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Während der Wagen über den von Karrenrädern zerfurchten Fahrweg holperte, musste Jessie die Zähne fest zusammenbeißen, damit sie ihr nicht im Mund klapperten. Wäre sie als Kuh auf die Welt gekommen, hätte sie jetzt schon Butter in ihrem Euter. Man sollte doch erwarten können, dass eine Chaussee, die immerhin zur Hauptstadt der Vereinigten Staaten von Amerika führte, anständig gepflegt würde. Als sie Mr. Bump fragte, ob es nicht eine bessere Straße nach Washington gebe, grinste er nur, entblößte dabei seine verbliebenen fünf oder sechs Zähne – von denen zwei damit beschäftigt waren, seine Pfeife umklammert zu halten – und sagte: »Wieso, Missie? Das hier ist eine gute Straße. Sie sehen doch, wohin sie führt, oder? Nein, besser wird die nicht mehr, bis wir die Mautstrecke erreichen. Halten Sie sich nur ordentlich fest, und wir bringen Sie schon zu Ihrem Ziel… und zwar unversehrt.« Dabei gluckste er vor Vergnügen.

Mr. Bump war ein Farmer aus Maryland, der sich auf dem Weg nach Washington befand, um dort sein Geflügel zu verkaufen – eine Wagenladung schnatternder Enten und gackernder Hühner. Er hatte Jessie in der Nähe von Baltimore wie eine Landstreicherin am Wegesrand aufgelesen, als sie sich gerade fragte, wie sie es bloß jemals bis nach Washington schaffen sollte. Nachdem sie in Albany von Bord der Fähre gegangen war, hatte sie fast kein Geld mehr übriggehabt, und von irgendetwas musste sie ja schließlich noch ihr Essen und ihre Unterkunft bestreiten.

Also war sie marschiert und marschiert; ab und zu hatte sich irgendein grinsender Lümmel von seinem Wagen oder seinem Maultier zu ihr herabgebeugt und sie gefragt, ob sie bei ihm aufspringen wolle. Diese Männer waren ihr nicht geheuer vorgekommen; sie hielten sie wohl für ein hergelaufenes Bauerntrampel und lagen damit vielleicht auch gar nicht so verkehrt, doch dumm war sie deshalb noch lange nicht! Also hatte sie darauf geachtet, dass ihre Antwort stets höflich ausfiel, aber es blieb jedes Mal bei einem »Vielen Dank, nein«, obwohl sie sich, als die Frühjahrssonne heißer vom Himmel brannte, der Staub ihr in die Kehle drang und die Stiefel ihre kleinen Zehen drückten, wünschte, sie hätte das Angebot angenommen. Ihre große Reisetasche kam ihr immer schwerer vor, und als sie gerade befürchtete, sie könne keinen einzigen Schritt mehr weitergehen, hatte neben ihr ein alter Bauernwagen mit einer Negerfamilie darauf gehalten. Jessie vermutete jedenfalls, dass es sich um eine Familie handelte, denn es waren ein Mann, eine Frau und vier oder fünf kichernde Kinder.

»Sie seh’n ja mächtig erledigt aus, Missie«, hatte die Frau gesagt. »Klettern Sie hinten drauf, und wir nehmen Sie so weit mit, wie wir fahren.« Als Jessie zögerte – der Akzent war fremd für ihre Ohren, und sie musste sich die Worte erst im Geiste übersetzen –, fügte die Frau rasch hinzu: »Der Wagen hier ist unser eigener. Wir sind’s freie Neger schon lange, Missie. Wir ham’ nich viel, aber Sie sind’s mächtig willkommen, mit uns zu fahren.«

Also war sie hinten zu den Kindern auf den Wagen gestiegen, die sich gleich dicht um sie scharten und versuchten, ihr rotes Haar und ihre Sommersprossen zu berühren, bis ihre Mutter sie scharf zurechtwies. Jessie ihrerseits betrachtete die braunen Gesichter und stellte voller Bewunderung fest, wie sehr die weißen Zähne im Kontrast zu der dunklen Haut blitzten. Diese Neger sahen ganz anders aus als alle, die sie bisher zu Gesicht bekommen hatte. In Mechanicville gab es keinen einzigen Schwarzen. Einmal hatte sie einen mit dunkelhäutigen Männern beladenen Viehwagen in die bewaldeten Hügel hinauffahren sehen – jemandes Sklaven, die sich ein anderer für Abholzarbeiten ausgeliehen hatte, wie ihr gesagt wurde. Dieser von zwei Pferden gezogene Wagen war mitten durch die Stadt gerumpelt, und alles war stehen geblieben, um ihn und die Dutzende fremdartiger dunkler Gesichter darauf anzustarren. Die Männer hatten allesamt gelächelt; die meisten von ihnen hatten Sitzplätze, aber einige waren aufgestanden, um zu sehen, was es zu schauen gab. Und sie hatten gesungen und in die Hände geklatscht. Das hatte sie nie vergessen – wie ihr Gesang einem in die Füße fuhr und sie aufforderte, mitzutanzen. Sie waren offenbar ausgelassener Stimmung, doch Jessie hatte sich gefragt, wie das denn sein konnte. Sie hatte Onkel Toms Hütte gelesen und sogar eine Bühnenfassung des Buches gesehen, als einmal ein reisendes Theaterensemble im Opernhaus gastierte. Sklaverei war etwas Abscheuliches – es widerspräche der menschlichen Natur, predigten die Pfarrer, wenn ein Mensch einen anderen besäße.

Sofern sie je darüber nachdachte, hatte sie immer geglaubt, alle Schwarzen wären Sklaven. Aber hatte diese Frau nicht eben gerade zu ihr gesagt, sie seien schon seit langer Zeit frei? Doch was ging sie das eigentlich an? Es tat einfach nur gut, eine Weile lang zu sitzen. Die schaukelnde Bewegung des Wagens lullte sie fast in den Schlaf – und dann war die Fahrt mit einem Mal vorbei. Die Familie wollte in einen schmalen Feldweg abbiegen, während Jessie selbst sich weiter gen Süden halten musste, die Kelseytown Road entlang. »Wird Sie schon wer mitnehmen, Missie, werden Sie schon sehn. Lässt doch keiner ein hübsches junges Mädchen wie Sie so einfach im Dustern rumspazieren.«

Sie war kaum fünf Minuten lang wieder auf den Füßen gewesen, als Mr. Bump neben ihr hielt und ihr über das Gegacker und Getröte seiner Ladung Vögel hinweg zurief: »Steigen Sie mal lieber zu mir hoch, Missie, bevor Sie sich noch Ihre feinen Stiefel kaputtlaufen«, und er hatte dabei freundlich gelacht, was ihn gleich für sie eingenommen hatte, obwohl er ansonsten einen eher grobschlächtigen Eindruck machte.

Als Miss Heywood, Jessies alte Lehrerin, ihr auf einer der großen Wandkarten in der Schule den Weg nach Washington gezeigt hatte, hatte sie sie gleich davor gewarnt, Fremden zu vertrauen. »Es sind heutzutage so viele Verrückte unterwegs, Jessie, Soldaten, die im Krieg den Verstand verloren haben… befreite Sklaven auf der Suche nach einer neuen Bleibe… und obwohl ich es nur äußerst ungern sage, auch Frauen, denen man besser nicht über den Weg trauen sollte. Du musst dich sehr, sehr vorsehen.«

Nun, sie war ja kein Schulkind mehr. Sie hatte sich mit dem Erwachsenwerden beeilen müssen, nachdem ihre Mutter schwer erkrankt war, sie hatte die Hebammenpraxis ihrer Mutter übernehmen und dabei so tun müssen, als ginge es Mutter noch gut genug, alles zu überwachen, während sie in Wirklichkeit meistens schlief oder zusammengekrümmt auf dem Bett lag und vor Schmerzen stöhnte. Jessie war gezwungen gewesen, sämtliche Bedürfnisse einer Heranwachsenden hintanzustellen und die Pflegerin ihrer Mutter zu werden.

Jedenfalls passte Mr. Bump in keine der Kategorien Menschen, vor denen Miss Heywood sie gewarnt hatte, aber am allermeisten zählte, dass ihre Füße trotz der kurzen Erholungspause bei der Negerfamilie ihr inzwischen höllisch wehtaten. Sie war heilfroh, sich wieder hinsetzen zu können. Dankbar stemmte sie sich und ihre schwere Reisetasche auf die harte Sitzbank. Ein alter Mann, der so nett lachte, stellte keine Gefahr dar, sagte sie sich – ganz abgesehen davon, dass er geradewegs nach Washington unterwegs war und ihr versicherte, sie würden garantiert noch vor Einbruch der Dunkelheit dort ankommen.

Er war wirklich ein lieber alter Mann, auch wenn er die Eigenheit hatte, sich über jede lächerliche Kleinigkeit zu amüsieren – etwa, wenn eines seiner Maultiere sich plötzlich mitten auf der Straße hinsetzte oder das andere lustlos und müßig einen Huf vor den anderen hob und es überhaupt nicht eilig zu haben schien.

Aber Müßiggang war genau das, was Jessie sich nicht erlauben wollte. Sie hatte eine Mission zu erfüllen – nämlich, mit der Hilfe von Miss Clara Barton ihren Bruder Jacob zu finden. Also durfte sie keine Zeit damit verlieren, dem Starrsinn eines vertrackten Esels nachzugeben.

Mr. Bump hingegen fand das lustig und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Hat keinen Zweck, sie zu triezen, Miss Jessie. Wenn Barbie beschließt, eine Pause zu machen, packt sie sich einfach an Ort und Stelle auf ihren Hintern, bis es wieder weitergehen soll.« Tatsächlich musste sie zugeben, dass es wirklich drollig aussah, wie jedes der beiden Tiere seinen eigenen Kopf durchzusetzen versuchte und sie beide in verschiedene Richtungen zogen.

So waren sie und Mr. Bump vom Kutschbock gestiegen, hatten die Körbe mit Vögeln hinten auf dem Wagen ihrem Geschnatter überlassen und sich eine begraste trockene Kuppe gesucht, die trocken genug war, um sich hinzusetzen. Vor gut einer Stunde war ein Regenguss niedergegangen, der sie beide bis auf die Haut durchnässt und ihr Vorankommen erheblich verlangsamt hatte, weil sich die Straße dadurch natürlich sofort in einen Morast verwandelte, in dem dicke braune Lehmklumpen an den Rädern hängenblieben und rundherum Matsch aufspritzte. Jessie war froh, sich das Kleid glätten und ihr Haar lösen und sich in der Sonne trocknen zu können.

Einen schönen Anblick würde sie bieten, wenn sie endlich bei Miss Barton ankam, zerzaust und staubig von der tagelangen Reise und nun auch noch durchnässt und voller Lehmspritzer. Aber es spielte keine Rolle, was für einen Eindruck sie machte, sagte sie sich – wichtig war nur, dass Miss Clara Barton im Krieg verlorengegangene Soldaten aufspüren konnte, und Jacob Snow war im wahrsten Sinne des Wortes verschollen. Sein letzter Brief datierte vor über einem Jahr, 1865. Sie kannte ihren Bruder Jake so gut, wie sie sich selbst kannte – vielleicht sogar noch besser –, und sie wusste genau: Wäre er nur an einen Stift und ein Stück Papier gekommen und kräftig genug gewesen, um zu schreiben, dann hätte er etwas von sich hören lassen.

Er hatte ihr und ihrer Mutter während des gesamten Krieges Dutzende von Briefen geschrieben, manchmal in Reichweite der Schüsse und der explodierenden Sprengladungen und so nahe am Geschehen, dass er die Schreie seinen Kameraden im Kampf zuordnen konnte. Er müsse eine genaue Chronik all dessen, was er sah und hörte, zu Papier bringen, schrieb er, denn sowie er wieder zu Hause wäre, wolle er ein Buch darüber verfassen. Es war ihm wirklich wichtig, das alles für die Nachwelt festzuhalten. Ja, Jacob steckte in irgendwelchen Schwierigkeiten – es konnte nicht anders sein –, und sie musste einfach herausbekommen, was aus ihm geworden war, ob er nun noch lebte oder… nein, sie wollte nicht darüber nachdenken, solange sie nicht dazu gezwungen war.

Samstag vor zwei Wochen erst hatte sie beschlossen, Miss Barton einen Besuch abzustatten. Sie war zu Hause in Mechanicville auf dem Wochenendmarkt am Brickyard Hill gewesen und hatte vor den Erbsenschoten und den Salatköpfen, die so gut in der kalten Frühlingserde gediehen, gestanden. Allerdings war sie wie immer knapp bei Kasse gewesen und hatte es dann bei einem dürren Hühnchen – dem besten, das sie sich leisten konnte – und einem kleinen Sack Maismehl belassen. Im Keller gab es noch Kartoffeln, und mit etwas Glück fände sie auch noch eine vereinzelte Zwiebel. Ja, eine Zwiebel würde dem Hühnereintopf das gewisse Etwas verleihen.

Sie zählte ihr Geld ab – sie hasste es, etwas davon herauszurücken. Viel blieb ihr nicht mehr. Die Beerdigung ihrer Mutter war teurer gewesen als erwartet, aber es gab sonst niemanden, der sie bezahlen konnte, kein weiteres Familienmitglied, nur sie und Jacob, und ihr Bruder war verschwunden. Sie hatte sich für ihre Mutter eine würdige Beerdigung gewünscht, also musste sie die Zähne zusammenbeißen und eisern sparen.

Alle waren gekommen, die Nachbarn und die Frauen, deren Kinder Hattie Snow auf die Welt gebracht hatte, und all ihre übrigen Patienten. Aber natürlich keine Angehörigen. Es gab ja auch keine mehr. Keinen einzigen Verwandten. Das hatte die beiden Zwillinge immer vor ein Rätsel gestellt; sie hatten sich oft in der Dachkammer, in der sie schliefen, flüsternd darüber unterhalten, was wohl mit dem Rest ihrer Familie geschehen war. Ihre beiden Eltern hatten sich stets bemüht, entsprechenden Fragen aus dem Weg zu gehen, doch wenn Jessie und Jacob ihnen dann zu sehr auf die Pelle rückten, hatte ihr Papa etwas von einem schrecklichen Familienstreit gemurmelt. »Eine verdammt verfluchte Angelegenheit war’s. Ihr beide werdet nichts davon hören wollen«, redete er sich heraus. Doch als die beiden, damals neun oder zehn Jahre alt, dann zu lamentieren anfingen – »Doch, Pa, wollen wir! Erzähl’s uns, Papa, wir wollen es hören!« –, hatte ihr Vater, der ansonsten ein gutmütiger Mensch war, eine finstere Miene gezogen und erklärt, er würde sich nicht aufsässigen Kindern beugen. Und danach hatten sie kein weiteres Wort mehr darüber aus ihm herausbekommen.

Aber es war sonderbar, oder? Dass es keine einzige Cousine oder Großmutter oder wenigstens eine alte, entfernte Tante gab, die sie ihre Verwandten nennen konnten? Als ihre Mutter ihren baldigen Tod herannahen spürte, hatte sie wiederholt Anstalten gemacht, Jessie etwas davon zu erzählen… und Jessie hatte dann mit pochendem Herzen neben ihr gesessen, ihre Hand festgehalten und versucht, sie dazu zu zwingen, es auszusprechen, ihr die Geschichte zu erzählen, wie traurig auch immer sie ausfallen möge. Doch sooft sie ihren Mund öffnete, hatte Mutter gleich wieder den Kopf geschüttelt und ihre Lippen fest zusammengepresst, als könnte das Geheimnis sonst aus ihr hervorsprudeln und sich selbst verraten.

Eine ansehnliche Menschenmenge war zur Beerdigung erschienen, aber das war nicht weiter verwunderlich. Jeder kannte Hattie Snow, die Hebamme. Sie hatte nicht nur dafür gesorgt, dass Kinder auf die Welt kamen, sondern sie hinterher auch bemuttert und verarztet – wie die meisten Eltern in der Gegend, denn der nächste Arzt war in Albany, zwanzig Meilen entfernt. Jessie hatte die Praxis ihrer Mutter übernehmen wollen; fast alles, was ihre Mutter konnte, konnte sie auch. Sie wusste einen Breiumschlag auf eine eiternde Wunde aufzulegen und einen wohltuenden Sirup gegen Husten anzumischen, und sie wusste auch, wie man ein Kind auf die Welt holte. Mutter hatte immer gesagt, sie hätte eine Gabe dafür. Aber es würde dauern, bis die ersten Patienten zu ihr fänden, obwohl sie die Tochter ihrer Mutter war. Wovon sollte sie in der Zwischenzeit ihren Lebensunterhalt bestreiten? Die Speisen, die die Trauergäste zur Beerdigung mitgebracht hatten, waren binnen einer Woche aufgebraucht. Sie konnte nicht mehr viel länger darauf warten, dass die guten Leute aus Mechanicville entschieden, ob sie Jessie klug genug oder alt genug oder gut genug fanden, um mit ihren Wehwehchen zu ihr zu kommen. Entweder betrieb sie die Praxis weiter, oder sie müsste verhungern. Oder der Stadt, in der sie ihr ganzes Leben verbracht hatte, den Rücken kehren… dem kleinen Haus an der Newman Street zwischen dem Champlain Canal und dem Hudson River mit der riesigen alten Ulme davor… sich von all den Menschen trennen, die sie so gut kannte.

Mary Bennett, ihre beste Freundin, hatte gewollt, dass Jessie zu ihr ins Haus ihrer Familie zog. »Oh, das könnte so schön werden, Jessie – als wären wir beide Schwestern. Sag doch bitte ja; ich bin es leid, das einzige Mädchen unter den vier Flegeln zu sein, die sich meine Brüder schimpfen.« Mary war ein liebes Mädchen, aber ihre Mutter war ganz anders geartet, sie ging einem gehörig auf die Nerven und war obendrein noch geizig. Sosehr Jessie ihre Freundin mochte – sie könnte sich nicht an den Gedanken gewöhnen, mit Anne Bennett unter einem Dach zu leben. Sie würde dort wie eine Bedienstete behandelt werden, wie Mary, die vier kräftige Männer bekochen und sich den Temperamentsausbrüchen ihrer Mutter fügen musste.

Natürlich konnte sie immer noch Albert George heiraten; er hatte schon wiederholt um ihre Hand angehalten, aber nein, sie liebte ihn einfach nicht, und sie hatte den Blicken und versteckten Andeutungen ihrer Mutter entnommen, dass Alberts Vater seine Frau schlug, wenn er betrunken war. »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, vergiss das nie«, hatte ihre Mutter sie oft ermahnt, aber Jessie musste gar nicht erst mit der Nase darauf gestoßen werden. Sie war von Albert alles andere als angetan, und bei der Vorstellung, seine Frau zu werden und mit ihm das Bett zu teilen, drehte sich ihr der Magen um. Nein, vielen Dank. Ihr blieb nur, ihren eigenen Weg zu suchen, wohin er sie auch führen mochte.

Wie sie nun an jenem Tag im goldenen Sonnenschein auf dem Markt stand, die Wärme nach dem langen, kalten Winter genoss und die Salatblätter befühlte, hörte sie unwillkürlich das Gespräch mit, das gleich neben ihr geführt wurde. Martha Townsend und Emily Franklin unterhielten sich über die Liste der vermissten Soldaten, die im Postamt aushing, und darüber, dass es doch eine Schande sei mit dem Sohn von Amos, der sich angeblich in den Westen aufgemacht habe, anstatt nach Hause zurückzukehren und mit seinem Vater die Farm zu bewirtschaften, wie man es von einem guten Sohn erwarten würde…

… Ja, und ist es nicht sonderbar, Russ Nobles Namen auf der Liste wiederzufinden, wo er doch fröhlich auf der Main Street herumspaziert, als Vater zweier gesunder Söhne, während seine Kameraden ihn für kriegsgefangen oder gefallen halten? Er hat sich selbst aus dem Hospital entlassen und ist gewandert, bis er zu Hause ankam…

… Nun ja, er hat gesagt, das sei gar kein richtiges Hospital gewesen, weißt du, bloß so ein Zelt auf einer Kuhweide, in dem überall, wo man hinschaute, Ärzte gerade Arme und Beine absägten. Draußen vor dem Lazarettzelt sollen ja gewaltige Haufen von abgetrennten Gliedmaßen gelegen haben, und zwar jeweils einer für Arme und einer für Beine, kann man sich das vorstellen? Da mochte er nicht bleiben, hat er gesagt, und wer wollte es ihm verübeln…?

… Ich ganz bestimmt nicht. Wenn man allerdings an Jake Snow denkt, der sich aus dem Staub gemacht und seine Kameraden zurückgelassen hat, damit sie ohne ihn weiterkämpfen …

… Und seine arme Schwester hat er auch im Stich gelassen, die musste sich ganz alleine um alles kümmern, wo doch ihre Mutter im Sterben lag und überhaupt…

…Ich hoffe, er schämt sich wenigstens. Und außerdem habe ich noch gehört…

Da hatte Jessie sich dann zu ihnen umgedreht und die beiden so lange unverwandt angesehen, bis auch sie ihr den Blick zuwandten. »Mein Bruder hat nichts getan, dessen er sich schämen müsste, absolut nichts, und das solltest du wissen, Martha. Und auch du, Emily, die doch immer gesagt hat, was für ein lieber Junge Jake ist! Wie könnt ihr nur so über ihn reden, wo ihr ihn doch gekannt habt, seit er …«

Sie unterbrach sich, weil sie das Gefühl hatte, dass ihr gleich die Tränen kämen, und vor diesen beiden wollte sie sich keine Blöße geben. »Ihr solltet euch schämen, ihr, weil ihr wie zwei alte Tratschweiber jeden Klatsch nachplappert, der euch zu Ohren kommt.«

Martha und Emily waren wie erstarrt gewesen und hatten sie nur angeglotzt. »Ihr irrt euch gewaltig«, hatte Jessie triumphierend ihre Tirade beendet. »Ich werde herausfinden, was wirklich mit Jake passiert ist, und bis dahin solltet ihr schön eure Zungen hüten.« So! Sie hatte ihrem Herzen Luft gemacht und war stolz darauf. Sie wandte sich auf dem Absatz um und ging davon. Wie konnten sie es wagen! Sie mussten doch wissen, dass ihr Bruder niemals sein Land oder seine Kameraden im Stich lassen würde! Allerdings kannte sie den Ursprung dieser Gerüchte: Jeder in der Stadt hatte den Aushang im Postamt gesehen, über dem in scheußlichen schwarzen Buchstaben DESERTIERT stand – mit Jakes Namen gleich darunter. Es musste sich um einen Irrtum handeln, anders war das nicht zu erklären. Einen furchtbaren Irrtum.

Und in diesem Augenblick war es ihr mit einem Schlag bewusst geworden, dass sie genau das tun würde, was sie soeben gerade gesagt hatte: Sie würde Jacob suchen! Sie griff sich den Jutebeutel mit ihren Einkäufen und marschierte den Hügel hinunter zum Postamt. Sie erinnerte sich, dass am Fuße des Aushanges um etwaige Informationen zu den oben genannten Männern gebeten wurde. Man möge sich an Miss Clara Barton, Suchdienst für vermisste Armeeangehörige, 437 Seventh Street, NW, Raum 9, Washington City, District of Columbia, wenden.

Mit einem Male stand ihr Entschluss fest: Ich fahre dorthin. Ich begebe mich nach Washington, spreche mit Miss Clara Barton, zeige ihr Jakes Briefe und bitte sie um ihren Rat. Sowie sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte, wusste sie auch schon, dass das genau das Richtige war. Allerdings blieb noch die Frage, wie sie es nach Washington schaffen sollte. Aber Clara Barton war während des gesamten Krieges über Schlachtfelder gepilgert, hatte Verwundete – erwachsene Männer! – aufgesammelt und sie aus eigener Kraft zu ihrem Lazarett geschleppt. In der Schlacht am Fluss Antietam hatte sie auch Jacob in Sicherheit gebracht; davon hatte er in einem seiner Briefe berichtet. Wenn diese Frau sich ins Kampfgetümmel gewagt hatte, wo ihr die Kugeln nur so um die Ohren pfiffen, dann konnte sie selbst, eine junge, gesunde und einigermaßen intelligente Person, sich ja wohl bis zur Hauptstadt des Landes durchschlagen.

»Stehen Sie auf, Miss Jessie. Barbie ist wieder auf den Beinen, und wenn wir uns nicht beeilen, läuft sie ohne uns nach Washington.«

Jessie blinzelte; als sie die Augen öffnete, sah sie, dass die Sonne schon viel tiefer am Himmel stand. Sie war eingenickt, ohne es zu merken. Wie spät war es bereits? Sie musste Miss Bartons Büro erreichen, ehe es am Abend geschlossen wurde. Eilig erhob sie sich, kletterte wieder zu Mr. Bump auf den Kutschbock, strich sich so akkurat wie möglich ihr Kleid zurecht und band sich ihr Tuch fester um die Schultern. Es wurde langsam ziemlich kühl.

»Glauben Sie, dass wir noch vor der Dunkelheit in Washington sind?«, fragte sie.

»Ich schätze schon. Allzu weit haben wir es nicht mehr. Wo wollen Sie genau hin?«

»Nun… ich kenne mich dort nicht so richtig aus. Sie wissen nicht zufällig, wo sich die Seventh Street North West befindet?«

»Die Seventh Street? Aber sicher doch. Die ist mitten in der Stadt. Wen besuchen Sie denn da? Einen Verwandten?«

»Miss Clara Barton.«

»Den Engel der Schlachtfelder! Dann müssen Sie auf der Suche nach einem vermissten Soldaten sein. Ihr Herzallerliebster?«

»Mein Zwillingsbruder.«

»Ihr Zwilling! Was Sie nicht sagen!« Mr. Bump schnalzte anerkennend, als hätte sie ihm gerade einen Zaubertrick vorgeführt. Die Leute reagierten häufig so, vor allem wenn sie Jessie und Jake mit ihren roten Haaren und den Sommersprossen gemeinsam begegneten. Sie klatschten dann in die Hände und gaben bewundernde oder erstaunte Kommentare von sich. Jessie war das zuwider – sie mochte nicht angestarrt werden –, aber Jacob hatte sich darin gesonnt, über beide Backen gegrinst und die Aufmerksamkeit ganz nach seinem Geschmack gefunden. Sie hatte ihm damals immer gesagt, dass es sie nicht wundern würde, wenn er eines Tages eine Bühnenkarriere einschlüge.

»Nun denn«, sagte Mr. Bump, »dann müssen Sie ja wirklich den Wunsch haben, ihn zu finden. Es ist, als würde einem die zweite Hälfte fehlen, nicht wahr?«

»In gewisser Weise schon«, gab sie zu. Er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. »Aber… woher wissen Sie das?«

»Ich? Ach, während meiner ganzen Kindheit hatte ich immer das Gefühl, als würde etwas fehlen, etwas, was da sein sollte, verstehen Sie? Und dann hat meine Ma es mir gesagt. Wir waren zwei, aber einer von uns ist gleich nach der Geburt gestorben. Er hat nie auch nur einen Atemzug getan, meinte meine Ma, und sie hatte es mir nicht erzählen wollen, bis ich erwachsen war. Und dann hat sie mich gefragt, warum ich lächle, und ich habe gesagt, weil ich jetzt weiß, was mir gefehlt hat. Mein Zwillingsbruder nämlich. Als hätte ich es stets gewusst.«

»Wie traurig.«

»Ja, schon. Aber es war eine Erleichterung für mich, Gewissheit zu haben.« Und er schnalzte mit der Zunge, damit die Maultiere sich ins Zeug legten.

Jessie war von seiner tragischen Geschichte tief berührt. Seinem Zwilling nie begegnet zu sein! Sie konnte sich das kaum vorstellen. Ihre frühesten Erinnerungen galten alle ihrem Bruder, ihrer zweiten Hälfte. Lange, bevor sie lernte, wie man sich in einer Glasscheibe spiegeln konnte, hatte sie jeden seiner Gesichtszüge in- und auswendig gekannt. Als sie dann zum ersten Mal wirklich ihr Spiegelbild erblickte, erschrak sie, weil sie glaubte, eine Fremde vor sich zu sehen. Schon während sie noch Babys waren und zusammen in ihrem Bettchen lagen, hätte immer, wenn eines der beiden sich umdrehte, das andere es ihm sofort nachgetan, hatte Mutter ihr erzählt. Und ihre ersten Worte wären kein Englisch gewesen, auch nicht irgendeine andere Sprache, sondern eine Art ganz eigener Geheimcode. »So etwas habe ich noch nie erlebt«, hatte ihr Mutter mit vor Stolz leuchtenden Augen gesagt. »Ihr habt euch beide wunderbar verständigt, obwohl sonst kein Mensch auf der Welt euch verstehen konnte.«

Und selbst nachdem sie angefangen hatten, wie andere Kinder zu sprechen, und auch ihre Geheimsprache längst vergessen war, beendete weiterhin der eine Zwilling die Sätze für den anderen. Es hätte ihnen nichts ausgemacht, völlig allein auf der Welt zu sein, denn sie hatten einander, und sie würden für immer zusammenbleiben.

Wie sie so über Jake nachdachte, musste Jessie blinzeln, damit ihr nicht die Tränen kamen. Sie versuchte dabei immer, sich ihren Bruder nicht zu genau vorzustellen, damit der Gedanke nicht ganz unerträglich würde, er könne – aber nein. Er konnte gar nicht tot sein. Sonst würde sie es spüren. Womöglich wanderte er ziellos umher, verwirrt von einem Schlag auf den Kopf oder einer Verwundung, oder er siechte auf einem Krankenlager dahin. Doch tot? Das hätte sie bestimmt gewusst.

»Ich habe gedacht, dass Miss Barton mir möglicherweise helfen kann. Ich möchte nach meinem Bruder suchen, und sie hat schon so viele Männer ihren Familien zurückgegeben. Einmal hat sie ihn sogar persönlich gerettet. Vielleicht erinnert sie sich noch an ihn.«

»Sie hat Ihren Bruder gerettet! Na, dann sollte sie erst recht ein Interesse haben, ihn für Sie zu finden, Miss Jessie. Sie ist berühmt dafür. Sie ist den ganzen Weg durch das Höllenloch gegangen – verzeihen Sie meine Ausdrucksweise, aber das war’s, ein Höllenloch. Ich spreche von Andersonville, wo sie sich hinbegeben hat, um die Leichen all jener armen toten Soldaten zu identifizieren – ach, ich sollte nicht darüber reden, Miss Jessie. Entschuldigen Sie.«

»Aber nicht doch, Mr. Bump. Mein Bruder ist nie in Andersonville gewesen. Er wurde auch nie gefangen genommen und in ein Gefängnis geworfen.«

»Da hat er ja ein Riesenglück gehabt. Nun, dann ruft es in Ihnen ja keine schmerzlichen Gefühle hervor, über Andersonville zu reden. Miss Barton hat dafür gesorgt, dass die Jungs alle in anständigen Gräbern beerdigt wurden, wissen Sie, und den Ort zu einer nationalen Gedenkstätte erklären lassen. Sie selber hat bei der Trauerfeier das Sternenbanner gehisst.«

Fasziniert lauschte Jessie seiner Schilderung. »Sind Sie ihr je begegnet?«

»Nicht, dass ich wüsste.« Mr. Bump lachte. »Aber Washington ist eine große Stadt voller Menschen, also könnte es gut möglich sein. Und Sie?«

»Nein, nein, natürlich nicht. Ich bin noch nie weiter von zu Hause fort gewesen als bis nach Saratoga oder Albany. Ich habe mich nur gefragt… wie sie wohl aussieht, verstehen Sie?«

»Und was glauben Sie, wie sie aussieht?«

»Mein Bruder hat sie in ein, zwei Briefen erwähnt. Auch er nannte sie den Engel der Schlachtfelder. Oder glauben Sie, es hat noch mehr solcher Frauen gegeben?«

»Nein, Ma’am. Ich glaube, sie hat es ganz alleine getan.«

»Zumindest weiß ich, dass sie von eher zierlicher Statur ist. So hat Jacob sie uns beschrieben.«

»Bald werden Sie es mit eigenen Augen sehen. Wir fahren soeben in Washington City ein.« Die ländliche Weite um sie herum war erst bewirtschaftetem Farm- und Weideland gewichen und dann Wohnhäusern und anderen Gebäuden, die in immer dichteren Abständen zueinander standen, während sich der Wagen holpernd und schaukelnd über die zerfurchte Straße mühte, ab und zu eine Pfütze durchquerte und dabei nach allen Seiten Wasser spritzte.

»Bald …«, wiederholte Jessie. Bald würde sie der berühmten Clara Barton begegnen. Vielleicht hatte sie sogar schon etwas über Jacob Snow, Sergeant im 77sten New Yorker Freiwilligen-Infanterieregiment, in Erfahrung gebracht? Der Gedanke, dicht vor dem Ziel ihrer Reise zu stehen, ließ ihr das Herz in der Brust pochen. Sie strich sich so gut als möglich das Haar glatt und setzte ihre Haube wieder auf.

Die Straße wurde ein wenig ebener und war breit genug, dass zwei Wagen einander passieren konnten, und es waren hier jede Menge aller möglichen Kutschen und Karren und anderer von Pferden oder Eseln gezogener Transportfahrzeuge unterwegs. Gentlemen ritten auf ihren Pferden entlang und zogen die Hüte vor den Damen. Auf beiden Seiten des Fahrdamms bewegte sich ein nie endender Fußgängerstrom. So viele Menschen! Es ging hier zu wie in Mechanicville an einem Festtag. Jessie schaute abwechselnd nach links und nach rechts und versuchte, alles in sich aufzunehmen. Wie elegant die Leute gekleidet waren, was für hübsche, mit Federn und Blumen verzierte Hauben die Frauen trugen. Und dann entfuhr ihr ein Ausruf des Entzückens, denn gar nicht sehr weit entfernt ragten große Paläste in den Himmel. Aber natürlich waren dies keine fürstlichen Schlösser; Amerika hatte keine Könige.

»Ist das das Capitol?«, erkundigte sie sich bei Mr. Bump.

»Das große Haus mit der Kuppel? Ja, das ist es. Man hat es auf einem Hügel erbaut, damit es meilenweit zu sehen ist. Und wenn Sie ganz genau hinschauen, können Sie dann das große dunkle Ziegelgebäude ein Stückchen weiter links erkennen? Das ist das Smithsonian-Institut. Dahinter befindet sich ein prächtiger Garten, und es heißt, wenn man sich dort nachmittags hinsetzt, könne man all die bedeutenden öffentlichen Gebäude wie in einem Halbkreis um sich versammelt sehen.«

Jessie reckte den Hals; am liebsten wäre sie von ihrem Sitz aufgestanden. Und sie hatte das Crosby-Opernhaus in ihrer Heimatstadt, von dessen Türmchen Wimpel wehten, schon für einen Prachtbau gehalten! Aber im Vergleich dazu war es geradezu kümmerlich. »Meine Güte«, sagte sie. »Ob ich mich hier je zurechtfinden werde?«

»Ach, so riesig ist die Stadt gar nicht, sobald Sie sich erst einmal daran gewöhnt haben, Missie. Es ist ein Ort wie alle anderen auch, wissen Sie – mit Häusern und Gasthöfen und Büros und Theatern, in denen die Menschen leben und arbeiten und ihre Kinder aufziehen. Und was Klatsch und Tratsch betrifft, geht es hier eher wie in einer Kleinstadt zu. Sie werden sich in Washington schon bald sehr gut auskennen, da bin ich mir sicher.«

»Wird man mir Auskunft geben können, wenn ich nach Miss Barton frage?«

»Bestimmt. Machen Sie sich deswegen keine Gedanken, Miss Jessie, ich fahre Sie bis zur bewussten Straßenecke. Dort sehen Sie dann gleich das Schild der Suchstelle für vermisste Armeeangehörige, brauchen nur ein paar Stufen hinaufzugehen und sind schon da.«

»Ach, vielen Dank, Mr. Bump, das ist eine Erleichterung.«

Nun konnte sie aufhören, sich zu sorgen, und sich in aller Ruhe umschauen. Sie hatte es wirklich den ganzen Weg bis hierher nach Washington City geschafft. Sie war zwar zu Tode erschöpft, aber in sicheren Händen. Und bald würde sie tatsächlich Clara Barton gegenüberstehen, und die Suche nach Jacob konnte endlich richtig beginnen!

Die Sanftmütige

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