Читать книгу Die Sanftmütige - Marcia Rose - Страница 5

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Als Jessie die Augen aufschlug, strömte die Morgensonne durch das Fenster, und es waren von der Straße her ungewohnte Geräusche zu hören: Pferdehufe, die durch Pfützen platschten, das Knarren von Wagen, und ein Stimmengewirr: Pfeifen, einzelne Fetzen einer Unterhaltung, Rufe. Sie wurde Zeuge eines Streites zwischen zwei wütenden Männern, die unten vorbeigingen, und bekam sogar mit, wie eine klare, helle Tenorstimme ein paar Zeilen aus »Polly Wolly Doodle all the day« sang. Sie kroch unter den wärmenden Decken hervor, setzte sich auf und sammelte ihre Gedanken. Ich bin tatsächlich in Washington und schlafe im Zimmer neben dem von Clara Barton! Und sie wird mir herauszufinden helfen, was aus Jacob geworden ist. Wenn sie daran dachte, wie sehr sie sich vor der langen Reise gefürchtet und sich gefragt hatte, ob sie jemals hier zurechtkommen würde. So schrecklich war es letzten Endes gar nicht gewesen.

»Ich sehe Sie lächeln! Sehr gut, also müssen Ihre Träume angenehm gewesen sein.«

»Miss Barton! Guten Morgen. Oh, Sie sind bereits aufgestanden und angekleidet, und ich liege hier noch faul in den Federn.« Sie hüpfte aus dem Bett und machte sich augenblicklich daran, die Decken zusammenzulegen. Clara Barton half ihr dabei, und binnen weniger Minuten war alles gerichtet.

Während sie gemeinsam arbeiteten, redete Clara Barton auf sie ein. »Ich musste heute früh beide Fenster öffnen, weil sie so beschlagen waren, und das wird sich auch nicht geben, bis die Sonne alles getrocknet hat. Washington ist ein feuchter Ort. Wissen Sie, die Stadt wurde auf Sumpfland erbaut.« Sie rollten die Bettwäsche ordentlich zusammen und stopften sie in eine Kommode. »Oh, bin ich hungrig«, sagte Clara. »Ich habe morgens beim Aufwachen immer einen Mordsappetit. Ich hatte mal eine gute Freundin, die nie einen Bissen hinunterbekam, ehe sie nicht eine Tasse Kaffee getrunken hatte, und selbst dann war sie noch sehr bescheiden. Aber sehen Sie mich an – eine zierliche Person, die kein Gramm zunimmt, während meine Freundin immer dicker wurde. Wir werden im Restaurant von Mrs. Monroe frühstücken. Es ist zwar ein Stück zu gehen, aber das Essen ist gut, und ich fühle mich ein wenig verpflichtet, Betsy Monroe und ihren beiden Töchtern unter die Arme zu greifen. Alle drei sind durch diesen entsetzlichen Krieg zu Witwen geworden. Alle drei, können Sie sich das vorstellen? Drei Frauen, die plötzlich alleine dastehen und sich mit ihren kleinen Kindern durchs Leben schlagen müssen! Nun mögen Sie zwar einwenden, dass auch ich alleine für mich sorgen muss. Das stimmt. Aber ich war Lehrerin, ich habe eine gewisse Bildung und seinerzeit sogar das besondere Vertrauen von Präsident Lincoln genossen – dann ist er ja ermordet worden. Die Monroes hingegen… nun, das spielt jetzt keine Rolle. Sie werden bei Betsy Monroe die besten Pfannkuchen in ganz Washington City bekommen… und ihre Schweinekoteletts mit deutschen Bratkartoffeln. Köstlich! Liza, ihre Köchin, war schon als Sklavin bei den Monroes, bevor… Ist etwas, Jessie?«

»Nichts. Es erscheint mir nur so sonderbar, dass ein Mensch einem anderen gehört.«

Clara bekam traurige Augen und nickte. »Es ist sonderbar, Jessie, allerdings nicht für diejenigen, die im Süden aufgewachsen sind. Natürlich gehört seit der Proklamation der Sklavenbefreiung in diesem Sinne kein Mensch mehr einem anderen.« Sie seufzte. »So steht es jedenfalls geschrieben. Doch wenn man als Sklave geboren und als Sklave aufgewachsen ist, wie soll man dann mit seiner Freiheit zurechtkommen?«

»Wir sind alle frei geboren«, beharrte Jessie.

»Schon, aber… diese Sklavenbefreiung ist eine komplizierte Angelegenheit. Was nützt einem die Freiheit, wenn man nie gelernt hat zu lesen oder zu schreiben oder auch nur die simpelsten Rechenaufgaben zu lösen? Wenn man so unwissend belassen wurde wie ein Tier? Oh ja, es bringt mein Blut zum Kochen. Zu Hunderten strömen die befreiten Sklaven nach Washington und suchen Arbeit, wo es keine Arbeit für sie gibt, wo selbst die Rekrutierungsstellen geschlossen werden. Doch es ist nicht an Ihnen, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.«

Sie machte eine Bewegung, als wollte sie ihre Gedanken abschütteln, und lächelte ihr zu. »Ich wäre jetzt bereit, etwas zu essen, Sie nicht? Sie kochen dort auch guten Kaffee… und ohne Kaffee können wir doch nicht den Tag beginnen, oder? Bei mir ist es jedenfalls so! Waschen Sie sich, Jessie, während ich den Rest aufräume. Tom wird auch schon mit knurrendem Magen unten auf uns warten. Zum Glück regnet es nicht mehr, doch ich warne Sie – die Straßen sind vermutlich ein einziger Sumpf. Haben Sie nur dieses eine Paar Schuhe?«

»Ja, nur meine Stiefel. Aber ich bin Matsch gewohnt. In Mechanicville gibt es jede Menge davon.«

Jessie wusch sich, strich ihre Kleidung glatt, löste sich das Haar, bückte sich, damit es über ihr Gesicht fiel und bürstete es dann kräftig bis in die Spitzen, wie ihre Mutter es ihr beigebracht hatte. Wie stolz sie auf ihre Bürste aus Schweineborsten gewesen war – ein Geschenk von John Hotaling, nachdem sie geholfen hatte, seinen Sohn zur Welt zu bringen. Die Bürste komme ganz aus England, hatte er ihr versichert, und sei das Beste, was man für Geld kaufen könne. Er habe sie von seiner Mutter zu seinem achtzehnten Geburtstag erhalten, sagte er, habe sie jedoch nur selten benutzt, denn ihm fielen ja zusehends die Haare aus, wie er mit einem gequälten Lächeln hinzufügte. »Ich hoffe, ich darf sie Ihnen zumindest als Anzahlung anbieten«, hatte er gesagt. Jessie war noch nie eine so gute Bürste unter die Augen gekommen. Der Griff war aus glattem, poliertem Holz, das sich fast wie Seide anfühlte, wenn man darüberstrich; die schwarzen und weißen Borsten machten kurzen Prozess mit Knötchen und Kletten und kribbelten so angenehm auf der Kopfhaut. Während sie sich das Haar bürstete, schloss sie die Augen.

Doch als sie sich aufrichtete und das Haar zurückwarf, blickte sie geradewegs in die lächelnden Augen von Thomas Lavery. Sie zuckte zusammen, weil es ihr peinlich war, und spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. »Ich… ich bitte um Verzeihung. Ich habe nicht –«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich bin nur raufgekommen, um zu sehen, ob ich die beiden Damen ein wenig zur Eile antreiben kann. Ich habe bereits den heißen Frühstücksbrei und die gebutterten Pfannkuchen gerochen, als ich bei Betsy Monroe vorbeiging – und den Speck.« Er zögerte. »Aber wenn Sie noch nicht so weit sind… nun, dann mache ich mich schon mal auf den Weg.«

»Unsinn, Thomas. Ich bin mir sicher, dass Jessie nicht mehr länger als eine Minute braucht, um sich perfekt präsentabel herzurichten.« Clara Barton war ins Zimmer getreten. »Lassen Sie das mit dem Zopf, Sie können Ihr Haar lose tragen. Es ist sehr schön und wird unter Ihrer Haube bezaubernd aussehen. Seien Sie dankbar für Ihre Jugend, Jessie, denn wenn Sie erst eine alte Jungfer sind wie ich, müssen Sie Ihr Haar schon aus Gründen des Anstands hochstecken.«

Ein paar Minuten später gingen sie die nordwestliche Seventh Street hinunter und achteten darauf, um Pferdeäpfel und Pfützen jeweils einen Bogen zu machen und den Dutzenden von Botenjungen auszuweichen, die mit Paketen und Briefen hierhin und dorthin unterwegs waren, den Männern, die ihren Büros zustrebten, und den Negerfrauen und Negermädchen, die alle nur denkbaren Dinge feilboten: Kerzen, Eier, Vögel, Schnürsenkel und sogar Lieder, die eines der jungen Mädchen geschrieben hatte. Jessie fragte sich, ob es ihre Stimme gewesen war, die sie vorhin durchs Fenster gehört hatte, und wenn Clara und Thomas nicht so eilig losmarschiert wären, wäre sie stehengeblieben und hätte gefragt, doch wenn sie sich auch nur einen Augenblick lang aufhielt, würde sie die beiden garantiert in der Menge aus den Augen verlieren.

In einiger Entfernung – wie weit es genau bis dorthin war, vermochte sie nicht zu schätzen – ragte ein großes weißes Bauwerk mit Säulen davor auf, das sie an einen griechischen Tempel erinnerte. Bestimmt war das ein sehr wichtiges Haus, vielleicht der Amtssitz des Präsidenten. Doch als sie Thomas fragte, grinste der sie nur an und sagte: »Oh nein, das Haus des Präsidenten ist viel bescheidener. Das ist das Patentamt.« Das Patentamt… was immer das sein mochte. Um nicht ihre Unwissenheit zu verraten, sagte sie nichts weiter dazu.

Hier auf der Seventh Street reihte sich ein roter Ziegelsteinbau eng an den nächsten; sie schienen sich geradezu gegenseitig abzustützen. Die meisten davon waren drei- oder viergeschossig, und bei vielen führten ein paar Stufen zur Eingangstür. So viele Menschen, so viele Häuser, so viele Straßen, so viel Gewimmel! Und sie hatte geglaubt, auf der Main Street von Mechanicville mit ihren Kirchen, dem Mercury-Gebäude und der Akademie, bei ihr zu Hause der Inbegriff einer belebten Hauptstraße, sei viel los. Nun erkannte sie ihre Heimatstadt als das, was sie war: bloß ein kleines Städtchen mit wenigen größeren Häusern am Hudson River, durch das ein Kanal und eine Eisenbahnlinie führten.

»Es sind nur zwei oder drei Häuserblocks und dann einmal um die Ecke«, sagte Thomas. »Halten Sie sich von den Wagen fern. Die rasen hier wie die Verrückten.«

»Gleich da drüben liegt das Ford’s Theater«, sagte Clara und zeigte eine Seitenstraße hinunter. Auf Sehenswürdigkeiten wies sie mitten im Gehen hin, lüftete ihre Röcke und wich geschickt den übelsten Pfützen aus. Schließlich blickte sie sich lächelnd um, wartete auf Jessie und nahm sie beim Arm. »Ich weiß, dass eine Großstadt verwirrend sein kann. Früher habe ich in Boston auch immer Zustände bekommen.« Wie ein Schatten huschte ein unerforschlicher Blick über ihr Gesicht, aber dann war er auch schon wieder verschwunden.

»Ford’s Theater«, wiederholte Jessie, drehte den Kopf und versuchte, es auszumachen. Aber sie strebten viel zu rasch voran. »Sie meinen… wo der Präsident erschossen wurde? Die Stätte seiner Ermordung?«

»Eben die. Aber kümmern Sie sich jetzt nicht weiter darum, sonst rennt man Sie noch über den Haufen. Nachdem wir gefrühstückt haben, machen wir einen kleinen Umweg dorthin, und dann können Sie es sich nach Herzenslust anschauen.« Zärtlich kniff sie Jessie in den Arm. »Es muss ein merkwürdiges Gefühl sein, hier zu stehen, wo sich all das zugetragen hat und mit eigenen Augen zu sehen, was Sie vorher nur aus Erzählungen kannten.«

»Ja, und Sie gehören dazu, Miss Barton«, lachte Jessie. »Ich hätte mir nie träumen lassen, einmal Arm in Arm mit dem Engel der Schlachtfelder über Pfützen zu springen.«

Einen Moment lang überlegte sie, ob sie zu weit gegangen war, aber auch Clara lachte herzlich. Sie waren alle guter Stimmung, als sie Mrs. Monroes Speiselokal erreichten und sich unter der Tür hindurchduckten. Augenblicklich umfingen sie die betörenden Düfte von gebratenen Würstchen, Speck, Schweinefleisch und Pfannkuchen – sowie Pfeifenqualm und die Ausdünstungen vieler Menschen. Doch über allem schwebte das durchdringende Aroma von Kaffee.

Es gab auch in Mechanicville Speiselokale, aber die befanden sich draußen bei den Lokschuppen und wurden nur von Männern besucht, meistens rußgeschwärzten Eisenbahnern, die grölend lachten und deren Fachkauderwelsch kein Außenstehender verstand. Hier ging es anders zu. Alle möglichen Leute saßen an den zwei langen Tischen in Mrs. Monroes Gaststätte, Männer wie Frauen, manche fein gekleidet, andere wiederum von einer langen Reise gezeichnet. Denen geht’s wie mir, dachte Jessie. Thomas erklärte, viele männliche und weibliche Regierungsangestellte würden möbliert wohnen und ihre sämtlichen Mahlzeiten außerhalb einnehmen. Es herrschte ein ziemliches Stimmengewirr in dem Raum, denn obwohl zwischendurch auch Speisen mit der Gabel aufgespießt, mit dem Messer geschnitten und im Mund zerkaut werden wollten, schienen alle gleichzeitig aufeinander einzureden.

Die drei fanden am Ende einer Bank Platz und nickten den Gegenübersitzenden zur Begrüßung zu. Jessie sah sich um. Dies musste früher einmal eine Art Salon gewesen sein; davon zeugte der Kamin, in dem ein Feuer brannte, über dem auf einem Eisengestell eine scheinbar mit Kaffee gefüllte bauchige Kanne dampfte. Blaue Vorhänge mit Fransenbesatz und eingewebten Mustern hingen an den Fenstern; sie waren schwerer als sämtliche Wandbehänge, die die Snows je in ihrem kleinen Haus in der Newman Street besessen hatten. Ein paar reizvolle Gemälde zierten die übrigen Wände. Früher musste es hier einmal einen Speisetisch mit Stühlen gegeben haben, vielleicht auch Lampen und Bücher und den einen oder anderen Teppich auf dem Boden. Sämtliche Möbel waren entfernt und durch die zwei schlichten langen Holztafeln mit den Sitzbänken ersetzt worden. Doch auf ihre Weise war auch diese Einrichtung behaglich, und die Küche lag wohl auch ganz in der Nähe, denn drei Frauen waren ständig, mit Schüsseln und Tellern beladen, am Herein- und Hinauslaufen.

Binnen weniger Augenblicke erschien eine der Frauen, eine junge Dunkelhaarige, mit drei Tellern und Bestecken an ihrem Platz und legte sie vor sie hin.

»Sie sind neu hier, nicht wahr, Miss? Einen guten Morgen wünsche ich. Ich bin Susan Fellowes, die geschwätzige von Mrs. Monroes Töchtern«, erklärte sie fröhlich. »Brauchen Sie eine Gabel, Miss? Wir haben hier genug davon. Stets aufs Modernste ausgestattet.« Sie nahm ein Werkzeug mit zwei spitzen Zinken und hielt es ihr vor die Nase.

Jessie hatte noch nie eine Gabel gesehen. »Danke, ich würde es gern einmal damit versuchen.«

»Wie Sie wünschen. Und dann können Sie mir auch gleich Ihren Namen verraten, damit ich nicht jedes Mal ›He, Sie da‹ rufen muss, wenn ich etwas zu Ihnen sagen möchte.«

»Jessie Snow.«

»Freue mich immer, eine Freundin von Miss Barton kennenzulernen, Miss Snow.«

»Und was ist mit mir, Susan?«, scherzte Thomas. Doch ehe sie ihm antworten konnte, verlangte jemand am anderen Ende der Bank nach mehr Kaffee, und sie eilte weiter. Schon bald hatten die gefüllten Teller und Schalen, die von einem Gast zum nächsten weitergereicht wurden, auch ihr Ende des Tisches erreicht. Jessie stellte fest, dass sie einen Bärenhunger verspürte. Sie häufte Spiegeleier, Wurst, Haferbrei, Bratkartoffeln und dampfende Pfannkuchen auf ihren eigenen Teller.

»Ich glaube, ich habe mich übernommen«, gestand sie kleinlaut.

»Das macht doch nichts«, tröstete sie Clara. »Essen Sie, so viel Sie können. Der Preis ist immer der gleiche.«

Aber sie schaffte es, ihren Teller leerzuessen und auch noch zwei Becher Kaffee mit Zucker und Milch zu trinken. Als sie ihren Mund mit der Serviette abwischte, merkte sie, wie Thomas ihr schon wieder zulächelte. Oh nein, dachte sie, wahrscheinlich habe ich mein Essen hinuntergeschlungen. Sie musste sich stets vor Augen führen, dass sie sich nun draußen in der großen, weiten Welt befand und versuchen musste, keine Schande auf… auf wen denn? Sie konnte höchstens Schande auf sich selbst laden, denn sie hatte ja sonst niemanden mehr. Diese Erkenntnis – niemanden mehr zu haben, ganz alleine auf der Welt zu sein – traf sie so unvermittelt und mit solcher Wucht, dass ihr die Tränen kamen.

»Haben Sie wirklich den Präsidenten gekannt, Miss Barton?«, fragte sie rasch und hoffte, Thomas würde seine Aufmerksamkeit von ihr abwenden.

»Oh, ich hatte nie die Ehre, ihm persönlich zu begegnen. Aber wir haben miteinander korrespondiert, und er war sehr wohl im Bild über meine Bemühungen, bei der Suche nach unseren vermissten Helden zu helfen. Er war ein großer Mann, ein Genie, würde ich sagen. Was für eine Schande, dass er das Wachsen und Gedeihen der Union, die ihm so wichtig war, nicht mehr miterleben durfte …« Sie seufzte. »Wirklich, ein höchst bemerkenswerter Mensch. Ich stand bei seiner zweiten Amtseinführung in der Zuschauermenge – Masse wäre wohl der treffendere Ausdruck, um nicht gleich von einem Menschenauflauf zu sprechen, und ich wäre um ein Haar zerquetscht worden. Man hat noch nie so viele Menschen gesehen, die alle gleichzeitig am selben Ort sein wollten. Mr. Lincoln hat seine Rede selbstverständlich stehend gehalten, obwohl es in der vordersten Reihe Stühle für die hohen Tiere und Großkopfeten gab. Aber hinter ihm standen sie in zwanzig, dreißig Reihen hintereinander. Auf dem kleinen Balkon über dem seinen hatten sich hundert Männer zusammengequetscht – auf einer Fläche, die nur für zwanzig gedacht war. Oh ja… sie standen auf Fensterbrettern, hockten auf Geländern, kletterten einander auf die Schultern. Für Abe Lincoln hätten sie wohl alles getan, alles, um nur bei ihm zu sein und ihn sprechen zu hören. Er hatte übrigens eine wundervolle Stimme, müssen Sie wissen …«

»Ich war auch dabei«, sagte ein Mann zwei Plätze weiter. Er beugte sich vor, um Clara Barton anblicken zu können. »Ich erinnere mich genau an diesen Tag. Wie der Wind über die Pennsylvania Avenue gepeitscht ist und wie die Flagge der Union geknattert hat. Er gab uns zu bedenken, dass Nord- und Südstaatler sich an den selben Gott um Beistand gegen den Feind wandten. ›Was für ein naheliegender Gedanke‹, habe ich zu meiner Frau gesagt, ›und doch führt sich kaum einer von uns das je vor Augen.‹ Ja, er war ein großartiger Redner, unser Abe.«

»Das war er«, pflichtete Clara Barton ihm bei. »Einen wie ihn erleben wir so bald nicht wieder.« Sie begann, ihr Geld auf dem Tisch abzuzählen und machte Anstalten, sich zu erheben. »Ich habe auch etwas Geld bei mir«, sagte Jessie. Zwar sehr wenig nur, aber es gehörte sich nicht, sich von Fremden freihalten zu lassen.

»Danken Sie dem Suchdienst für vermisste Armeeangehörige für Ihr Frühstück, Jessie. Und nun nichts wie zurück ins Büro. Es ist bald an der Zeit, dass wir öffnen, und ich möchte mich noch mit Ihnen über Ihren Bruder unterhalten, bevor wir zu viel zu tun bekommen. Den Besuch des Ford’s Theater müssen wir uns für später aufheben.« Ganz offensichtlich handelte es sich bei Miss Barton um eine Frau, die es gewohnt war, das Sagen zu haben.

Auf den Straßen herrschte noch mehr Betrieb, wenn dies überhaupt möglich war – und der Lärm hatte sogar zugenommen, denn die verschiedensten Straßenhändler priesen jetzt lautstark ihre Waren an. Die Sonne stand höher am Himmel und strahlte noch heißer und greller. Jessie hielt sich schützend die Hand über die zusammengekniffenen Augen, als sie mit einem Mal das Gefühl hatte, ihr würde die Luft wegbleiben. Mein Gott! Das war er! Jacob! Keine fünf Fuß von ihr entfernt nahm er gerade eine Münze von einem Mann in einem gut geschnittenen Anzug entgegen. Er war dünner geworden, seine Haut war von der Sonne verbrannt, und gekleidet war er wie so viele Soldaten – in eine ausgeblichene, abgerissene Uniform. Aber diese kupferfarbenen Locken hätte sie jederzeit wiedererkannt!

»Jake!«, schrie sie. »Jacob! Hier! Jake!« Obwohl sie von der Sonne geblendet war, gab es keinen Zweifel. Mit weit ausgestreckten Armen wollte sie auf ihn zulaufen. Er wandte sich um und schaute ein wenig verdutzt drein, aber gleich würde er grinsen und rufen: Mein Gott, Jess, wie um alles in der Welt hast du mich denn in dieser Menge entdeckt? und dann scherzhaft hinzufügen, dass man sich vor der findigsten Frau im ganzen Osten eben nicht verstecken konnte. Und er würde lachen, sie bei den Hüften greifen und sie im Kreise herumwirbeln.

Sie flog fast auf ihn zu; schon meinte sie seine Arme zu spüren, zu fühlen, wie er sie an sich drückte. O Gott, er war so schmutzig! Und seine Kleider – beinahe in Fetzen! Sei’s drum, bald würden sie ihn neu ausstaffieren, und dann könnte er sich wieder überall blicken lassen. Nun, da sie ihn gefunden hatte, würde alles gut.

Ihre Blicke trafen sich; er starrte einen Moment lang wie durch sie hindurch, dann wurden seine Augen immer größer. Gleich, gleich würde das breite Grinsen kommen: Du träumst nicht, ich bin es, ich bin es wirklich!

Sie war ihm schon so nahe, dass sie seine rötlichen Bartstoppeln erkennen konnte, als er sich wieder umwandte – sich abwandte! – und wie ein Hase davonzuflitzen begann, Passanten auswich, in sie hineinrannte, einen Korb mit Maiskuchen umstieß und um die nächste Ecke verschwand.

»Jacob!« Den Bruchteil einer Sekunde lang war sie so entsetzt, dass sie sich nicht von der Stelle zu rühren vermochte. Dann raffte sie ihre Röcke mit einer Hand zusammen und stürzte ihm nach. Sie war eine gute Läuferin, doch als sie um die Ecke kam, war von ihm schon nichts mehr zu sehen, keine flüchtende Gestalt in der Ferne, kein Anzeichen, dass jemand auf der belebten Straße sich durch sein Gerenne belästigt gefühlt hatte… nichts. Er war so gründlich vom Erdboden verschwunden, dass er auch ein Trugbild hätte gewesen sein können.

Die Faust an die Brust gepresst, blieb Jessie einen Augenblick lang stehen und spürte das heftige Pochen ihres Herzens. Er spielte ein Spiel mit ihr. Das musste es sein. Wahrscheinlich versteckte er sich einen halben Häuserblock weiter in einer Eingangstür. Der Matsch spritzte nur so auf, als sie Hals über Kopf losrannte und dabei Blicke in alle Nischen und Treppenaufgänge warf. »Jacob! Jacob! Lass das sein! Das ist nicht lustig! Jake! Ich bin weit gereist, um dich zu finden!«

Am Straßenrand hockte ein Mädchen mit einem Haufen umgestürzter Körbchen voller Kräutersträußchen zu ihren Füßen – Heilkräuter, wie Jessie sich unschwer vorstellen konnte. »Miss! Miss!«, rief sie dem Mädchen zu. »Haben Sie gerade eben einen Soldaten vorbeirennen sehen?«

»Nein, Ma’am, keinen Soldaten – außer, Sie meinen den abgerissenen Yankee mit dem wüsten Blick und dem Stoppelbart.«

»Ja, den meine ich. Wohin ist er gelaufen?«

»Na, wohin wohl? Geradewegs die Straße rauf. Hat um ’n Haar meine Kräuter zertrampelt.«

»Und weiter? Ist er irgendwo abgebogen? Nach rechts? Nach links?«

Das Mädchen sah sie aus großen, weit auseinanderstehenden Augen an. Ihre Augen waren erstaunlich hell, von einem golden schimmernden Grün, wie bei einer Katze, und sie hatte ebenso helle Haut, golden, alles andere als schwarz, obwohl sie dieses Tuch um den Kopf gebunden trug, das Jessie bisher nur bei Negerfrauen gesehen hatte. »Ehrlich, Missy, ich nich besonders auf ihn geachtet. Tut mir leid, aber warum sollt ich auch? Aber möchten Sie vielleicht ein paar von meinen Medizinkräutern kaufen? Hier sind –«

Mit einer ungeduldigen Geste gab Jessie ihr zu verstehen, den Mund zu halten. Wie konnte sie ihr etwas aufzuschwatzen versuchen, wenn doch Jacob hier irgendwo ganz in der Nähe war und sich vor ihr versteckte? Natürlich war es nur ein Spiel. Sooft er konnte, machte Jake sich gerne einen Spaß daraus, die Leute an der Nase herumzuführen. Und da kamen auch schon Clara Barton und Thomas angehetzt.

»Glauben Sie etwa, Sie haben Ihren Bruder gesehen, Jessie?«

Am liebsten hätte sie wieder zu heulen angefangen. »Ich weiß, dass ich ihn gesehen habe. Er hat mir direkt in die Augen geguckt, also hat er mich auch gesehen. Aber dann wirkte es so, als hätte er Angst, und ist vor mir davongerannt! Warum nur? Was ist mit meinem Bruder passiert? Oh, Jacob!« Ein Schluchzen stieg in ihr auf, drohte sie zu überwältigen. Sie vergrub das Gesicht in den Händen. Sie war ihm so nahe gekommen… so nahe! Und nun war er wieder weg. In dieser riesigen Stadt mit all ihren vielen Menschen würde sie ihn nie wiederfinden!

Clara Barton legte den Arm um sie. »Immer ruhig, Jessie, immer ruhig. Zumindest wissen wir, dass er lebt, und das ist es doch, was Sie sich gewünscht haben, nicht wahr?«

»Und Sie glauben, es ist zweifellos Ihr Bruder gewesen?«, wollte Thomas wissen.

»Er trug Reste seiner Uniform, ganz verblichen und schmutzig… sogar dieses Mädchen hat ihn als Yankee erkannt.«

»Also lebt er? Können wir uns da auch wirklich sicher sein?«, fragte Thomas.

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Ich meine nur – ob Sie sich nicht vielleicht doch geirrt haben? Tut mir leid, Miss Snow, ich wollte Ihre Gefühle nicht verletzen, aber es gibt immerhin Hunderte von Soldaten, die hier in der Gegend durch die Straßen streifen, mal nach Norden, mal nach Süden, überallhin, weil der Krieg nun vorüber ist und sie ja irgendwohin müssen. Manche möchten auf keinen Fall mehr nach Hause zurück, und andere… nun, andere wissen vielleicht gar nicht mehr, was sie tun… verzeihen Sie.«

Jessie holte tief Luft. »Nicht Jacob«, erklärte sie mit Nachdruck. »Kann sein, dass ihm etwas zugestoßen ist, dass er womöglich gar nicht mehr weiß, wer er ist. Aber mich würde er sehen wollen, sobald er erst wieder bei Verstand ist. Also muss ich ihn wiederfinden.« Sie sah Thomas unverwandt an. »Ich werde doch meinen eigenen Bruder erkennen. Ich habe ihm in die Augen gesehen, und er in meine. Er ist es gewesen.«

»Thomas hat recht, Jessie. Sie haben nur eine Sekunde oder so Zeit gehabt, um möglicherweise –«

»Genug Zeit, um meinen Zwillingsbruder wiederzuerkennen«, beharrte Jessie.

Darauf sagten sowohl Thomas als auch Clara Barton kein Wort mehr, sondern tauschten nur besorgte Blicke aus. Jessie merkte, dass sie nicht so recht wussten, ob sie ihr glauben sollten oder nicht. Die Suche nach Jake würde sich nicht leicht gestalten, das hatte sie von Anfang an gewusst, aber nicht einen Augenblick war ihr in den Sinn gekommen, man könne sie für übergeschnappt halten. »Schon gut, dann finde ich ihn auch alleine.«

Sie wandte sich ab, um davonzugehen; sie wollte nicht, dass sie ihre Tränen der Enttäuschung sahen, obwohl sie keine Ahnung hatte, wie sie zurück zur Suchstelle für vermisste Armeeangehörige kommen sollte. Aber sie musste ja noch einmal dorthin, um ihre restlichen Sachen zu holen und sich eine Landkarte zu besorgen, mit deren Hilfe sie sich auf den Weg machen konnte.

»Immer langsam, Miss Jessie!« Sie hörte seine leicht humpelnden Schritte, und dann hatte Thomas sie auch schon beim Arm gepackt. »Kein Grund, gleich davonzulaufen. Wir werden gemeinsam nach ihm suchen. Verstehen Sie denn nicht? Es wäre besser, wenn es sich bei dem Mann nicht um Ihren Bruder gehandelt hätte. Außerdem… haben wir versprochen, Ihnen zu helfen, und das werden wir auf jeden Fall auch tun. Also begleiten Sie uns jetzt zurück zum Büro, damit wir alles bereden können.«

Ein Gefühl der Erleichterung überkam sie. Sie hätte es nicht ertragen, die einzigen Menschen zu verlieren, die sie in dieser Stadt kannte. Einen schrecklichen Augenblick lang hatte sie sich ganz allein und verlassen auf der Welt gefühlt … gerade so, als wäre Jacob tot. Mit vereinten Kräften würde es ihnen bestimmt gelingen, ihn aufzuspüren. Und wenn sie nicht recht glauben wollten, dass es tatsächlich Jake war, den sie gesehen hatte… nun, sie wusste es, und nur darauf kam es an.

Dann fiel ihr das farbige Mädchen wieder ein, die klugen Augen, aus denen es sie angesehen hatte. Wie unhöflich ich zu ihr gewesen bin, dachte sie. Wo sie doch noch gesagt hat, es täte ihr leid, dass sie nicht gesehen hätte, wohin er davongelaufen sei. Und es tat ihr ganz offenkundig wirklich leid. Vielleicht kann ich ihr etwas abkaufen, um ihr zu zeigen, dass ich es nicht so gemeint habe. Doch als sie zu der bewussten Stelle zurückkamen, war das Mädchen mitsamt ihren Körben verschwunden.

»Oh, wie schade«, sagte sie. »Ich habe gedacht, ich könnte dem farbigen Mädchen vielleicht etwas abkaufen… obwohl sie mir gar nicht dunkelhäutig aussah, bloß hungrig.«

»Machen Sie sich keine Gedanken. Miss Barton hat ihr ein paar Zweicentstücke zugesteckt.« Er lächelte ihr auf die gleiche Weise zu, wie ihr Vater es getan hatte – liebevoll und nachsichtig – wie man einem kleinen Kind zulächelt, dachte sie, oder einem kleinen Hund. Aber sei’s drum, bald würde sie auf ihrem Weg sein und bräuchte sich nicht mehr mit Thomas Lavery abzugeben, also erwiderte sie sein Lächeln.

»Es gibt eine Menge Farbiger, die Ihnen und mir sehr ähnlich sehen, Jessie«, sagte er.

»Wie kommt das?«

Er überlegte kurz. »Das ist kompliziert. Fragen Sie mich noch einmal danach, wenn wir gerade nicht versuchen müssen, mit Miss Barton Schritt zu halten.«

Auf dem Rückweg zum Büro warf Jessie ab und zu einen Blick über die Schulter, schaute in jede Seitengasse, immer in der Hoffnung, sie würde plötzlich Jacob entdecken, der ihnen gefolgt war, stets bereit, zu ihrer aller Überraschung lachend aus seinem Versteck hervorzuspringen. Aber nichts dergleichen geschah. Es waren einige Soldaten auf der Straße unterwegs, mutlos dreinblickende Männer, die sich mit provisorischen Gehstöcken und Krücken behelfen mussten, und viele mit Verbänden um den Kopf. Sie hatte solche Männer schon auf dem Weg nach Washington gesehen, sich aber von ihnen ferngehalten – Mrs. Heywoods warnende Worte noch im Ohr.

Doch längst nicht alle ehemaligen Soldaten vermittelten einen so niedergeschlagenen Eindruck. Manche gaben in ihren farbenfrohen Uniformen ein ganz anderes Erscheinungsbild ab, spazierten stolz zu zweit oder zu dritt nebeneinander mitten auf der Straße, als sei es an den Wagen und Kutschen, ihnen auszuweichen. Und das Verrückte war: Sie taten es sogar! Alles machte ihnen Platz.

»Wer mögen die denn sein?«, fragte sie. »Sie tun sich ja sehr wichtig.«

Clara Barton lachte. »In der Tat, Jessie. Sie halten sich für etwas ganz Besonderes, obwohl die meisten von ihnen jetzt nichts mit sich anzufangen wissen.« Sie verlangsamte einen Augenblick lang ihren Schritt und senkte die Stimme. »Seitdem der Krieg vorüber ist, gibt es keine Aufgabe mehr für sie, verstehen Sie? Aber das wollen sie nicht wahrhaben. Sie zeigen sich gerne in ihren schicken Uniformen, und während des Krieges waren Armeeoffiziere tatsächlich gern gesehene Gäste in jedem besseren Haus und bei jeder Soiree in Washington City. Niemand hat ihnen zu viele Fragen danach gestellt, wo sie herkamen und was ihre Väter machten. Nun ist das vorbei, und sie sollten eigentlich heimkehren. Aber das wollen sie nicht.«

Sie wies auf das geschäftige Treiben um sie herum – Dutzende von Männern in scharlachrot abgesetzten blauen Offiziersröcken und mit auf Hochglanz gewienerten Schaftstiefeln, die beim Gehen klimperten. »Spanische Brogans«, erklärte Thomas. Die Jacken waren dermaßen eng geschnitten, dass es einen wunderte, wie ihre Träger überhaupt so männlich ausschreiten konnten, aber Jessie fand sie dennoch sehr hübsch und elegant und konnte den Blick nicht von den mit Federn geschmückten Paradehüten, den bunten, seidenverzierten Schärpen, den mit breiten Goldborten und langen Quasten verzierten Epauletten an den Schultern – und vor allem nicht von den Säbeln losreißen. Und dann die Pferde mit den rotweißblauen Decken, den mit Goldfäden durchwirkten Mähnen, den mit Einkerbungen und zum Klippklapp der Hufe mitschwingenden Federn geschmückten Sätteln…

»Ich habe noch nie etwas so Prächtiges gesehen«, entfuhr es ihr. »Ich würde gerne wissen, ob Jake auch mal diese Uniform getragen hat.«

Thomas schnaubte verächtlich durch die Nase. »Ich hoffe nicht! Sonst wäre er bestimmt von einem Heckenschützen auf der Lauer nach einem hübschen Paradiesvogel zum Abendessen abgeknallt worden.« Als er Jessies erschrockenes Gesicht sah, fügte er rasch hinzu: »Nein, Jessie, im Feld und auf dem Vormarsch trugen selbst die ranghöchsten Offiziere Schlapphüte und einfache Soldatenmäntel ohne Rangembleme. Und was die Epauletten betrifft …« – er machte eine wegwerfende Handbewegung – »so möchte doch niemand in der Schlacht dem Feind auf die Nase binden, wer seine wichtigsten Offiziere sind. Deswegen versuchen die auch, sich bedeckt zu halten. Können Sie das nachvollziehen?«

»Das leuchtet mir natürlich ein. Dann sind diese Burschen … alle bloß eitle Gecken?«

»Ja, so würde ich sie bezeichnen.«

»Sie müssen Thomas seine Geringschätzigkeit den Washingtoner Kriegern gegenüber nachsehen«, sagte Clara Barton. »Viele von denen haben im Gegensatz zu unserem Thomas niemals in einer Schlacht gekämpft.«

»Darum geht es mir nicht, wie Sie sehr wohl wissen, Miss Barton. Sie geben sich den Anschein, etwas zu sein, was sie nicht sind, und das macht mich fuchsig.« Er wandte sich Jessie zu. »Washington ist seit jeher eine Stadt mit einer fest gefügten Hierarchie gewesen, und diese Knaben sind entschlossen, irgendwo ganz oben dazuzugehören. Oder zumindest so auszusehen. In Washington City kennt jeder den ihm zugewiesenen Platz in der Gesellschaft – und klammert sich daran.« Er grinste. »Man sagt, die einfachen Leute essen um zwölf, die kleinen Angestellten um eins, die höheren Angestellten um drei, die Volksvertreter um vier, die Senatoren um fünf, die Botschafter um sechs, und der Präsident? Nun, der steht so hoch in der Rangordnung, dass er sein Mittagessen auf den nächsten Tag verschiebt… wenn wir hier nach rechts einbiegen und bis zur Tenth Street hinuntergehen, können wir Ihnen das Ford’s Theater zeigen.«

»Diese Ehre überlasse ich dann bitte Ihnen, Thomas. Ich muss im Büro sein, bevor sich die Schlange bildet«, sagte Clara Barton, und ehe Jessie Einwände erheben konnte, war sie schon davongeeilt, und Thomas’ Hand hielt Jessie fest beim Ellbogen und geleitete sie weiter.

»Ich möchte nicht, dass Sie glauben, ich hätte nichts für das Militär übrig, Jessie. Es gibt bedeutende Männer, die das Kriegshandwerk zu ihrer Lebensaufgabe machen. Sie stammen doch aus der Nähe von West Point, nicht wahr?«

Darüber musste Jessie lachen. »Weil es am Hudson River liegt? Nein, das ist ein ganzes Stück südlich von Mechanicville, unten, wo der Fluss noch Salzwasser führt. In Mechanicville fängt man nie Heringe, dafür liegt es viel zu weit im Norden. Als ich mit der Fähre von Albany flussabwärts kam, habe ich das Fort zum ersten Mal in meinem Leben gesehen.«

»Die aus West Point sind echte Gentlemen, keine Rohlinge, die nur um des Tötens willen töten. Sie haben eine Etikette der Kriegsführung, Jessie, einen fest vorgegebenen Takt – wie in der Musik.« Sie hielt diesen Vergleich für etwas weit hergeholt.

»Als sich General Grant mit General Lee traf, um die Bedingungen der Kapitulation auszuhandeln, hat Grant gleich den Rebellentruppen Proviant angeboten. Und er hat seine Männer ermahnt, nicht zu laut zu jubeln. ›Der Krieg ist vorbei‹, hat er ihnen gesagt, ›unsere Feinde sind wieder unsere Landsleute.‹ Die wahre Haltung eines Gentleman, finden Sie nicht auch?«

Sie gab ihm recht, und dann waren sie auch schon da, standen vor einem Ziegelsteinbau mit Bogenfenstern und klassizistischen Säulen. Immerhin war das Theater ziemlich hoch; zwei Stockwerke mit einem kleinen Spitzdach obenauf.

»Hier ist er also gestorben«, seufzte Jessie.

»Nicht ganz. Er ist in diesem Gebäude angeschossen worden, aber gestorben ist er im Peterson House gegenüber.« Beide wandten sich um und versenkten sich in die Betrachtung des von hohen Bäumen beschatteten einfachen Hauses, als hätte es ihnen etwas mitzuteilen.

»Die ganze Nacht lang wurde an seinem Bett gewacht«, nahm Thomas schließlich mit leiser Stimme seinen Faden wieder auf, »und neun Stunden, nachdem er angeschossen worden war, tat Mr. Lincoln seinen letzten Atemzug.« Dann rezitierte er voller Inbrunst: ›»Jauchzet ihr Gestade, ihr Glocken dröhnt! Ich aber knie in Not, wo auf dem Deck mein Captain liegt, gefallen, kalt und tot.‹ Das ist von Walt Whitman. Der Krieg war gewonnen, doch unser oberster Führer von uns genommen.«

Ein paar Minuten lang verharrten sie noch schweigend. Thomas’ offensichtliche Ergebenheit gegenüber seinem toten Präsidenten, die ergreifenden Zeilen Whitmans und die Tatsache, sich an einer solch geschichtsträchtigen Stätte zu befinden, erwärmten Jessies Herz. Nie hätte sie erwartet, einmal an einem Ort zu stehen, wo sich bedeutende Ereignisse abgespielt hatten… an dem ein großer Präsident vom Tod ereilt worden war. Sie hatte das Gefühl… nein, sie wusste nicht, was ihre Gefühle waren. Erwartungsvoll? Bereit für das, was vor ihr lag? Und auch Thomas schien doch kein so unangenehmer Zeitgenosse zu sein… ein wenig steif vielleicht, aber was wusste sie schon über die Menschen in einer solch riesigen Stadt?

»Jacob ist von Mr. Whitman gepflegt worden, als er hier im Spital lag«, sagte sie. »Er hat es uns in einem Brief berichtet. Er schrieb, Walt Whitman sei ihm ein barmherzigerer Samariter gewesen als die meisten Krankenschwestern, obwohl er mit seinem Rauschebart und den breiten Schultern eher grimmig wirkte.«

»Ich habe so manches über Walt Whitmans Kunst als Krankenpfleger gehört«, pflichtete Thomas ihr bei. »Ein außergewöhnlicher Mensch. Wo wir gerade über Krankenhäuser reden – ich werde Miss Barton vorschlagen, dem Armory Square Hospital einen Besuch abzustatten. Möglicherweise weiß man dort, wohin Ihr Bruder nach seiner Entlassung gehen wollte. Aber nun sollten wir uns auf den Rückweg machen. Sie möchten bestimmt den weiteren Verlauf Ihrer Suche planen und dann bald aufbrechen.«

Zu ihrem eigenen Erstaunen lächelte sie ihn an und sagte: »Haben Sie es denn so eilig, mich wieder loszuwerden, Mr. Lavery?« Und dann hatte sie das Vergnügen, ihn erröten zu sehen.

»Oh, das habe ich… das meinte ich nicht… das habe ich nicht sagen wollen …«

»Das weiß ich doch. Ich habe nur Spaß gemacht. Jacob und ich haben uns oft so geneckt. Es tut mir leid.«

Sie gingen weiter, seine Hand immer noch an ihrem Ellbogen, um sie zu geleiten. Er räusperte sich. »Ich… ich bin in jüngster Zeit nicht besonders heiter. Miss Barton meint, ich würde mich noch verfrüht zu einem alten Mann entwickeln, und möglicherweise hat sie recht damit. Möchten Sie hören, was sie über Sie sagt? Warten Sie, wir müssen hier über die Straße… Sie sagt, Sie hätten ein Gespür dafür, niedergedrückte Stimmungen zu zerstreuen. Wenn das kein Kompliment ist! Und das aus dem Munde des Engels der Schlachtfelder!«

Er warf ihr einen ironischen Blick aus dem Augenwinkel zu, und sie konnte nicht umhin, dies mit einem Lächeln zu erwidern. »Aber Mr. Lavery, wie hätte ich denn auch ahnen können, dass sie so nett und so reizend ist? Man könnte fast erwarten, einen Heiligenschein über ihrem Kopf schweben zu sehen.«

»Oh, den gibt es wirklich. Allerdings sieht man ihn nur bei Nacht. Sie müssen gestern Abend so schnell eingeschlafen sein, dass er Ihnen entgangen ist.«

Also amüsant konnte er auch sein. Doch nicht nur ein schrecklich steifer Miesepeter. Gut zu wissen.

Die Sanftmütige

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