Читать книгу Der verlassene Rummelplatz - Marcel Zischg - Страница 7
DAS KARUSSELL
Оглавление»Warum hat Papa uns verlassen?«, fragte die zehnjährige Lisa ihre Mutter.
Lisa hat immer wieder gehört, ihr Vater ist tot. Heute hat eine Schulfreundin ihr versichert, dass er überfahren worden sei. Das hat Lisa veranlasst, ihre Mutter danach zu fragen. Aber die sagte wie immer nichts, schickte Lisa und ihren Bruder Tobias ins Bett und wollte nur in Ruhe gelassen werden. Tobias wollte auch nicht über seinen Vater sprechen. »Wenn er uns wirklich verlassen hat, wie Mama sagt, dann soll er auch fortbleiben.«
Die Mutter legte sich ins Bett und dachte nach. Die Kinder wussten es nicht. Es gab auf dem Friedhof nicht einmal ein Grab ihres Vaters, weil er in einem weit entfernten Dorf ruhte, im Grab seiner Eltern, die schon vor Tobias’ Geburt gestorben waren. Tobias und Lisa waren noch nie in dem Dorf ihrer Großeltern gewesen.
Als die Mutter endlich einschlief, träumte sie einen Traum, den sie schon öfter geträumt hatte: den Traum von dem Karussell. In ihrem Traum war sie nicht sie selbst, sondern Lisa, ihre Tochter. Dann fühlte sie sich wie ein zehnjähriges Mädchen, das jemandem von seinem Traum erzählte.
Der Tag war warm. Mama schickte uns hinaus zum Spielen, wir hatten Sommerferien, Tobias und ich. Mein großer Bruder war zwölf, ich elf. Wir trabten über die Straße von unserem Haus weg. Mama rief uns aus dem Fenster hinterher: »Bleibt nicht zu lange weg!«
Wir wussten aber, dass wir bis zum Abend fortbleiben durften, weil wir Mama bei der Hausarbeit im Weg waren, sie in der Fabrik heute Nachtschicht hatte und es noch nicht dunkel war, wenn sie losgehen würde. Außerdem führte ihr Weg zur Fabrik am Spielplatz vorbei.
Tobias hielt seinen Fußball in der Hand. Er war einen Kopf größer als ich und hatte strohblondes Haar und weiße Zähne, weil er ein Junge war, der seine Zähne sorgfältig putzte, anders als ich. Er war ein guter Schüler, in allen Fächern Einser und Zweier. Als wir durch Sonne und Schatten unter den Ahornbäumen zum Spielplatz gingen, lächelte er ein Sommerferienlächeln. Daran kann ich mich noch erinnern, an das Lächeln vor dem Spielplatz, vor dem Karussell.
»Morgen hast du Geburtstag, Lisa«, sagte er verheißungsvoll, was wünscht du dir?«
»Keine Ahnung«, sagte ich. »Wenn wir zusammen auf den Spielplatz gehen, reicht mir das.«
Es war ein kleiner Spielplatz: eine kurze Rutschbahn, eine Schaukel, ein Sandkasten und ein Karussell. Aber es war unser Spielplatz. Im Traum hatten wir den ganzen Spielplatz für uns, und wir wollten zwischen Rutschbahn, Schaukel, Sandkasten und Karussell Fußball spielen.
Plötzlich kam ein merkwürdiger Junge auf uns zu. Er sah Tobias ähnlich: Er war gleich groß, hatte dieselbe Haarfarbe, dieselbe Frisur, dieselben graublauen Augen und sogar ähnliche Gesichtszüge. Nur ein Muttermal trug er an seinem Hals, das hatte Tobias nicht. Auch er hielt einen Fußball in seiner Hand und forderte meinen Bruder und mich heraus: »Spielen wir zusammen?«
Irgendwie störte mich der Junge. Ich hatte mit meinem Bruder allein spielen wollen. Es dauerte auch gar nicht lange, bis ich aufgab, weil ich mich schlecht fühlte. Der fremde Junge schoss dauernd Tore und stieß dabei unsere Paletten aus Holz um, die wir als Tore verwendeten. Ich konnte keinen einzigen Ball halten, kam mir unnütz vor und ließ meinen Bruder schließlich allein gegen den fremden Jungen weiterspielen.
Stattdessen setzte ich mich in das Karussell. Es war mein Lieblingsort. Wenn man sich auf die kleine runde Bank setzte, das Karussell anschob und sich drehte, hatte man das Gefühl, in einer eigenen Welt zu sein, in einem Kreis, in den niemand eindringen konnte, der einem ganz und gar allein gehörte.
Ich stellte mir vor, wie ich mit Tobias im Dunkeln im Karussell saß. Wir setzten es in Bewegung, und dann drehten wir uns immer schneller und schneller und hatten das Gefühl, keine Angst mehr vor der Dunkelheit haben zu müssen, die uns umgab.
Jetzt schob mich der fremde Junge im Karussell an. Ich drehte mich, und mein Bruder sprang dazu.
Als das Karussell anhielt und wir ausstiegen, standen wir mit einem Mal in unserer Wohnung. Wir sahen auch den fremden Jungen dort. Er stritt sich mit unserer Mutter. Sie hatte einen dicken Bauch. Der Junge war plötzlich ein erwachsener Mann, und wir wussten, dass er unser Vater war. Er schlug die Tür hinter sich zu, und mein Bruder rief: »Ich will endlich wissen, warum du uns damals verlassen hast!« Dann lief er Papa hinterher. Mir tat Mama leid, und ich blieb bei ihr und tröstete sie, auch wenn ich nicht wusste, warum sie weinte.
»Du bist ein liebes Mädchen«, sagte sie, »aber warum stehst du plötzlich hier in meiner Wohnung? Und wer bist du? Dein Freund, der vorhin aus der Wohnung gestürmt ist …«
Sie musste Tobias meinen.
»Das ist doch mein Bruder«, sagte ich. »Mama, erkennst du mich denn nicht?«
»Mama?«
Sie war durcheinander, dann sagte sie einfach: »Na ja, jedenfalls sieht dein Bruder so ähnlich aus wie mein Mann. Wir haben uns gerade furchtbar gestritten. Er hat sich in eine andere Frau verliebt. Ich wollte, dass er geht und nie wieder zurückkommt, so wütend war ich. Ich weiß, das war hart. Vielleicht können wir noch einmal über alles reden. Ich habe einen kleinen Sohn, der Tobias heißt, und bald bekomme ich noch ein Kind, weißt du.«
Sie zeigte mir eine Wiege, in der Tobias lag. Tobias lächelte mich an, sanft und heiter, wie immer, so, wie er es heute getan hatte, vor dem Spielplatz.
Plötzlich rang das Baby nach Luft. Etwas schien ihm die Kehle zuzuschnüren. Mama war verzweifelt, nahm Tobias und schüttelte ihn. »Vielleicht hat er sich an irgendwas verschluckt.«
Von draußen waren jetzt Sirenen zu hören, immer lauter.
Ich trat an das Fenster, blickte hinaus und sah, dass mein Vater angefahren worden war. Er lag verletzt auf der Straße, und neben ihm stand ein Auto. Da lag auch mein Bruder, das Auto musste ihn ebenso erwischt haben! Ich stürmte aus dem Haus, Mama mit dem kleinen Jungen schreiend zurücklassend.
»Tut mir leid«, sagte der Sanitäter von der Rettung zu mir, als ich durch die rotweißen Absperrbänder wollte, »da war ein betrunkener Autofahrer. Dein Bruder und dein Vater leben leider nicht mehr.«
Alles hatte mit dem Karussell angefangen. Also lief ich zurück zum Spielplatz. Er war leer und dunkel. Ich drehte das Karussell, diesmal im Uhrzeigersinn statt dagegen, wie der fremde Junge es getan hatte. Ich stieg ein und drehte und drehte mich …
Als ich wieder ausstieg, saß ich immer noch auf dem Spielplatz. Es war finstere Nacht und niemand da.
Ich ging nach Hause. Meine Mutter sagte, sie müsste gleich zur Arbeit.
»Tobias ist doch überfahren worden«, sagte ich und keuchte. Sie sah, wie verzweifelt ich war und erschrak.
»Überfahren? Aber Lisa, er ist doch schon als kleiner Junge gestorben. Er ist erstickt.«
»Papa wurde auch überfahren«, sagte ich. »Papa und Tobias wurden überfahren!«
»Nein!«, rief sie und hielt sich die Ohren zu.
»Du hast nie erzählt, was mit Papa wirklich passiert ist«, sagte ich, »du hast immer nur gesagt, er hat uns verlassen.«
»Ich hätte ihn nicht wegschicken dürfen«, sagte Mama. »Bitte geh nicht weg, Lisa!«
»Ich muss zum Spielplatz! Ich muss ins Karussell und wieder in die Vergangenheit. Wir haben einen fremden Jungen auf dem Spielplatz getroffen, das war Papa. Er hat uns in die Vergangenheit gefahren, mit dem Karussell! Du hast dich mit Papa gestritten, Papa hat die Wohnung verlassen, Tobias ist Papa nachgelaufen, und dabei ist er von einem betrunkenen Fahrer überfahren worden, so wie Papa!«
»Nein!«, brüllte Mama. »Verdammt, dein Papa wurde überfahren, und es tut mir leid, dass ich euch das nie erzählt habe, aber ich konnte nicht. Er starb, kurz bevor du geboren wurdest. Ich hätte ihn nicht wegschicken dürfen. Er hatte gar nichts mit dieser Frau. Ich war nur eifersüchtig. Aber dein Bruder ist erstickt, als er klein war! Er ist erstickt!«
»Nein!«, rief ich. »Nein! Wir können das alles verändern, Mama!«
Ich zerrte sie zu dem Karussell und flehte sie an, sich mit mir hineinzusetzen. Schließlich tat sie es, um mich zu beruhigen. Ich schob an, sprang hinein und drehte das Karussell gegen den Uhrzeigersinn, um zurückzufahren, zurück in die Vergangenheit. Mama weinte.
Die Mutter wachte auf. Draußen ging die Sonne auf. Sie hörte Lisa und Tobias in der Küche.
»Mama, Frühstück!«
Das war Tobias. Er war ein braver Junge. Sonntags, wenn sie schulfrei hatten, waren Lisa und er immer besonders eifrig und aufgeweckt.
Die Mutter dachte an das Karussell aus ihrem Traum. Ja, sie drehte sich im Kreis, seit Hans tot war. Keinen einzigen Schritt war sie seitdem weitergekommen. Hatte sie Hans umgebracht, weil sie ihm nicht vertraut hatte? Da war diese andere Frau gewesen, eine Freundin. Sie war sich so sicher gewesen. Wie sie einander angesehen hatten, es hatte so verliebt ausgesehen. Doch als sie ihn beschuldigte, sie zu betrügen, war er so verletzt, dass er einfach aus der Wohnung rannte und vor ein Auto lief. Herausgefunden hatte sie nie, ob ihr Verdacht berechtigt gewesen war. Nur einmal hatte sie beobachtet, wie Hans mit der Frau im Park vor dem Haus gesessen hatte. Er hatte ihre Hand gehalten und sie umarmt, und sie hatte ihm einen Kuss auf den Mund gegeben.
Tobias erzählte am Frühstückstisch, wie er sich auf den heutigen Sonntag freute. »Ein Freund von mir kommt vorbei und holt mich ab, wir wollen einen Ausflug machen. Er hat erzählt, er kennt einen tollen Spielplatz!«
»Darf ich mit?«, fragte Lisa.
»Wer ist dieser Freund«, fragte die Mutter.
In diesem Moment hupte unten ein Auto, und die Kinder gingen mit der Mutter hinunter vor das Haus, wo eine Frau aus dem Auto stieg, die die Mutter kannte.