Читать книгу Praxisschock (E-Book) - Marcel Naas - Страница 5
PROLOG
ОглавлениеNico Sommer macht sich auf den Weg zur Schule. Im August hat er in seiner ersten Anstellung als Sekundarschullehrer eine siebte Klasse übernommen. Der Start glückte ihm nicht besonders. Vieles, was ihm in der Ausbildung völlig plausibel und klar vermittelt worden war, wollte in der Praxis nicht so richtig funktionieren. Für praktische Probleme fand Nico oft keine Lösung, weil ihm die passende Theorie fehlte. Oder mangelte es einfach nur an Erfahrung? Damit trösteten ihn seine Teamkolleginnen und -kollegen. «Das wird schon. Am Anfang ging es mir wie dir.»
Nico genügte das nicht. An der Pädagogischen Hochschule war mantramäßig wiederholt worden, die Theorie sei zur Reflexion der Praxis unerlässlich, genauso wie die Praxis als Handlungsfeld der Theorie eminent wichtig sei. Das verhindere, dass sich ein Theorie-Praxis-Graben auftue. Erfahrung sei wertvoll, allerdings umso mehr, wenn sie mit theoretischen Kenntnissen verknüpft werden könne. Nico glaubte an die Wichtigkeit der Theorie – bis er als Klassenlehrer die erste Sekundarklasse übernahm und vom Berufsalltag so absorbiert wurde, dass für die Reflexion keine Zeit mehr blieb. Es war ihm, als würde er in einem Ruderboot im Sturm auf dem Meer treiben, bald von der einen, bald von der anderen Welle erfasst, und so sehr er auch ruderte, gelang es ihm kaum mehr, das Boot in die gewünschte Richtung zu steuern. So konnte es nicht weitergehen. Das beschloss Nico in den Herbstferien nach drei Tagen im Bett, als er realisierte, dass ihn nicht nur die Grippe so geschwächt hatte.
Nico verlangsamt seine Schritte. Noch um diese Kurve, dann steht er vor dem Schulhaus. Er fühlt sich unbehaglich.
Was ist los mit mir? Habe ich etwa Angst? Und wovor genau? Ich bin doch gerne Lehrer, oder nicht?
Er legt die Stirn in Falten und schluckt leer. In einer halben Stunde beginnt die erste Lektion nach den Herbstferien. Nico spürt, wie sich sein Puls beschleunigt.
Ich kenne das Gefühl. Es ist die übliche Unsicherheit, die ich vor jedem Praktikum oder nach den Sommerferien auch gespürt habe. Nehmen die mich ernst? Kann ich mich durchsetzen? Kann ich in meiner Rolle als Lehrperson genügen?
Vor einem Fenster der Turnhalle bleibt Nico stehen und betrachtet sein Spiegelbild. Er richtet sich auf und strafft die Schultern. Ihm blickt ein junger Mann entgegen, 24-jährig, sportlich und recht gut aussehend, wie er findet. Aber sieht er in ihm auch einen Lehrer?
Reiß dich zusammen. Du kannst das.
Kein Zweifel: Nico war ein interessierter Student gewesen. Wie die meisten anderen war er zwar auch an die Pädagogische Hochschule gegangen, um eine Berufsausbildung zu absolvieren, aber es war ihm immer klar gewesen, dass es hierfür eine erziehungswissenschaftliche und fachdidaktische Basis braucht. Deshalb hatte er nach der Abschlussfeier die Studienbücher nicht zum Altpapier gelegt, und auch die elektronischen Dokumente auf seinem Laptop hatte er behalten.
Als Nico in den Herbstferien über die ersten zwei Monate seiner Schulpraxis als Klassenlehrperson nachdachte, kam er zum Schluss, dass ein Blick in Theoriebücher hilfreich sein könnte, um nach den Ferien gewisse Dinge zu ändern. Sobald er wieder gesund genug war, begann er deshalb nicht sofort mit der konkreten Unterrichtsvorbereitung. Stattdessen vertiefte er sich in sein dickes Lehrbuch der Pädagogischen Psychologie, um Antworten auf seine Fragen aus der Schulpraxis zu erhalten.
Mit einem letzten Blick auf sein äußeres Erscheinungsbild atmet Nico tief durch, dann überquert er mit bewusst sicherem Schritt den Pausenplatz.
Ah, da drüben stehen ja schon ein paar Schülerinnen und Schüler aus meiner Klasse. Also, Nico, keine Unsicherheit zeigen. Selbstbewusstsein demonstrieren – das wirkt!
Beim Betreten des Klassenzimmers reagiert sein Körper – Nico registriert ein Kribbeln im Bauch und zunehmende Nervosität.