. «Ich wäre jetzt die Mutter und würde das Abendessen vorbereiten und du wärst die Nachbarin und würdest zu Besuch kommen …». So oder ähnlich könnte beispielsweise die Einleitung lauten, mit der ein solches Rollenspiel beginnt. Selbstständig und ohne Anleitung ahmen Kinder darin nach, was sie in der Welt sehen und erleben und probieren so das – soziologische – Rollenverhalten anderer aus (siehe dazu auch Kapitel 5.2).

Im schulischen Kontext kommt die Methode des Rollenspiels häufig in eigentlich verhaltenstherapeutischen Settings zur Anwendung, zum Beispiel im Kontext sozialpädagogischer Ziele wie etwa der Erarbeitung von Strategien zur Konfliktlösung oder zur Gewaltprävention oder im Rahmen der Berufswahlvorbereitung bei Bewerbungstrainings. Und nicht selten sind es Theaterpädagoginnen und -pädagogen, die diese Sequenzen mit Klassen durchführen – sie arbeiten im Schnittbereich von Pädagogik und Therapie, der Fokus ihrer Arbeit ist ein sozial- oder verhaltenspädagogischer oder therapeutischer. Steht der künstlerisch-gestaltende Aspekt des Theaters im Vordergrund, spricht man nicht von ‹Rollenspiel›, sondern von ‹szenischem Spiel› und nicht von ‹Rollen›3, sondern von ‹Figuren›.

Über die Methode des Rollenspiels hinaus sind weitere Methoden und Begriffe aus der Gestalttherapie in der Nähe des Schnittbereichs der Felder Theater, Pädagogik und Therapie zu erkennen. Insbesondere der psychotherapeutische Ansatz des ‹Psychodramas› wird oft mit Theaterpädagogik in Verbindung gebracht, was wohl am Begriff ‹Drama› liegt, der dem Theater entstammt. Jakob Levi Moreno, der Begründer des Psychodramas, war denn auch ein begeisterter und durchaus erfolgreicher Theaterregisseur. Anfang des 20. Jahrhunderts hat er das Psychodrama mit dem psychotherapeutischen Ziel begründet, eine Methode zu entwickeln, «welche die Wahrheit der Seele durch Handeln ergründet» (Moreno (1973), S. 76). Moreno beschreibt fünf Grundinstrumente von Psychodrama,4 die – zumindest teilweise – durchaus eine Nähe zum Theater haben. Ebenso definiert er vier Phasen des psychodramatischen Verfahrens,5 die denen einer Theaterprobe oder einer theaterpädagogischen Sequenz sehr ähnlich sind. Darüber hinaus nennt Moreno als Ziel von Psychodrama eine ‹Katharsis› (Reinigung, Läuterung) und bedient sich damit eines auf Aristoteles zurückgehenden Begriffs aus der antiken Tragödie.6

So offensichtlich die gegenseitige Nähe von pädagogischer oder künstlerischer Theaterarbeit und Psychodrama über die gegenseitige Nutzung von Begrifflichkeiten und methodischem Vorgehen auch ist, so stark unterscheiden sie sich auf der Zielebene: Im Theater geht es ums Erzählen einer Geschichte mit theatralen Mitteln der Darstellung, in der Pädagogik ums Entwickeln von Haltungen und um Kompetenzaufbau; fürs Psychodrama hingegen formulierte Moreno als Ziel die Heilung eines Menschen durch die Gruppe. Dieses psychotherapeutische Anliegen des Heilens ist denn auch eindeutig nicht im Schnittbereich von Theater, Pädagogik und Therapie anzusiedeln, sondern klar als Therapieansatz zu bezeichnen, der nicht mit Theaterpädagogik in Verbindung gebracht werden kann.


Abb. 3: Der Therapieansatz des Psychodrama liegt ausserhalb des Schnittbereichs, in dem Theaterpädagogik angesiedelt ist.

Es ist aber durchaus nicht so, dass sich Moreno bei der Entwicklung seiner psychotherapeutischen Methode einseitig beim Theater bedient hätte – auch das Theater, insbesondere die Theaterpädagogik, nutzt Methoden des Psychodramas: Soziometrische Übungen (Ordnungsübungen, Standbilder zur Darstellung von Beziehungen etc.), wie sie in der Theaterpädagogik beliebt und gebräuchlich sind, gehen auf Moreno zurück, der als einer der Väter der soziometrischen Aktionsforschung7 zu bezeichnen ist (vgl. Kapitel 1.5). Soziometrische Übungen finden dank ihrem unzweifelhaft performativen und choreografischen Charakter auch immer wieder Eingang in Aufführungen.

2.3 THEATERPÄDAGOGIK ALS KONZENTRISCHE FELDER THEATERSPIELEN UND THEATERSCHAUEN

Ein zweiter Ansatz zur Eingrenzung und damit zur Definition theaterpädagogischer Arbeit beschreibt zwei konzentrische Felder im eben dargestellten Schnittbereich der drei Felder Theater, Pädagogik und Therapie des ersten Ansatzes.

–Einerseits lässt sich ein zentrales theaterpädagogisches Feld der Produktion von Theater eingrenzen, das sich mit dem Initiieren und Begleiten von theatralen Spielprozessen befasst.

–Andrerseits – und dem eigentlichen Wortsinn folgend – kann Theaterpädagogik verstanden werden als pädagogische Richtung, die sich mit Bildungs-, Erziehungs- und Vermittlungsprozessen im Zusammenhang mit der Rezeption von Theater befasst.

Das zweitgenannte, weite Feld der Rezeption sowie vielfältiger und vielgestaltiger Vermittlungs- und Erziehungsprozesse im Zusammenhang mit Theater – häufig im Kontext von Inszenierungen und Theaterbesuchen im professionellen Theater – umfasst das erstgenannte, zentrale der Produktion, bei dem das ‹Selber-Spielen› im Fokus liegt. Diese beiden Felder wurden im ersten Kapitel schon erwähnt.


Abb. 4: Produktion (Theaterspielen) und Rezeption (‹Theaterschauen›) als konzentrische Felder

Theaterpädagogik als Initiieren und Begleiten von Spielprozessen

Das innere der beiden konzentrischen Felder umfasst alle theaterpädagogischen Prozesse, bei denen Menschen zum Theaterspielen angeleitet werden. Unabhängig von Rahmenbedingungen wie Alter, Gender, Vorkenntnissen der Spielenden, unabhängig von institutioneller Einbettung oder beabsichtigter Wirkung, unabhängig von Techniken und Methoden geht es bei der theaterpädagogischen Arbeit in diesem Feld immer um die konkrete Produktion von Theater. Dies beginnt beim kurzen szenischen Versuch im Sinne von Rollenspiel, geht über Improvisationsspiele bis hin zum Theaterprojekt mit Abschlussaufführung.

In diesem Feld der Theaterpädagogik geht es also darum, dass Menschen Theater produzieren, dass sie Theater spielen. Oder anders: die Erziehungs- und Bildungsprozesse hängen im Kern von den Spielerfahrungen der Lernenden und darüber hinaus von ihrer Reflexion derselben ab und stehen in engem Zusammenhang mit diesen. Im Zentrum von Theaterpädagogik steht hier die eigene Spielerfahrung, das ‹Selber-Spielen›, der spielende Mensch, der ‹Homo ludens› (Huizinga (2011)).


Aus Sicht der Leitenden wird Theaterpädagogik in diesem Feld verstanden als Initiieren und Begleiten von theatralen Spielprozessen. Als Forderung an die Ausbildung von Theaterpädagoginnen und -pädagogen, die in diesem Feld arbeiten, wird denn auch einerseits eine fundierte eigene Schauspielausbildung gesehen, in der sie sich als Spielende, als ‹Homines ludentes› erfahren. Andrerseits wird über die theoriegestützte Reflexion dieser Spielerfahrungen ein spielorientiertes Leitungsverständnis entwickelt.

Theaterpädagogik als theatraler Bildungsprozess ohne eigene Spielerfahrung

Im äusseren der beiden konzentrischen Felder geht es nicht ums ‹Selber-Spielen› sondern um die vielfältige Beschäftigung und Auseinandersetzung mit theatralen Prozessen. Vermittlungs-, Erziehungs- oder Bildungsprozesse zielen hier darauf ab, Menschen mit Theater in Beziehung zu bringen, ohne dass sie selber spielerisch aktiv werden, ohne dass sie selbst Theater ‹produzieren›. An die Stelle der Produktion wird in diesem Feld in aller Regel die Rezeption von Theater gestellt, die – in der Reflexion durchaus auch aktive – Beschäftigung mit theatralen Produkten, an denen man als Zuschauerin oder Zuschauer, nicht aber als Spielerin oder Spieler direkt beteiligt ist. Die Rede ist hier beispielsweise vom Besuch einer Theatervorstellung mit vor- und nachbereitenden Probenbesuchen, Gesprächen mit Schauspielerinnen und Schauspielern und anderem mehr – ohne dass eigentliche Spielprozesse initiiert oder szenische Versuche unternommen würden. Die Vermittlungs-, Erziehungs- und Bildungprozesse in diesem Feld hängen also nicht von der eigenen Spielerfahrung der Lernenden ab, sondern von der vielfältigen weiteren Beschäftigung mit Theater.

Dass die Grenze zwischen den beiden konzentrischen Feldern – dem zentralen des ‹Selber-Spielens› und dem umfassenden des ‹Theaterschauens› – durchlässig ist, liegt im Wesen von Theater: Theatrale Kommunikation entsteht erst in der wechselseitigen Ergänzung von Produktion und Rezeption, im Zusammenwirken von Bühne und Zuschauerraum. Und genauso wie erst das zuschauende Publikum das Geschehen auf der Bühne zu Theater macht, wird das Publikum erst dadurch zum Publikum, dass ihm auf der Bühne etwas vorgespielt wird. Oder, wie Peter Brook in seinem fürs Theater zentralen Buch «Der leere Raum» schreibt: «Ein Mann geht durch den Raum, während ihm ein anderer zusieht; das ist alles, was zur Theaterhandlung notwendig ist». (Brook (2004), S. 9)

In diesem Sinn kann auch das Konzept der beiden konzentrischen Felder verstanden werden: Zu einer umfassenden Theater-Bildung im Sinne einer Erziehung von Menschen zur aktiven Teilhabe an Theater gehören das ‹Selber-Spielen› genauso wie das Zuschauen. Beide Bereiche ergänzen einander und helfen sich gegenseitig. «Wer spielt, schaut anders Theater. Wer Theater schaut, spielt anders.» (Lille (2009), S. 14)

2.4 FELDERDEFINITION ÜBER ZIELE DER THEATERPÄDAGOGIK

Eine dritte Möglichkeit zur definierenden Eingrenzung von Feldern der Theaterpädagogik geht von der – in der Pädagogik ebenso umstrittenen wie allgegenwärtigen – Frage nach der Intention aus: Woraufhin zielt die Beschäftigung mit Theater, was soll erreicht werden mit Theaterpädagogik? Die Beantwortung der Zielfrage öffnet zunächst zwei neue Felder:

–Ein erstes ist jenes, in dem als Ziel der Beschäftigung mit Theater die Erweiterung von künstlerischen Kompetenzen8 steht, die in kunstpädagogischer Absicht konkret mit Theater zu tun haben. Dies kann die eigene Spielkompetenz in all ihren Facetten sein oder das Verständnis von theatralen Prozessen und Produkten.

–Ein zweites Feld, das sich im Zusammenhang mit der Frage öffnet, was mit der theaterpädagogischen Arbeit intendiert sei, umfasst eine Vielfalt von Kompetenzen, die inhaltlich nicht mit Theater in Zusammenhang stehen, an denen aber mit theatralen Mitteln gearbeitet werden kann. Hier ist die Rede von der schon im ersten Kapitel erwähnten Vielfalt theaterpädagogischer Einsatzgebiete, begonnen bei Methoden aus dem (Fremd-)Sprachunterricht oder der Schulung personaler Kompetenzen (z. B. Auftrittskompetenz) mit Methoden aus der Schauspielausbildung, über die Erweiterung von sozialen Skills in Rollenspielen, bis hin zu den erwähnten therapeutischen Ansätzen.

Diese beiden Felder sind als klar voneinander abgegrenzte Bereiche zu sehen, deren Grenze nur wenig durchlässig ist.


Abb. 5: Abgrenzung von theaterpädagogischer Arbeit, mit dem Ziel, künstlerische Kompetenzen zu erweitern und theaterpädagogischer Arbeit mit dem Ziel, fachliche, soziale oder personale Kompetenzen zu erweitern.

Theaterpädagogik mit dem Ziel, Wissen und Können über Theater aufzubauen

Im Feld der künstlerischen Kompetenzen wird das (Aus-)Bildungsziel verfolgt, Kompetenzen in der Kunstform Theater aufzubauen. Der im ersten Kapitel erwähnte, aus England stammende Begriff ‹drama education› beschreibt dieses Feld relativ präzise. In der Übersetzung heisst er etwa ‹Theater-Vermittlung› oder ‹Theater-Erziehung›. Ebenfalls hilfreich ist der über das Theater hinausgreifende Begriff ‹learning in arts›,9 der übersetzt werden kann mit ‹Lernen in den Künsten›. Es geht also in didaktischem Sinn um Kunstvermittlung, d.h. darum, Kunst – in der Theaterpädagogik mithin Theater – zu lernen.

Dieses Ziel kann und soll gleichermassen über das ‹Selber-Spielen›, die Produktion von Theater, verfolgt werden wie über die Rezeption. Damit wird klar, dass dieser dritte Ansatz der Felderdefinition über die Zielfrage theaterpädagogischer Arbeit den oben dargestellten zweiten Ansatz ergänzt und auf die erwähnte theaterimmanente Durchlässigkeit der Grenze zwischen den beiden konzentrischen Feldern von Produktion und Rezeption hinweist: Geht es im inneren Feld des ‹Selber-Spielens› um die Entwicklung von Spiel- und Ausdrucksfähigkeit – ganz im Sinne des Aufbaus von darstellerischen Kompetenzen, von Wissen und Können im Bereich der Schauspielerei –, so gehört dazu auch das Vorzeigen, das Vorspielen der erworbenen Kompetenzen, eine Theateraufführung in welcher Form auch immer. Auf diese Weise kommt der Aspekt des Zuschauens, der Rezeption also, dazu und wird die Grenze des inneren Felds, des ‹Selber-Spielens›, durchlässig. Nur dadurch, dass die Spielenden erleben, dass ihr Theaterspiel Wirkung erzeugt, können sie letztlich ihre Kompetenzen überprüfen. Und auch das Publikum macht beim Zuschauen wichtige Erfahrungen, die zum Aufbau von umfassenden theatralen Kompetenzen, von Wissen über Theater, notwendig sind.

Theaterpädagogik mit dem Ziel, an fachlichen, sozialen oder personalen Kompetenzen zu arbeiten

Das zweite Feld grenzt sich dadurch vom ersten ab, dass es nicht die Ausbildung von theatralen, sondern von fachlichen, sozialen oder personalen Kompetenzen intendiert. Im Gegensatz zum ersten Feld spricht man hier von ‹drama in education›, also von Theater in der Vermittlung und nicht von ‹drama education›, von ‹Theater-Vermittlung›. Es geht hier um ‹arts in learning›, um Künste im Dienste des Lernens und nicht um ‹learning in arts›, also nicht um Lernen in den Künsten. Theater wird hier im Dienst des Erwerbs von Kompetenzen gesehen, die nicht eigentlich theatrale Kompetenzen sind. Mit theatralen, szenischen Methoden und Übungen werden Ziele verfolgt und Inhalte bearbeitet, die keine schauspielerischen oder theatralen sind, sondern beispielsweise (fremd-)sprachliche oder sprecherische, also fachliche, soziale oder personale.

2.5 ‹ERZIEHUNG ZUM THEATER›, ‹ERZIEHUNG DURCH THEATER› UND ‹ERZIEHUNG MIT THEATERAFFINEN MITTELN›

Eine vierte Möglichkeit, Felder der Theaterpädagogik zu definieren, erweitert und differenziert den eben beschriebenen dritten Ansatz der Felderdefinition über die Ziele von Theaterpädagogik, indem sie drei Felder unterscheidet:

–‹Erziehung zum Theater› (vgl. Hentschel (2010), S. 238) entspricht dem Feld theaterpädagogischer Arbeit mit dem Ziel, Wissen und Können über Theater aufzubauen, bei dem es um Kunstvermittlung geht. Ulrike Hentschel prägt dafür mit dem Begriff ‹Erziehung zum Theater› die wohl präziseste Übersetzung der beiden eingangs genannten englischen Begriffe ‹drama education› respektive ‹learning in arts›.

–‹Erziehung durch Theater› (vgl. Hentschel (2010), S. 238) nennt Hentschel dasjenige Feld, bei dem an sozialen und personalen Kompetenzen gearbeitet wird. Ausgangspunkt von ‚Erziehung durch Theater› ist die Annahme, dass Theaterspielen sowie die rezeptive Beschäftigung mit Theater bildenden Wert haben.10 In diesem Sinn werden kulturpädagogische und menschenbildende Ziele verfolgt.

–Das Feld der ‹Erziehung mit theateraffinen Mitteln› (vgl. Hentschel (2010), S. 238) beinhaltet die Arbeit mit Übungen, Methoden und Settings, die aus der Schauspielausbildung und der Theaterarbeit stammen und zur Ausbildung fachlicher, sozialer oder personaler Kompetenzen wie beispielsweise von Sprach-, Kommunikations- oder Auftrittskompetenz genutzt werden.

Mit den beiden letztgenannten Feldern wird das Feld des dritten Ansatzes, in dem die Arbeit an fachlichen, sozialen oder personalen Kompetenzen als Ziel theaterpädagogischer Arbeit beschrieben wird, weiter differenziert und in zwei neue Felder unterteilt.


Abb. 6: Abgrenzung von Erziehung zum Theater, Erziehung durch Theater und Erziehung mit theateraffinen Mitteln

Erziehung zum Theater

‹Erziehung zum Theater› basiert auf der von Hentschel ausgeführten «kulturpädagogischen Begründung» theaterpädagogischer Arbeit (Hentschel (2010), S. 123). Hentschel schreibt dazu, dass «der Begriff ‹kulturpädagogisch› hier im Sinne der geisteswissenschaftlichen Pädagogik als Weitergabe der in den Bildungsgütern bewahrten kulturellen Werte an die nächste Generation verstanden wird. Nach diesem Verständnis geht es um eine Erziehung zur Kunst, konkret zum Verständnis der dramatischen und theatralen Kunst.» (Hentschel (2010), S. 123) Ziel ist also die aktive Teilhabe an der Kunstform Theater.

Erziehung zum Theater basiert auf einer Didaktik der Theatervermittlung, einer Fachdidaktik Theater, die über eine blosse Sammlung von schauspielerischen Übungen und theatralen Spielen hinausgeht. Sie befasst sich mit der Frage: «Wer was von wem wann mit wem wo, wie, womit und wozu lernen soll» (Meyer (1994), S. 16). Und wenn auch viele Aspekte dieser didaktischen Frage im Kern nicht zu beantworten sind, ohne dass eine konkrete Lernsituation mit konkreten Lernenden vorhanden ist, so lassen sich doch einige grundsätzlich gültige didaktisch-methodische Äusserungen machen: Eine Didaktik, die den Fokus auf die inhaltlichen und methodischen Besonderheiten von Theater legt, rückt zieloffene, entwickelnde, gestaltende Aspekte von Lernen in den Vordergrund. Des Weiteren kann aus der Tatsache, dass Theater in aller Regel in Ensemble-Prozessen entsteht, der Schluss gezogen werden, dass eine Theaterdidaktik kooperatives Lernen in Projektstrukturen stark gewichtet. Ebenso werden Spielen und Lernen in gegenseitige Nähe gerückt.


Wichtig ist dabei festzuhalten, dass sich die didaktischen Entscheidungen und methodischen Formen in diesem Feld der Theaterpädagogik immer aus der Orientierung am Ziel ergeben, den Lernenden Erfahrungen mit Theater zu ermöglichen sowie Möglichkeiten zu schaffen, in denen sie Wissen und Können aufbauen können, das ihnen ermöglicht, ihr «Verständnis der dramatischen und theatralen Kunst» (Hentschel (2010), S. 123) zu erweitern und zu vertiefen, was ihnen die aktive Teilhabe an der Kunstform Theater ermöglicht.

Erziehung durch Theater

Im Gegensatz zum Feld der ‹Erziehung zum Theater› stehen hinter der ‹Erziehung durch Theater› nicht kunstpädagogische, sondern kulturpädagogische und menschenbildende Ziele. Grundlegend für dieses Feld ist die Annahme, Theaterspielen an und für sich habe bildenden Wert. Diese Annahme steht der pädagogischen Haltung Pate, die – im Anschluss an reformpädagogische Werte und Ziele – abgesehen von Privatschulen mit diesbezüglichem pädagogischen Hintergrund,11 insbesondere in der Bildung von Kindern im Kindergartenalter starke Verbreitung hat. Eine enge Verbindung ist auch zur Spielpädagogik vorhanden.

Ziel ist es, den Spieltrieb, der als zentraler Trieb in jedem Menschen schlummert, zu wecken. Dahinter stehen zentrale Anliegen der Reformpädagogik und deren emanzipatorisches Bildungsziel: die Erlangung der Ganzheit des Menschen. Die menschenbildende Bedeutung des Theaterspielens wird in diesem Feld sehr stark gewichtet und tritt an die Stelle der kunstbildnerischen Intention.

Neben vielen methodisch-didaktischen Grundprämissen der Kindergarten- und Grundstufendidaktik basiert auf dieser anthropologischen Sichtweise letztlich auch der Komplex der musischen Bildung. Sie ist aus der in Kapitel 1 erwähnten Schulspiel- und Laienspielbewegung der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hervorgegangen und hat in der Volksschule unter dem Begriff ‹Darstellendes Spiel› in Deutschland sogar Einzug in die Lehrpläne gehalten (vgl. Kap. 1). Auch in der Schweiz hat die SADS (vgl. Kap. 1.1) Theater in Schulen auf diese Weise begründet.

Methodisch und didaktisch unterscheidet sich die Arbeit im Feld der ‹Erziehung durch Theater› wenig von derjenigen im Feld der ‹Erziehung zum Theater›. Hier wie da werden die didaktischen Entscheidungen aufgrund der inhaltlichen und methodischen Besonderheiten von Theater getroffen. Sie führen in diesem Feld aber stärker auf die Entwicklung des individuellen Spieltriebs hin als auf das Erleben und Erlernen darstellerischer Kompetenzen oder inhaltlicher und methodischer Besonderheiten von Theater, d.h. sie zielen nicht primär auf das «Verständnis der dramatischen und theatralen Kunst» ab (Hentschel (2010), S. 123).

Noch immer spielt diese anthropologische Begründung eine Rolle im Selbst- und Fremdverständnis der Theaterpädagogik. Allerdings wird sie immer stärker abgelöst, entweder von der kunstpädagogischen Begründung der ‹Erziehung zum Theater› oder durch diejenige des Feldes der ‹Erziehung mit theateraffinen Mitteln›.


Erziehung mit theateraffinen Mitteln

Im Zentrum dieses Feldes steht die Arbeit mit Übungen, Methoden und Settings, die aus der Schauspielausbildung und der Theaterarbeit stammen – allerdings werden mit ihnen weder kunstpädagogische noch in eigentlichem Sinn menschenbildende Ziele verfolgt, sondern die Ausbildung fachlicher, sozialer oder personaler Kompetenzen wie beispielsweise der Sprach-, Sprech-, Kommunikations- oder Auftrittskompetenz. Auch die vielfältigen Übungen zur Wahrnehmungsschulung, die immer wieder als Basis theaterpädagogischer Arbeit bezeichnet werden, können der ‹Erziehung mit theateraffinen Mitteln› (Hentschel (2010), S. 238) zugeordnet werden.

Im schulischen Rahmen können zu diesem Feld szenische Übungen gezählt werden, die oft in der (Fremd-)Sprachendidaktik Anwendung finden. In aller Regel geht es darum, vorgegebene Texte – oft Dialoge – zu lernen und danach auswendig vorzutragen. Im Deutschunterricht gehört das Rezitieren von Gedichten genauso zum allgemeinen Methodenfundus wie das Lesen von dramatischen Texten mit verteilten Rollen. Wie weit diese Arbeit jeweils szenisch wird, Text und Sprechen also situativ gestaltet werden (was in kunstpädagogischem Sinn als ‹Erziehung zum Theater› bezeichnet werden könnte), hängt vom Ziel und vom methodisch-didaktischen Geschick der Lehrperson ab.

Die Fremdsprachendidaktik kennt zwei zentrale methodische Varianten: Einerseits das erwähnte Auswendiglernen von Dialogen, die danach zu zweit (oder zu mehreren) vorgetragen werden, andererseits das sprachliche Stegreifspiel, in dem zu einer vorgegebenen Situation, deren Grundbegriffe zuvor erlernt wurden, improvisiert wird (z. B. ‹am Bahnhof›, ‹im Einkaufsladen› o.ä.). Bei beiden Übungsanlagen geht es darum, Sprechsituationen zu schaffen, in denen vorgängig erlernter Wortschatz einigermassen realitätsnah angewendet werden kann – eigentlich eine klassische Theatersituation, in der Schauspielerinnen und Schauspieler aufgrund eines mehr oder weniger ausgestalteten Theatertexts Szenen entwickeln. Im (Fremd-)Sprachenunterricht ist das Ziel aber in aller Regel eher, die Wörter und Texte korrekt auszusprechen, als auszuprobieren, welch unterschiedliche Geschichten sich mit ein und demselben Text erzählen lassen, je nachdem, in welcher Körperhaltungen, mit welchen Bewegungen, Handlungen, mit welcher Diktion, Lautstärke, Geschwindigkeit, Gestik, Mimik, in welchem Bezug zu Spielpartnern und Raum etc. er vorgetragen wird. Hier liegen die Unterschiede zwischen der kunstpädagogischen ‹Erziehung zum Theater› und der sprachdidaktischen Methode im Sinne von ‹Erziehung mit theateraffinen Mitteln›.

Ebenfalls dem Feld der ‹Erziehung mit theateraffinen Mitteln› zuzuordnen sind die vielen und vielfältigen, oft subsummierend ‹Rollenspiele› genannten szenischen und spielerischen Methoden, die ursprünglich der Verhaltenstherapie entstammen (vgl. Kapitel. 2.2).

2.6 THEATERPÄDAGOGIK ALS TEIL ÄSTHETISCHER BILDUNG

Der fünfte Ansatz, welcher Theaterpädagogik als Teil der ästhetischen Bildung betrachtet, greift Aspekte der bisher dargestellten Ansätze auf und führt sie zusammen. Er setzt Theaterpädagogik als theaterspezifischen Anteil in den Kontext anderer pädagogischer und künstlerischer (Fach-)Ausrichtungen, die gemeinsam ästhetische Bildung ausmachen (vgl. Kapitel 3.3).

Der Begriff der ‹ästhetischen Bildung› wird im pädagogischen Kontext auf Friedrich Schillers Schrift ‹Über die ästhetische Bildung des Menschen› (1795/1801) zurückgeführt, in der es heisst: «(…) der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt (…)» (Schiller (2012)). Schiller – und in der Folge die diesbezüglichen Richtungen der Erziehungswissenschaft bis heute – orientierte sich an einem Verständnis von Ästhetik, das vom griechischen ‹aisthesis› abgeleitet wird, was mit ‹sinnlicher Wahrnehmung› bzw. als Lehre von der Wahrnehmung und der Sinnlichkeit übersetzt und verstanden werden kann. Ästhetisch ist so gesehen alles, was unsere Sinne anregt und in uns Empfindungen und Gefühle hervorruft – angenehme wie unangenehme.12

Ein Bildungsverständnis, das sich an der Ästhetik orientiert, ist im Umfeld und in der Folge reformpädagogischer Anliegen wichtig geworden. Dabei wurde und wird das Verhältnis zwischen rationalem Denken einerseits und ästhetischem Wahrnehmen und Empfinden andererseits immer wieder fokussiert. Ebenso wird die Ausbildung von sinnlicher Empfindungs- und Wahrnehmungskompetenz als zwar wichtig, in der Moderne aber zunehmend schwieriger bezeichnet. Immer stärker werden durch die gesellschaftlichen Gewohnheiten und Gewichtungen das Analytische und Rationale betont: «Es ist heutzutage nichts billiger, als sich im Begrifflichen zu bewegen, Bescheidwissen, Meinungen [zu] ‹vertreten›, Denken, Lesen, Reden, Diskutieren – alles das erfordert nicht die geringste Mühe, es vollzieht sich von selbst. (…) Genau hinzusehen, das Empfindbare abzutasten, wird zu einer selteneren Leistung, die sich der Klugheit nähert, welche das Unformulierte abzuhören vermag.» (Wulf (1991), S. 16 ff.)

Angesichts der steigenden Abstraktion und der vielfach festgestellten Entsinnlichung des Alltags sowie der zunehmenden Digitalisierung und Virtualisierung der Welt schreibt ästhetische Bildung der Förderung des sinnlichen Wahrnehmungs- und Empfindungsvermögens – der Aisthesis also – eine grosse Bedeutung zu. Hauptaufgabe und Kern ästhetischer Bildung sind ästhetische Erfahrungen. Solche lassen sich künstlerisch rezeptiv und – vor allem – produktiv machen: im eigenen Gestalten, sei es bildnerisch, musikalisch, dichterisch oder darstellerisch, das von der Wahrnehmung der Welt und ihren Phänomenen ausgeht. Ästhetische Bildung basiert also auf der Schulung bzw. Ausbildung sinnlicher Wahrnehmung und all jener Kompetenzen, denen eine reflexive sinnliche Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit zugrunde liegt. Darunter versteht man gemeinhin Kreativität und die damit eng verbundenen Fähigkeiten und Fertigkeiten, inneren Bildern, Emotionen und Vorgängen bildnerisch, darstellerisch oder allenfalls interpretatorisch Gestalt zu geben.

Dieser kreativen Auseinandersetzung, dem spielerischen und gestaltenden Handeln mit der Umwelt, ordnen in der Folge von Schiller reformpädagogische und emanzipatorische Bildungsansätze menschenbildende Aspekte zu: «Ästhetische Erfahrung bezieht sich nicht auf Kunsterfahrung, sondern ist ein Modus, Welt und sich selbst im Verhältnis zur Welt und zur Weltsicht anderer zu erfahren.» (Otto (1994), S. 56) In diesem Sinn geht ästhetische Bildung über die Entwicklung künstlerischer Kompetenzen hinaus; aus der sinnlichen Erfahrung von Welt kann Wissen und Erkenntnis entstehen.

Zentrale Bedeutung wird dabei der Erfahrung von Freiheit zugeschrieben, die ästhetischer Erfahrung eigen ist. Schiller beschreibt einen ästhetischen Zustand, der im Hinblick auf Erkenntnis und Gesinnung besonders fruchtbar ist. Er bedeutet Freiheit zu jeder Bestimmung, d.h. die Eröffnung unbegrenzter Möglichkeiten zur Wahl der Bestimmung (vgl. Schiller in Hentschel (2010), S. 38).

Aus dem Ansatz, Theaterpädagogik als Teil ästhetischer Bildung zu bezeichnen, erwachsen auch ein- und abgrenzende Konsequenzen (vgl. Kapitel 3.3). Wenn ästhetische Bildung im Kern von ästhetischer Erfahrung abhängig ist, muss im Zentrum theaterpädagogischer Arbeit die praktische Theatererfahrungen stehen: «Sowenig wie Erfahrung überhaupt lässt sich Theatererfahrung nicht vermitteln, man muss sie machen.» (Branneck (1998), S. 25) Die praktische, produzierende Theaterarbeit, das ‹Selber-Spielen›, ist also zentral für diesen Ansatz. Damit rückt eine Besonderheit der Kunstform Theater in den Vordergrund, welche Theaterpädagogik klar von der Vermittlung anderer Künste abhebt: Die Spielenden sind gleichzeitig Produzierende und (zumindest) Teile des Produktes, sie sind gleichzeitig künstlerisch sich äussernde Subjekte und betrachtete (Kunst-)Objekte. Als Menschen sind sie Künstlerinnen und Künstler, als Figuren sind sie Teile einer Szene, einer Geschichte, einer Theateraufführung oder Inszenierung. Insofern kann «(…) mittels der Kunstform Theater eine Rolle (d.h. eine andere, erfundene Figur oder fiktive Welt) sinnlich konstruiert werden (…)» wofür «(…) eine Doppelung des Spielers in Person und Figur bzw. Produzent und Produkt vonnöten [ist]»13 (Weintz (2008), S. 134).

Eine zweite Konsequenz, die sich daraus ergibt, Theaterpädagogik als Teil der ästhetischer Bildung zu sehen, geht letztlich auf Schillers Feststellung zurück, dass Spiel nur dann bildend sei, wenn es Menschen den Zustand der Freiheit zur Selbstbestimmung erfahren lasse. Diese Feststellung setzt klare Ansprüche ans Initiieren und Begleiten von Spielprozessen: Einengende Beschränkungen – seien es vorbestimmte Theatertexte, Regiekonzepte oder Lernziele, die den Spielenden vorgegeben sind – erschweren oder verunmöglichen ästhetische Erfahrung. Theaterpädagogik hat das Ziel Freiräume zu schaffen, in denen sinnliche Erfahrungen im Sinne von sozialen und künstlerischen Erlebnissen möglich sind. Es geht also in der Theaterpädagogik nicht um die darstellende Interpretation eines vorgegebenen Inhalts, sondern um das Erfinden einer neuen theatralen Wirklichkeit: «Nicht das Darstellen oder Abbilden von Wirklichkeit mit theatralen Mitteln wird in ästhetisch bildender Absicht angestrebt. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass im Spiel eine eigene, theatrale Wirklichkeit erzeugt und dabei gleichzeitig die spezifische Medialität von Theater transparent wird.» (Hentschel (2010), S. 237)

2.7 ZUSAMMENFASSUNG

Es können unterschiedliche Felder von Theaterpädagogik beschrieben werden, die sich auf unterschiedliche Grundlagen- und Bezugswissenschaften beziehen. Die verschiedenen Beschreibungen liefern unterschiedliche Ansätze, theaterpädagogische Arbeit zu definieren, ein- und abzugrenzen. Die Differenzen und Grenzen sind zum Teil klar und deutlich, zum Teil scheinen sie sich zu verwischen.

Wer theaterpädagogisch arbeitet, kommt nicht umhin, sich auf dieser Landkarte theaterpädagogischer Felder immer wieder neu zu orientieren und zu verorten und so ein lebendiges theaterpädagogisches (Selbst-)Verständnis zu entwickeln.

Den fünf in Kapitel 2 ausgeführten exemplarischen Ansätzen liegt eine Gemeinsamkeit zugrunde: Sie alle nehmen Bezug zu Theater als Kunstdisziplin – sei es nun über die Wahl der Methoden und Arbeitsweisen, die der künstlerischen Theaterarbeit entstammen, oder über die intendierten Ziele der Arbeit, die sich an einem darstellerischkünstlerischen Anspruch orientieren.

Die fünf Ansätze verbindet aber auch eine zweite Grundlage: Sie nehmen alle Bezug zu Bildung und zeichnen einen insgesamt vielfältigen Bildungsbegriff, der den Bogen zwischen fachdidaktischem und kunstpädagogischem Kompetenzerwerb, sozialpädagogischen Anliegen und kultureller Menschenbildung aufspannt.

Theaterpädagogische Arbeit basiert immer auf einem künstlerisch-theatralen Verständnis. Mit theaterpädagogischer Arbeit werden Freiräume geschaffen, in denen Menschen vielfältige Erfahrungen machen, Kompetenzen erwerben, Haltungen entwickeln können. In welchen Feldern diese Arbeit auch immer geleistet wird, welche Ziele und Intentionen prioritär erarbeitet werden, sie fussen immer auf theaterimmanenten künstlerischen Prinzipien und Methoden, über welche Theaterpädagoginnen und -pädagogen als Grundlage ihrer professionellen Tätigkeit verfügen. Welche Bildungsprozesse damit initiiert und begleitet werden, welche Erlebnisse, Erkenntnisse, Erfahrungen ermöglicht werden und – gleichsam als Begleiterscheinung der im Kern künstlerischtheatralen Arbeit – entstehen, hängt vom Feld ab, in dem die theaterpädagogische Arbeit verortet wird.



Zum Primat der Kunst in der praktischen kunstpädagogischen Arbeit äussert sich auch Royston Maldoom. Der englische Choreograph arbeitet im Rahmen der Laientanzbewegung ‹Community Dance› immer wieder mit Laien – insbesondere auch immer wieder mit Jugendlichen an sozialen Brennpunkten. Weitherum bekannt geworden ist er durch ‹Rhythm is it›, die filmische Dokumentation seiner Arbeit mit Berliner Jugendlichen und Schülerinnen/Schülern an einer Aufführung von Igor Strawinskys Ballett ‹Le sacre du printemps› mit den Berliner Philharmonikern und ihrem Chefdirigenten Sir Simon Rattle. Im Rahmen eines ähnlichen Projekts in Zürich sagte er in einem Radio-interview (DRS 2, Kontext vom Montag, 25.04.2011, 09.06 Uhr):

«The first thing in my mind is, that I have to create a good piece of theatre. Secondly, that it has to be something, they [die Spielenden, Anm. d. Verf.] can be proud of – and rightly proud of. And thirdly it has to satisfy, instruct or entertain or educate or whatever the people who are taking the time and trouble if not the money to come and see it. I have to commit myself to the artistic process and to do it honestly and with discipline and that will achieve the results we are looking for. But if I start to become a social-worker, then it’s going to fall apart. I mustn’t fall into that trap, I have to come as an artist. I have to bring passion, I have to bring commitment, I have to bring discipline and all the things that an artist needs. And I strongly believe, that if I put art first as long as I have myself some kind of compassion for people or careing for people, a social agenda of my own, that somehow will give the results we need.»14

LITERATUR

Ameln, Falko von & Kramer, Jochen (2007): Organisationen in Bewegung bringen. Heidelberg: Springer Medizin Verlag.

Branneck, Manfred (1998): Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle, 8. aktualisierte Aufl., Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag.

Brook, Peter (2004): Der leere Raum. Berlin: Alexander Verlag.

Buer, Ferdinand (1999): Lehrbuch Supervision. Münster: Votum Verlag.

Gunter, Otto. (1998): Lernen und Lehren zwischen Didaktik und Ästhetik 1, Bd. 1: Ästhetische Erfahrungen und Lernen. Seelze: Kallmeyersche Verlagsbuchhandlung GmbH.

Hentschel, Ulrike (2010): Theaterspielen als ästhetische Bildung. Berlin, Milow, Strasburg: Schibri-Verlag.

Hilliger, Dorothea (2006): Theaterpädagogische Inszenierung. Berlin, Milow, Strasburg: Schibri-Verlag.

Homberger Ursula (2007): Referenzrahmen für Gestaltung und Kunst. Zürich: Pädagogische Hochschule.

Huizinga, Johan (2011): Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag.

Köhler, Norma (2009): Biografische Theaterarbeit zwischen kollektiver und individueller Darstellung. München: kopaed.

Lille, Roger (2009): Fundus. Das TheaterBlätterWörterBuch. Herausgeberin: Fachstelle Kulturvermittlung BKS, Aarau.

Meyer, Hilbert (1994): Didaktische Modelle. Berlin: Cornelsen Scriptor.

Moreno, Jakob Levy (1973): Gruppenpsychotherapie und Psychodrama. Stuttgart: Georg Thieme Verlag.

Otto, Gunter (1994): Das Ästhetische ist «Das Andere der Vernunft». Der Lernbereich Ästhetische Erziehung. In: Friedrich Jahresheft 1994

Rellstab, Felix (2000): Handbuch Theaterspielen, Band 4, Theaterpädagogik. Wädenswil: Verlag Stutz Druck AG (= Reihe schau-spiel, Band 10).

Sack, Mira (2011): spielend denken, Theaterpädagogische Zugänge zur Dramaturgie des Probens. Bielefeld: transcript Verlag.

Schiller, Friedrich (1795/2012): Über die ästhetische Erziehung des Menschen. In: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen. Kap. 3, 13. Brief. http://gutenberg.spiegel.de/buch/3355/3 (eingesehen am 06.11.2012)

Schreyögg, Astrid (2004): Supervision. 4. überarbeitete und erweiterte Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Wanzenried, Peter (2004): Unterrichten als Kunst. Zürich: Verlag Pestalozzianum.

Weinert, Fritz E. (2001): Vergleichende Leistungsmessung in Schulen- eine umstrittene Selbstverständlichkeit. In: Weinert, Fritz E. (Hrsg.): Leistungsmessung in Schulen. Weinheim und Basel: Beltz-Verlag.

Weintz, Jürgen (2008): Theaterpädagogik und Schauspielkunst. Berlin, Merlow, Strasburg: Schibri-Verlag.

Westphal, Kristin (Hrsg.) (2004): Lernen als Ereignis, Zugänge zu einem theaterpädagogischen Konzept. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.

Wulf, Christoph (1991): Mimesis in der ästhetischen Bildung. In: Kunst+Unterricht, Heft 151/1991

Der Tanz zu sich selbst, DRS 2, Kontext vom Montag, 25.04.2011, 09.06 Uhr, http://www.drs2.ch/www/de/drs2/sendungen/kontext/5005.sh10176426.html (Abfrage am 27.04.2011, 17:33), Transkription durch den Verfasser

Studienbuch Theaterpädagogik (E-Book, Neuausgabe)

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