Читать книгу Der verlassene Rummelplatz - Marcel Zischg - Страница 10
DER KÄFIG VON HERRN G.
Оглавление»Stefan, wir haben keine Milch mehr«, sagte die Mutter. »Geh doch bitte kurz zu Herrn G. und frag ihn, ob er welche hat. Der Supermarkt hat schon zu.«
Lustlos tappte der Dreizehnjährige die Treppe zu Herrn G. hinunter. Herr G. war langweilig, dachte Stefan, ein langweiliger alter Mann.
»Komm nur herein, Stefan!«, sagte Herr G. freundlich und ging in die Küche. Stefan zögerte, er war noch nie in der Wohnung von Herrn G. gewesen. Langsam betrat er den Flur. Er war finster, nur ein paar späte Sonnenstrahlen drangen noch durch die Ritzen der geschlossenen Rollos aus dem Wohnzimmer.
Er kam an der geöffneten Wohnzimmertür vorbei und blieb verdutzt stehen. Der Raum war ein ganz normales Wohnzimmer, nur in der Mitte stand etwas: ein riesiger, runder, leerer Käfig. Ein ganzer Mensch hätte hineingepasst, so groß war er.
»Hier hast du deine Milch, mein lieber Stefan«, sagte Herr G. »Ach so, du schaust dir meinen alten Käfig an. Ich weiß gar nicht mehr, warum ich ihn gekauft habe.«
Herr G. stellte die Milch auf den Boden. Stefan lächelte.
»Der Käfig sieht toll aus, Herr G. Er ist so groß. Da passt bestimmt sogar ein erwachsener Mensch rein!« Er ging zum Käfig, öffnete die Käfigtür und stellte sich hinein. Mit einem Mal stand Herr G. hinter ihm und verschloss die Käfigtür.
»Hey, was soll das?«
»Sei nicht böse, lieber Stefan. Es ist nur … du erinnerst mich an jemanden.«
»Ich verstehe das nicht. Lassen Sie mich bitte raus, Herr G.«
»Stefan …«
Herr G. setzte sich auf das Sofa vor den Käfig. Er blickte Stefan ruhig und fest an.
»Ich war auch mal so alt wie du. Du bist ein so schöner Junge, Stefan. Ich würde alles dafür geben, wieder so jung zu sein wie du.«
»Herr G.«, meinte Stefan lächelnd, »Sie können nicht wieder jünger werden. Das geht gar nicht. Das kann niemand.«
»Vielleicht. Aber ich kann die Jugend einfangen.«
»Einfangen? Ist der Käfig dann dafür, Herr G.?«
»Nein, eigentlich nicht«, gab Herr G. zu, »für etwas anderes. Warte. Warte.«
Er zog ein Foto aus der Hemdtasche und sah lange darauf, wobei sein Blick sich zu verändern schien. Schließlich schob er Stefan das Foto durch die Gitterstäbe zu. Stefan nahm es und sah es an. Es war ein altes Schwarzweißbild. Zwei Schuljungen waren darauf zu sehen, die einander die Arme auf die Schultern legten. Einer der Jungen sah Stefan ähnlich, der andere mochte Herr G. als Junge gewesen sein. Stefan nickte und schob es Herrn G. wieder zurück durch die Gitterstäbe.
»Danke«, sagte Herr G., ergriff das Foto ungeschickt und ließ es zu Boden fallen, dabei wischte er sich etwas aus dem Augenwinkel. Schließlich bückte er sich und hob es wieder auf.
»Es ist ein altes Foto, aus einer vergangenen Zeit«, erklärte er. »Alte Freunde – mehr nicht.«
»Das glaube ich nicht, Herr G.«
»Egal. Ganz egal. Stefan, versprich mir, dass der Käfig unser Geheimnis bleibt.«
»Natürlich, Herr G. Wenn Sie das so wollen.«
Herr G. öffnete die Käfigtür wieder, und Stefan sprang heraus und wollte davonlaufen.
»Halt, Stefan! Vergiss deine frische Milch nicht!«
»Papa, Mama, Herr G. hat mich in einen riesigen Käfig gesperrt!«
Die Eltern lachten, und Stefans Mutter meinte: »Hör auf zu scherzen, Stefan! Herr G. ist ein netter alleinstehender alter Herr. Wo hast du die Milch?«