Читать книгу Die Sanftmütige - Marcia Rose - Страница 4
2
ОглавлениеClara Barton seufzte und legte den Brief hin, den sie sich immer näher ans Gesicht gehalten hatte, bis die Schrift vor ihren Augen verschwommen war. Oh je, dachte sie, mir können doch nicht schon jetzt die Augen versagen. Es gab noch so viele Briefe, die sie lesen – und beantworten – musste. Vier Körbe voller Briefe standen vor ihr auf dem Schreibtisch, auch neben ihrem rechten Ellbogen hatte sie Stapel, und weitere Schriftstücke lagen kreuz und quer herum. Es war ein geräumiges Zimmer, trotzdem wurde es eng darin mit den drei großen Tischen und einem halben Dutzend Stühlen, ganz zu schweigen von dem alten Sofa mit dem an manchen Stellen schon fast durchgescheuerten Samtbezug. Es gab ein Stickgestell, auf dem Thomas sein lahmes Bein ausruhen konnte, ein Beistelltischchen mit einem Teeservice für sie neben dem Kamin und stapelweise Bücher und Regierungspapiere – diese wurden auf dem Fußboden aufbewahrt, weil sonst nirgendwo mehr Platz war. An den Kleiderhaken neben der Tür hingen Mäntel und Schirme. Ein unvorbereiteter Besucher hätte es für ein heilloses Durcheinander gehalten, doch Clara wusste ganz genau, wo jedes einzelne Schriftstück und jeder einzelne Brief lagen, wenn sie sie benötigte. Etwas unaufgeräumt, aber gemütlich, dachte sie. Sogar anheimelnd. Allerdings ziemlich düster. Sie rieb sich die Augen und blinzelte ein paarmal rasch hintereinander, als könnte sie durch schiere Willensanstrengung alles gleich ein wenig besser erkennen.
»Ich sag’s Ihnen doch immer. Es ist töricht, bei so schlechtem Licht zu lesen. Bald werden Sie eine Brille brauchen, und wie wollen Sie dann mit Ihrem bezaubernden Augenaufschlag die Senatoren herumkriegen?«
Die Stimme, die von einem Tisch in der hintersten Ecke beim Fenster kam, gehörte einem hoch gewachsenen, etwas zu dürren Mann mit einer dichten, unbändigen Haarmähne und einem langen, an Abraham Lincoln erinnernden Kinn, obwohl er Mitte zwanzig war. Er lächelte ihr zu.
»Sie sollten sich gegenüber älteren Herrschaften zurückhalten, junger Mann«, ermahnte sie ihn, musste aber ebenfalls lächeln.
»Ältere Herrschaften? Dass ich nicht lache! Sie sind weitaus jünger als die meisten Menschen meines Alters!«
»Jünger, sagen Sie? Man könnte es fast glauben, schließlich wachen Sie über mich ja wie eine Glucke. Sie sollten lieber zum Tanz ins Gemeindehaus gehen und sich ein nettes Mädchen anlachen. Sie werden auch nicht jünger, Thomas.«
»Das ist also der Dank dafür, dass ich Ihnen ein Kompliment mache! Aber ich bin keine Glucke. Sie sind es, die nicht auf ihre Gesundheit achtet, und dabei zählen so viele Ehefrauen und Liebchen und Mütter mit gebrochenem Herzen auf Sie und darauf, dass Sie für sie Detektiv spielen.«
»Wenn Sie so besorgt um meine Gesundheit sind, warum gehen Sie dann nicht zurück auf die Universität und beenden das vierte Semester Ihres Medizinstudiums?«
»Das ist ein unangenehmes Thema… wie Sie wohl wissen dürften.« Er beugte sich wieder über die Papiere vor sich und fügte in möglichst beiläufigem. Ton hinzu: »Man sagt, Präsident Lincoln verdanke seine verminderte Sehschärfe dem Lesen im Halbdunkel. Und Kurzsichtigkeit ist keine aufreizende Tugend bei einer Frau, Miss Barton.« Er warf ihr ein Lächeln zu, damit sie merkte, dass er nur gescherzt hatte.
Clara Barton nickte und machte sich scheinbar wieder über ihre Arbeit her, doch in Wirklichkeit beobachtete sie heimlich ihren Assistenten. Thomas Lavery war ein gut aussehender junger Mann, bloß eben viel zu dünn; doch im Krieg gewöhnte man sich rasch an den Anblick junger Männer, die aussahen, als stünden sie kurz vor dem Verhungern. Und häufig genug sahen sie nicht nur so aus; sie waren dem Hungertod nahe! Gott allein wusste, wie solche Truppen überhaupt kämpften konnten; die Rationen waren meistens sehr knapp, wie sie aus eigener Erfahrung wusste.
Die Kugel, die er sich in der Schlacht am Antietam eingefangen hatte, hatte einen Knochen seines Beins gestreift und ein paar Muskeln durchtrennt, so dass er ein wenig humpelte. Und dabei konnte er noch von Glück reden, dass er nicht schlimmer dran war, denn sonst hätten die Feldärzte ihm gleich das Bein amputiert, was oft die einzige Möglichkeit blieb, das Leben eines Mannes zu retten, versicherte man ihr. Sie glaubte nicht so recht daran, aber da sie keine medizinische Ausbildung vorweisen konnte, hörte man nicht auf ihre unbedeutenden weiblichen Bedenken. Sie wusste, dass der arme Tom oft unter Schmerzen litt; trotzdem unternahm er lange Spaziergänge, auf denen er sich zwang, schneller und immer schneller voranzuschreiten, und er verbrachte viele Stunden damit, Holz zu hacken – um seine Muskeln in Schuss zu halten, wie er behauptete. Er war recht kräftig, aber nur deswegen verausgabte er sich wohl kaum so gerne mit hirnloser Körperertüchtigung.
Sie wusste, dass ihn das Gefühl plagte, seine Pflicht versäumt zu haben, indem er sich hatte anschießen lassen und dann nach Hause geschickt worden war. »Und das gleich zu Beginn des Krieges!«, hatte er mehr als einmal geklagt. Sie fand es ein bisschen übertrieben, nur bei sich selbst die Schuld zu suchen, und ihrer Meinung nach verkehrte er damit auch die Tatsachen, aber das ließ sich nun eben nicht ändern. Dennoch konnte dies nicht der einzige Grund für seine offensichtliche Unzufriedenheit sein. Es musste noch etwas anderes geben, was ihm zu schaffen machte.
Anstatt mit anderen jungen Leuten Lokale und Tanzveranstaltungen zu besuchen, schob er oft Überstunden im Büro und arbeitete oft, bis ihm die Augen zufielen. Aber Clara hatte Tom und seinen trockenen Witz ziemlich ins Herz geschlossen. Sie wusste, dass die Mädchen ihn attraktiv fanden; so manches Augenpaar hatte sie schon scheu in seine Richtung blicken sehen, doch falls er das überhaupt bemerkte, achtete er gar nicht weiter darauf. Das konnte doch nicht normal sein! Er lief Gefahr, ein mürrischer alter Junggeselle zu werden. Und wie steht es mit dir selber, Clarissa?, fragte sie sich innerlich. Was ist mit all den Heiratsanträgen, von denen du nichts hattest wissen wollen? Mit all der Aufmerksamkeit, die du verschmäht hast? Zweiundvierzig Jahre alt, kein Mann, keine Kinder, und immer noch von plötzlichen Schüchternheitsanwandlungen geplagt.
Thomas stand auf und streckte sich. »Besorgen wir uns eine Kleinigkeit zum Abendessen«, schlug er vor. »Sie haben seit Mittag keinen Bissen mehr zu sich genommen. Ich gehe runter und hole uns etwas guten Käse und Brot und einen Krug Ale aus dem Wirtshaus.«
»Sehen Sie? Die Glucke.«
»Unsinn. Ich habe Hunger. Sie etwa nicht? Selbstverständlich sind Sie hungrig. Warum waschen Sie sich nicht das Gesicht und die Hände? Sie haben überall Tintenflecken, wenn mir die Bemerkung gestattet ist… Ich räume eine Ecke dieses Tisches frei, und dann genehmigen wir uns gleich ein kleines Festmahl.«
Beide sahen auf, als sie müde Schritte sich die Treppe hinaufschleppen hörten, und lauschten, ob dieser späte Besucher vielleicht woanders hinwollte, aber nein, die Schritte kamen immer näher, hielten inne, und dann klopfte es auch schon an der Tür. Sie tauschten rasche Blicke miteinander aus. Eigentlich wollten sie doch gerade für heute Schluss machen, und wer auch immer vor der Tür stand, hatte bestimmt ein Anliegen, das etliche Zeit in Anspruch nehmen würde.
»Ich könnte denjenigen auf morgen vertrösten«, flüsterte Thomas.
Clara zögerte; beinahe war sie versucht, seinem Rat zu folgen. Sie hatte vergangene Nacht schlecht geschlafen, war mehrfach aufgewacht und hatte sich nicht mehr an die Träume erinnern können, die sie aus ihrem Schlummer gerissen hatten. Andererseits tat jeder, der dieses Büro aufsuchte, es aus Verzweiflung, und die meisten hatten wirklich interessante Geschichten zu erzählen. Wie konnten sie da einfach jemanden abweisen?
»Nein, nein«, sagte sie, streckte ihr Kreuz durch und lächelte. »Auf keinen Fall. Wollen wir doch mal sehen, was das Schicksal heute Abend noch für uns bereithält.«
Thomas gab ihr ein Zeichen, Platz zu behalten – sie sah wirklich reichlich übermüdet aus, fand er –, riss die Tür auf… und konnte es zunächst nicht glauben, denn vor ihm stand eine kleine, zierliche Person mit milchweißer Haut und einem rotblonden Zopf, der unter der Haube hervorschaute, die ihr Gesicht umschloss. Sie trug eine Reisetasche bei sich – offenbar eine ziemlich schwere. Die Schatten unter ihren Augen sahen aus wie rußige Fingerabdrücke, doch ihre Augen selbst waren groß und bildschön und von einem klaren Grün. Und sie sahen ihn unverwandt an – weise und wissend, blickten geradewegs in seine Seele, wie es ihm vorkam.
Sie schwankte ein wenig, woraus er schloss, dass sie sehr erschöpft sein musste. Er schob ihr seine Hand unter den Arm, um sie zu stützen, und verfluchte die Röte, die ihm ins Gesicht stieg, als sie zu ihm aufschaute und ihm ein dankbares Lächeln schenkte. Mach dich nicht lächerlich, schimpfte er mit sich selbst. Du benimmst dich ja wie ein dummer Junge. Er hatte wohl doch zu lange auf weibliche Nähe verzichtet.
»Ich habe gar nicht gewusst«, begann die Fremde ziemlich unvermittelt, »dass Reisen so anstrengend sein kann. Die meiste Zeit sitzt man nur herum, aber ich bin so entkräftet, als hätte ich stundenlang Holz gehackt.« Sie machte eine Pause, holte tief Luft und fuhr dann fort: »Es ist ein weiter Weg vom nördlichen New York State. Und ich habe ein gutes Stück zu Fuß zurückgelegt.«
Bei diesen Worten horchte Clara auf. »Ganz von New York? Zu Fuß? Mein armes Kind, Sie müssen ja völlig am Ende sein. Haben Sie unterwegs überhaupt geschlafen? Etwas gegessen? Nein? Wusste ich’s doch.« Das Mädchen hatte keine Silbe von sich gegeben, also beantwortete Clara ihre Fragen gleich selbst. So war sie eben, dachte Thomas. Oft kam es ihm vor, als könne sie Gedanken lesen.
»Also, Thomas, lassen Sie die Lady nicht in der Tür stehen. Führen Sie sie zum Sessel. Wir sind hier nicht sehr komfortabel eingerichtet, aber ein oder zwei Kissen treiben wir schon noch auf. Sie sehen aus, als könnten Sie etwas für Ihr leibliches Wohl vertragen, meine Gute. Und da haben Sie ja richtig Glück gehabt, denn Tom wollte uns gerade etwas zum Abendbrot holen. Sie bleiben doch und essen einen Happen mit uns, oder? Und wenn Sie dann was im Magen haben, erzählen Sie uns, welche Mission Sie zu uns führt.«
»Sind Sie Miss Barton? Miss Clara Barton?«
»Höchstpersönlich, wie es auch schon unten an der Tür steht.« Sie schenkte dem Mädchen ein wohlwollendes Lächeln. »Und Sie sind –?«
»Oh, Verzeihung. Ich bin Jessie Snow aus Mechanicville. Meine Eltern sind Seth und Hattie Snow… vielmehr sie waren es.« Ihr Kinn zitterte ein wenig.
»Ach, das tut mir leid. Ihre beiden Eltern sind tot? Mein armes Kind, so ein Unglück!«
»Es ist erst einen Monat her, dass meine Mutter… sie war lange krank, und wir konnten ihr nicht helfen, obwohl sie selber Hebamme und Heilerin war – eine der besten. Aber sie sagte mir, nicht einmal sie hätte eine Medizin gegen das, was sie befallen hatte – eine Art Schwindsucht… verzeihen Sie bitte …« Aus den großen grünen Augen quollen die Tränen.
Thomas suchte in seinen Taschen nach einem Tuch, aber Miss Barton, stets die barmherzige Samariterin, war bereits aufgesprungen und hatte dem Mädchen mit ihrem eigenen Leinentaschentuch ausgeholfen. »Sie brauchen sich für nichts zu entschuldigen. Es ist immer hart, einen geliebten Menschen zu verlieren, und in diesem langen Krieg haben wir alle es schon viel zu oft erleben müssen.«
Das Mädchen erwiderte ihr Lächeln aus tränenfeuchten Augen. »Sie haben nach meiner Mission gefragt. Woher wussten Sie, dass ich eine Mission habe?«
»Jeder, der herkommt, hat eine Mission zu erfüllen, nämlich, einen verschollenen Soldaten zu suchen«, sagte Clara. »Dafür sind wir ja schließlich die Suchstelle für vermisste Armeeangehörige. Und deswegen haben auch Sie den weiten Weg zu uns auf sich genommen, nicht wahr?«
»Ja, natürlich. Ich möchte meinen Bruder Jake finden… vielmehr Jacob, wie sein richtiger Name lautet.«
Mehr oder weniger unbemerkt von den beiden Frauen zog Thomas sich diskret zurück. Er wäre gerne dabeigeblieben, um sich Jessie Snows Geschichte anzuhören, aber er war wirklich fast am Verhungern. Und ihn machte das unerwartete Interesse nervös, das dieses Mädchen in ihm ausgelöst hatte. Er hatte geglaubt, sich gegen solche Gefühlsanwandlungen gewappnet zu haben. Wie töricht, sich dermaßen aus der Fassung bringen zu lassen, wo er doch genau wusste, dass sie noch im Büro sein würde, wenn er zurückkam – und dass sie sogar mit ihnen zu Abend essen würde.
Verärgert über sich selbst schüttelte er den Kopf, als er die Treppe hinunterging. Wenn er nicht besser auf sich achtgab, wäre seine Vorsicht für die Katz, und er würde aller Welt seinen schwachen Punkt offenbaren. Und das sollte nicht noch einmal, nie wieder passieren, hatte er sich geschworen.
Clara lauschte den sich entfernenden Schritten. Thomas’ Humpeln hatte sich während der letzten Wochen ein wenig gegeben. Auch jetzt hörte sie es deutlich an dem veränderten Rhythmus seiner Schritte auf den Stufen. Es war gut, dass es mit dem Bein des Jungen besser wurde. Und was seinen anderen wunden Punkt betraf… nun, zunächst musste sie sich um Miss Jessie Snow kümmern. Eine bemerkenswerte junge Frau. So jung sie noch wirkte und so erschöpft sie sein musste, sie war doch, ohne zu zögern, eingetreten und hatte ihr Anliegen vorgebracht, ohne dabei peinlich berührt oder verlegen den Blick gesenkt zu halten. Auch ihr plötzlicher Tränenausbruch wirkte ehrlich und ungekünstelt. An ihr war keinerlei Dünkel, nichts von der Gefallsucht, der Koketterie, die junge Mädchen häufig zur Schau stellen zu müssen meinten. Und sie hatte die Hunderte von Meilen ganz alleine zurückgelegt. Ja, eine wirklich bemerkenswerte junge Dame, die ein paar zusätzliche Minuten am Ende eines langen Tages durchaus wert war. Clara gab ihr mit einer Geste zu verstehen, dass sie mit ihrer Geschichte fortfahren solle.
Jessie holte tief Luft. »Ich habe all seine Briefe dabei. Der letzte ist am 21. November 1864 datiert und in einem Spital hier in Washington geschrieben worden – seit Ende 1864 hat mir niemand sagen können, ob er noch lebt oder irgendwo sein Grab gefunden hat. Nun haben wir Frühjahr 1866.« Ihre Stimme zitterte ein wenig, aber sie ließ sich davon nicht beirren. »Jake würde mir geschrieben haben, wenn er gekonnt hätte… das Schreiben war seine ganze Leidenschaft. Er wollte nach dem Krieg ein Buch darüber veröffentlichen, und ich bin mir sicher, dass er das auch noch tun wird. Er hat viele Geschichten zu Papier gebracht; einige davon waren richtig gut, Miss Barton. Das fand selbst unser Lehrer.« Sie machte eine kurze Pause. »Diejenigen Kameraden, die nach Hause zurückgekehrt sind, sagten, dass er eines Tages auf dem Rückzug von Chancellorsville – hieß der Ort so? – plötzlich verschwunden wäre und sie ihn nie wiedergesehen hätten. Da muss ihm etwas zugestoßen sein. Er würde sich nicht einfach von seinen Pflichten entfernen. Zweimal ist er befördert worden, bis zum Sergeant. Und er hat als Fahnenträger gedient!«
»Eine große Ehre, die Fahne tragen zu dürfen.« Das grenzenlose Vertrauen des Mädchens in ihren Bruder war gleichzeitig typisch und doch anrührend, aber sie war noch zu jung und unerfahren, um zu wissen, wie Männer sich in Zeiten des Krieges oft veränderten. Wenn jeder Tag, jede Stunde, den Tod bringen konnte, mochten sie mit einem Mal alt und weise und zynisch werden – und, ja, selbst zum Verrat bereit.
»Ehre war ihm in die Wiege gelegt, Miss Barton. Er war so stolz darauf, seinem Land und seinem Präsidenten zu dienen. Er hat Mr. Lincoln so sehr bewundert wie wir alle. Ursprünglich war der Fahnenträger Sergeant Anthony Bemis. Da das Bataillon sich Bemis-Heights-Bataillon nannte, war es ja auch nur naheliegend, dass ein Bemis… aber ihn traf eine Kugel, und so hat Jake die Fahne aufgenommen.« Noch einmal holte sie tief Luft. »Das Schreckliche ist… die Ungewissheit.« Der Ton des Mädchens wurde bestimmter. »Ich kann diese Ungewissheit nicht länger ertragen. Wenn man nichts Genaues weiß, nimmt das Trauern nie ein Ende.«
»Das kann man wohl sagen«, pflichtete Clara ihr bei. Das Mädchen mochte ein wenig blauäugig sein, was ihren Bruder betraf, aber dumm war diese junge Miss Snow nicht. »Das hat Sie alles sicher sehr angestrengt. Waschen Sie sich zunächst einmal, Miss Snow. Danach werden Sie sich bestimmt gleich viel besser fühlen.« Sie wies auf eine Schüssel und einen Wasserkrug, neben denen ordentlich zusammengefaltet ein fast sauberes Handtuch lag. Wie eine Schlafwandlerin trat das Mädchen gehorsam an den Waschtisch heran. »Selbstverständlich machen Sie sich Sorgen um Ihren Bruder, Miss Snow, doch Sie dürfen keine voreiligen Schlüsse ziehen, ehe wir nicht sämtliche Möglichkeiten erkundet haben. Viele Vermisste sind gar nicht tot, sondern nur schwer verwundet worden und haben Aufnahme bei hilfsbereiten Menschen gefunden… und sind dann einfach dort hängengeblieben. In gewisser Weise vergessen diese Männer ihr früheres Leben.«
»Aber das würde Jake nie wollen! Er wäre gar nicht dazu fähig! Das können Sie nicht begreifen – aber ich habe es Ihnen ja noch nicht gesagt, wie also sollten Sie es verstehen? Jake ist mein Zwillingsbruder, und ich kenne ihn besser, als unsere Mutter ihn gekannt hat! Das hat sie selber immer zugegeben. Und er ist für mich nun der wichtigste Mensch auf der Welt, weil unsere Eltern beide gestorben und wir als Einzige übriggeblieben sind. Nur wir beide!«
»Ach? Keine Vettern oder Cousinen, keine fürsorglichen Großeltern?«
»Keine.« Dies kam für Clara unerwartet. »Kein anderer Verwandter. Es gab immer nur uns vier – Mutter und Papa und Jake und mich.« Jessie sah sie an, das feuchte Handtuch immer noch an ihre Wange gepresst. »Das war das Sonderbare an unserer Familie.«
»Rätselhaft, allerdings. Das ist sehr ungewöhnlich.« Es war nicht nur ungewöhnlich; es war vielmehr fast unmöglich. Soweit sie wusste, gab es niemanden auf der Welt, der gar keine weiteren Verwandten hatte. Manchmal mochte der nächste Angehörige ein über zwei Ecken entfernt verwandter Vetter sein, aber es gab immer irgendeinen Blutsverwandten. Alle Menschen gehörten zu einer Art Familie, sei es eine Sippschaft oder ein Klan oder ein Geschlecht oder – ja, auch eine Armee. Das Sonderbare an unserer Familie hatte das Mädchen es genannt. Clara schloss daraus, dass man sich auf die eine oder andere Weise entfremdet hatte, dass verletzter Stolz die Betroffenen hinderte, den Zwist beizulegen. Bestimmt kein düsteres Geheimnis; wohl eher eine bittere Entzweiung.
Jessie legte das Handtuch sorgfältig zusammen. »Ich sollte nicht so viel reden«, sagte sie mit dem Anflug eines Lächelns. »Bei mir wird ständig aus einer Mücke ein Elefant, das sagte Mutter auch immer –« Wieder unterbrach sie sich, machte eine große Geste daraus, mit dem feuchten Tuch über ihr Gesicht zu streichen, sich die Wangen damit abzureiben. »Verzeihen Sie mir, Miss Barton. Ich muss Ihnen ja wie eine Heulsuse vorkommen. Aber ich war nicht immer so weinerlich veranlagt.«
»Sie brauchen mir kein Wort weiter zu erzählen. Sie brauchen gar nichts zu sagen. In ein paar Minuten wird Thomas mit etwas zu unserer Stärkung zurück sein. Sobald Sie erst ein Abendbrot zu sich genommen haben, werden Sie sich gleich erfrischt fühlen. Und vergessen Sie bitte nicht, dass wir hier in diesem Büro eine Menge Erfahrung darin besitzen, alle möglichen sonderbaren Geheimnisse zu lösen. Wir sollten zunächst einmal versuchen, den derzeitigen Aufenthaltsort Ihres Bruders in Erfahrung zu bringen.«
Clara bemühte sich, mit gleichmäßiger, beruhigender Stimme zu sprechen. Am besten besann man sich auf die eigentliche Aufgabe der Suchstelle, das Auffinden vermisster Soldaten. Von Kriegsgräbern sollte vorerst überhaupt keine Rede sein, auch nicht von Männern mit hohlen Augen, die wie verlorene Seelen ruhelos umherstreiften, oder dergleichen. Miss Snow war ein tapferes Mädchen, aber im Moment stand sie am Rande des Zusammenbruchs, und das wunderte einen ja auch nicht. Sie war so jung und bereits mutterseelenallein – noch dazu hatte sie sich geradewegs auf eine wenig hoffnungsvolle Suche begeben. Doch schon bald würden sie mehr über den Verbleib dieses Jacob Snow herausbekommen. Sie und Thomas hatten bereits so viele vermisste Männer gefunden – zu viele davon leider in den Massengräbern des Gefängnisses von Andersonville.
»Ich habe alle seine Briefe mitgebracht.« Jessie ging zu ihrer Reisetasche, suchte darin und förderte ein dickes, mit einer Schleife zusammengehaltenes Bündel zutage. »Ich habe mir das so vorgestellt, dass ich seinen Weg verfolge, die Orte, aus denen er geschrieben hat, und –«
In diesem Augenblick trat Thomas zur Tür herein, einen Krug mit Ale in der einen Hand und einen Korb in dem anderen Arm. Dem Korb entströmte der leckere Duft frisch gebackenen Brotes.
»Ich habe Brot und Käse und gebratenes Huhn.« Mit einem Schwung stellte er seine Last auf dem freigeräumten Tisch ab, wobei er Jessie einen verstohlenen Seitenblick zuwarf. Er ist ja ziemlich von ihr angetan, dachte Clara. Das überraschte sie ein wenig. Schon so manche Frau hatte diese Stufen betreten – es waren meistens die Ehefrauen vermisster Männer, die dieses Büro aufsuchten –, und nie zuvor hatte Thomas auch nur einen Blick für sie übriggehabt.
Natürlich bot dieses Mädchen trotz ihrer Erschöpfung einen hübschen Anblick. Unter ihren Augen mochten Schatten sein, aber dennoch lag ein Leuchten darin. Und obwohl sie so jung war, wusste sie sich durchzusetzen; das konnte Clara deutlich spüren. Nichts und niemand würde diese Miss Jessie Snow beirren können. Sie benahm sich genau so, wie die junge Clarissa Harlowe Barton hatte werden wollen, doch hatte ihr ihre lähmende Schüchternheit leider immer wieder einen Strich durch die Rechnung gemacht, eine unüberwindbare Mauer um sie herum gezogen. Obwohl sie schon lange kein junges Mädchen mehr war und von so vielen Menschen bewundert wurde, gab es manchmal Augenblicke, ganze Tage, Wochen sogar, während derer sie sich mit pochendem Herzen aus Angst vor irgendwelchen Dämonen in ihrem Zimmer verkroch. Dann brauchte sie manchmal eine halbe Stunde, um den Mut aufzubringen, auf die Straße hinauszutreten. Die wenigsten wussten davon, und wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte es auch nie jemand erfahren. Dies war einer der Gründe für sie gewesen, nicht zu heiraten. Dies war das Kreuz, das sie zu tragen hatte, und sie wollte es alleine tragen – ohne bemitleidet zu werden oder Verständnislosigkeit zu erregen. Es war ihr heute noch ein Rätsel, wie sie ihre Furcht und ihre Hemmungen überwunden hatte, um sich geradewegs in den Schmutz und die Scheußlichkeiten der Schlachtfelder und Lazarette zu begeben … aber sie konnte es einfach nicht ertragen, die Schreie von Männern zu hören, die man wie Hunde sterben ließ, ohne wenigstens den Versuch zu unternehmen, ihnen zu helfen. Und irgendwie war es ihr dann gelungen, Taten zu vollbringen, die sie sich nie zuvor zugetraut hatte – und das alles ohne eine Spur von Angst.
Das war also die berühmte Clara Barton. Sie und der Engel der Schlachtfelder waren ganz ähnlich gebaut, dachte Jessie – zierlich und mit einem etwas zu kleinen Busen. Und sie mochte es, wie Miss Barton eben nicht viele Worte und viel Aufhebens um sie machte, sondern in ihrer wohlmeinenden, aber bestimmten Art gleich auf den Punkt kam. Darin ähnelte sie sehr ihrer Mutter. Doch immer, wenn sie an ihre Mutter dachte, wurde Jessie mit einem Mal sehr traurig zumute. Als es mit ihr aufs Ende zuging, hatte Hattie Snow nur noch so dünn wie ein Blatt Pergament unter ihrer Bettdecke gelegen, dahingeschwunden zu einer blassen Erinnerung an den Menschen, der sie einmal gewesen war.
Zuletzt hatte sie nicht einmal mehr die Augen geöffnet, obwohl sie wusste, wen sie vor sich hatte, und sich auch noch genug an ihren Sohn Jacob erinnerte, um Fragen nach ihm zu stellen, etwa ob schon wieder ein Brief von ihm gekommen sei und wo er denn wäre. Jessie hatte ihre Mutter immerzu anlügen müssen, hatte sich eine ganze Korrespondenz zusammengesponnen und ihrer Mutter erzählt, Jacob befände sich mit seinen Kameraden zurück auf dem Weg nach Hause. Sie las ihr, gerade so, als hätte Jake es in einem seiner eigenen Briefe beschrieben, von der großen Parade in Washington City nach der Kapitulation von General Lee vor, wie das 77ste Freiwilligen-Infanterieregiment stolz mit wehender Flagge zwischen den anderen marschierte, doch in Wirklichkeit entnahm sie das alles der Zeitung und änderte nur hier und dort einen Ausdruck, damit es sich mehr nach den Worten ihres Bruders anhörte. Nie hätte sie ihrer Mutter sagen können, was die heimgekehrten Soldaten über Jake berichteten. Sie drückten es schonend aus, sprachen davon, er wäre ›verschwunden‹, aber Jessie wusste genau, was sie damit meinten, denn sie sahen ihr dabei nicht in die Augen. Sie hielten ihn für einen Deserteur. Und dann war im Postamt die Namensliste mit dem gefürchteten Wort darüber ausgehängt worden. Sie wollte dafür sorgen, dass sein Name eines Tages von diesem Makel befreit würde, und wenn sie ihr ganzes Leben darauf verwenden musste!
Erst, als Miss Bartons Assistent mit einem Krug und einem Korb beladen zurückkam, merkte sie, wie hungrig sie war. Sie wollte sich aus ihrem Sessel erheben, um ihm zu helfen, aber er gab ihr zu verstehen, sie solle sitzen bleiben – und errötete dabei. Er schien überhaupt leicht zu erröten, wie ein Mädchen. Aber auch Jacob war oft rot geworden, so, wie jeder hellhäutige Mensch sich damit abfinden musste, dass einem seine Gefühle im Gesicht abzulesen waren, ob man es nun wollte oder nicht. Doch was für eine sonderbare Reaktion war das seitens eines Wildfremden? Sie konnte ihn ja wohl kaum in Verlegenheit gebracht haben.
»Sie sollten sich mit ein wenig Brot und Bier stärken, Miss. Sie sehen mir ein wenig angeschlagen aus.« Er mied dabei nach Möglichkeit ihren Blick, und da durchfuhr es sie mit einem Mal, dass sie ihm gefiel. Sie – mit ihren staubbedeckten Kleidern und ihrem zerzausten Haar! Was für eine Albernheit! Doch dann fühlte sie die Hitze in ihren eigenen Wangen aufsteigen, der Fluch aller Rothaarigen. Verdammnis! So hatte ihr Vater immer geflucht, wenn ihm etwas gegen den Strich gegangen war.
Sie griff nach dem Brot und brach sich ein großes Stück ab. Sie war froh, sich irgendwie beschäftigen zu können. Miss Barton zog sich ihren Schreibtischstuhl an den Tisch heran und bereitete sich ebenfalls darauf vor, ihr Abendessen einzunehmen. Sie aßen schweigend; der junge Assistent bedachte sie mit keinem weiteren Blick. Sie hätte ebenso gut auch gar nicht da sein können.
Um die Situation zu entspannen, fragte sie ihn: »Ich wüsste gerne, ob Ihnen der Name meines Bruders irgendwo untergekommen ist. Jacob Snow, Sergeant. Er war zum Sergeanten befördert worden, als er aus Gettysburg zurückkam.«
»Gettysburg… das war eine bedeutende Schlacht.«
»Jake ist verwundet worden. Am Bein.«
»Oh je«, kommentierte Miss Barton. »Und dann?«
»Und dann …« Wollten sie wirklich die komplette Geschichte hören? Es schien so, also erzählte sie sie ihnen. Er hatte sich mit dem Chirurgen angelegt, der ihm das Bein amputieren wollte – und hatte den Arzt überzeugt.
»Wie hat er das denn geschafft?« Thomas schien plötzlich ganz Ohr.
»Unsere Mutter war ja auch eine Art Ärztin und hat uns viel beigebracht. Jacob wusste, dass Umschläge mit dem Brei von Kochbananen den Eiter aus seinem Bein herausziehen könnten und hat das dem Arzt gesagt. Und der Arzt hat auf ihn gehört und ihn gewähren lassen. Und das Bein ist wieder geheilt.« Sie hielt inne, als ihr plötzlich bewusst wurde, dass sie mit vollem Mund sprach und die anderen beiden sie eindringlich musterten. Eilig kaute sie den Bissen in ihrem Mund durch und schluckte ihn hinunter. Du bist nicht mehr in Mechanicville, mein liebes Mädchen, ermahnte sie sich. Du befindest dich jetzt in Washington City und achtest besser auf dein Benehmen. Sonst jagen sie dich hier gleich wieder vom Hof, nachdem du ihnen deine Geschichte erzählt hast.
»Er hatte also eine schlimme Beinverletzung und kam ohne Amputation davon. Meine Güte«, sagte Miss Barton und lächelte anerkennend. »Das ist aber höchst ungewöhnlich. Klingt, als wäre Ihr Bruder nicht auf den Kopf gefallen und verfüge über eine beträchtliche Überzeugungskraft. Er muss seinem Regiment Ehre gemacht haben.«
Zu ihrer Bestürzung brach Jessie schon wieder in Tränen aus. Wie peinlich! Sie vergrub das Gesicht in den Händen und wünschte sich, sie wäre wieder unten auf der Straße und säße nicht hier in Clara Bartons Büro, wo sie sich doch nur lächerlich machte. Sie merkte, dass es auch Thomas peinlich war. Vermutlich hoffte er ebenfalls, sie möge rasch wieder verschwinden. Aber das war ihr gleich. Wenn sie doch bloß nicht bei jeder Gelegenheit sofort hemmungslos zu flennen anfinge!
»Sicher gibt es in Ihrer Geschichte einen Punkt, auf den Sie noch nicht zu sprechen gekommen sind, Miss Snow. Möchten Sie nicht fortfahren?«, sagte Miss Barton in ruhigem, sachlichen Ton. Jessie sah sie zwischen ihren Fingern hindurch an. Miss Barton hatte ihre Hühnerkeule beiseitegelegt und saß mit gefalteten Händen da. Sie erinnerte Jessie an eine Lehrerin, die aufmerksam und geduldig darauf wartet, dass jemand seine gelernte Lektion vorträgt. Und sie sah aus, als schenke sie dem Geheule keinerlei Beachtung. Was für ein guter Mensch!
Jessie dachte zig Möglichkeiten durch, es in Worte zu fassen. Schließlich nahm sie die Hände vom Gesicht, wischte sich die Augen ab und sagte es geradeheraus: »Man behauptet, er wäre desertiert! Desertiert! Es hat sogar in der Zeitung gestanden, dass er ein Deserteur ist. Und es gibt auch einen Aushang im Postamt. Aber das glaube ich nicht, nicht eine Minute lang! Er konnte es kaum erwarten, in den Krieg zu ziehen, Miss Barton! Ich habe ihn immer wieder angefleht, nichts zu überstürzen; er war erst neunzehn und unsere Mutter bereits krank. Doch er musste unbedingt an dem Abenteuer teilhaben! Und wie stolz er war, als man ihn zum Bannerträger ernannt hat! Sie sollten seine Briefe lesen.« Sie löste die Schleife, mit der das Bündel zusammengehalten wurde. »Dann werden Sie selber sehen, dass nie im Leben ein Deserteur aus ihm hätte werden können!« Atemlos vor Erregung hielt sie inne.
Miss Barton sah sie verständnisvoll an, schürzte die Lippen und nickte. »Ja, ja, Deserteur ist ein übles Wort, und ich bin mir sicher, dass so mancher, dessen Name mit diesem Makel behaftet ist, ihn gar nicht verdient. Doch seien Sie unbesorgt – wir werden die Wahrheit ans Licht bringen. Allerdings müssen Sie, Jessie, sich auf alles gefasst machen, was auch immer dabei herauskommen möge.« Sie sah sie eindringlich an. Welch einen wundervoll standfesten Blick Miss Barton hatte; er gab einem das Gefühl, in den besten Händen zu sein. Mit einem Mal war Jessie sehr froh darüber, dass sie sich entschlossen hatte, hierherzukommen und diese Frau aufzusuchen.
»Ich fürchte mich nicht vor der Wahrheit.«
»Gut. Wir werden unser Bestes tun. Aber zunächst… Wie haben Sie uns eigentlich gefunden, Jessie?«
»Zufällig sprach jemand auf dem Markt über die Listen mit den Namen aller Toten und Vermissten, die eine Miss Clara Barton – also Sie – an alle Postämter verschickte. Auch Jake hatte Sie in seinen Briefen erwähnt, also habe ich mir gesagt, warum fährst du nicht zu ihr und bittest um ihre Hilfe? Ich sah ja auch keine andere Möglichkeit, meinen Bruder aufzuspüren. Da ich aber nicht wusste, wie ich nach Washington gelangen sollte, bin ich zu meiner früheren Lehrerin gegangen und habe sie gefragt, ob sie eine Landkarte hätte, die ich mir mal anschauen dürfe. Sie war sehr aufgebracht darüber, dass ich die ganze Strecke alleine reisen wollte, wo ich doch unterwegs vielleicht allen möglichen schlechten Menschen begegnen könnte. Doch ich vermochte einfach nicht zu Hause zu bleiben und mir anzuhören, wie die Leute sich über Jacob das Maul zerrissen! Also bin ich nun hier, todmüde, schmutzig und mit einem immer größer werdenden Loch in der Sohle eines meiner guten Stiefel… doch ich bin heil angekommen, wie Sie sehen.«
»Aber… wie haben Sie die Strecke bewältigt?«, wollte Thomas wissen. »Es ist ein ganzes Ende.«
»Zuerst hat mich eine Familie nach Albany mitgenommen, die dort Verwandte besuchen wollte. Dann habe ich den Dampfer nach New York bestiegen und bin von dort mit dem Zug nach Baltimore gefahren. Danach ging ich ein großes Stück zu Fuß. Schließlich durfte ich bei einer Negerfamilie – befreiten Sklaven, wie sie mir gesagt haben – auf dem Wagen mitreisen. Und endlich hat ein freundlicher Farmer namens Alonzo Bump, der unterwegs zum Markt in George Town war, mich das letzte Stück bis nach Washington City gebracht. Und er wusste auch, wo sich Ihr Büro befindet, Miss Barton, wusste sofort Bescheid, als ich ihm die Straße und die Hausnummer nannte. Er bezeichnete Sie als den Engel der Schlachtfelder und sagte, dass Sie, nun, da der Krieg vorüber sei… immer noch ein Engel wären.«
Miss Barton wurde rot, aber Jessie merkte, dass sie doch recht erfreut war, das Kompliment zu hören. »Wir tun nur, was wir können«, murmelte sie.
»Mr. Bump hat mir das Gebäude gezeigt, und da war auch schon das Schild, wie er gesagt hatte, und… nun… das ist meine Geschichte. Ich wusste, ich würde einen scheußlichen Anblick bieten, aber ich habe mir gedacht, es hilft nichts, Miss Barton muss mich eben so nehmen, wie ich bin.«
»So schlimm sehen Sie nun auch wieder nicht aus«, scherzte Miss Barton. »Niemand ist schreiend davongelaufen oder in Ohnmacht gefallen, oder?«
Jessie lachte höflich über ihre Bemerkung. Sie ist ein wohlerzogenes, angenehmes Mädchen, dachte Clara. Nun, da die Farbe in ihre Wangen zurückkehrte, konnte man auch sehen, wie hübsch sie eigentlich war – trotz ihrer Sommersprossen. Und sie war charmant.
»Was haben Sie jetzt vor, Miss Snow?«
»Jacob hat in jedem Brief penibel das Datum und seinen Aufenthaltsort vermerkt. Wenn ich eine richtige Landkarte hätte, könnte ich seine Spur verfolgen, sehen, wohin sein Regiment abkommandiert wurde und was für Orte sich in der Nähe befanden. Er hat oft geschrieben, dass sie durch Städte kamen, und ich weiß ja …« Sie zögerte, wurde selbst rot, und nahm den Satz dann wieder auf. »Ich weiß ja, wie Jacob ist. Er war ständig dabei, sich zu verlieben. Ein Mädchen brauchte ihn nur anzulächeln, und schon schrieb er ihr Gedichte, verzehrte sich nach ihr und sagte, er könne vor Liebeskummer nichts essen, keinen Bissen hinunterkriegen. Aber das durfte man nicht so ganz ernst nehmen«, fügte sie mit einem breiten Lächeln hinzu. »Im gleichen Moment, in dem er noch seufzte, die Liebe hätte ihm seinen Appetit geraubt, langte er schon nach einem Stück Brot, nach einer Scheibe Fleisch, nahm einen kleinen Schluck Bier und dann noch einen und noch einen… Aber das gehört ja wohl nicht zur Sache, oder? Dennoch gab es da ein ganz besonderes Mädchen, von dem er uns geschrieben hat. Allerdings war das am Anfang des Krieges, 1862, und ich weiß nicht, was aus ihr wurde, wobei ich auch bezweifle, dass sie die Einzige war. Er ist ein recht ansehnlicher Bursche.«
»Ein Herzensbrecher also, Ihr Bruder?« Die beiden Frauen blickten einander mit dem gleichen wissenden Lächeln an. »Ja, an unsere Liebschaften erinnern wir uns viel besser als an all das, was wir in der Schule gelernt haben. Oh ja, das weiß ich – wo ich doch selber Lehrerin gewesen bin!« Oh ja, das wusste sie. Aber um sie ging es hier nicht. Sie musste sich einfallen lassen, was sie heute Abend mit diesem jungen Mädchen anfangen sollte. Es war bereits dunkel, und wenn sie sich nicht irrte, hörte sie dort draußen Regen, der auf das Dach prasselte und immer heftiger wurde.
Sie gähnte. »Es ist spät, und ich bin sehr müde. Und es hat schon wieder zu regnen angefangen. Aprilschauer. Wir können nur auf viel Sonnenschein im Mai hoffen.«
Nun, da Miss Barton es erwähnt hatte, bemerkte auch Jessie die Tropfen, die auf das Blechdach trommelten und sich wie die Hufschläge hunderter Pferde anhörten. Es musste in Strömen gießen.
»Oh weh«, sagte sie. »Ich muss mir noch eine Übernachtungsmöglichkeit suchen.« Sie besaß fast kein Geld mehr, und zu verkaufen oder zu tauschen hatte sie auch nichts. Außerdem war sie so abgespannt, dass sie kaum einen klaren Gedanken fassen konnte.
»Nein, nein, Sie brauchen sich nicht den Kopf zu zerbrechen. Sie bleiben heute Nacht hier. In der Kammer haben wir Dutzende von Decken und Kissen. Thomas wird Ihnen ein paar davon hervorkramen. Ich habe auf dieser Etage mehrere Räume – ich wohne auch selber hier, müssen Sie wissen –, und hinter der Wand dort befindet sich mein Schlafzimmer. Sie und ich werden hier die Nacht verbringen, schön warm und gemütlich. Ich habe keine Lust, mir vorzustellen, wie Sie heute Abend bis auf die Haut durchnässt werden.«
Es war wirklich behaglich, nachdem sie die Decken übereinandergelegt, die Kissen aufgeschüttelt und Thomas, der in der Nähe in der Pension von Mrs. Curtis ein Zimmer bewohnte, eine gute Nacht gewünscht hatten. Miss Barton ließ eine Kerze brennen, die sie auf einen kleinen Tisch stellte, wo Jessie sie jederzeit leicht erreichen konnte. Dann wünschte sie auch ihr eine gute Nachtruhe, nahm eine Lampe mit und begab sich in ihr eigenes Bett. Jessie zog sich bis auf die Unterwäsche aus und schlüpfte unter die Decken. Wie schön es war, dachte sie, auf der Suche nach Jacob einen Schritt weitergekommen zu sein. Immerhin befand sie sich in Washington City, wo er sein Abenteuer mit den Freiwilligen des New York State begonnen hatte. Er war so aufgeregt gewesen und zufrieden mit sich selbst! Wie sie in diesem Augenblick. Was für ein Glück, Miss Barton gefunden zu haben.
Schon bald hatte sie sich unter ihrem Deckenstapel warm eingekuschelt, und wie sie nun behaglich an diesem fremden Ort lag und der Regen auf das Dach trommelte, dachte sie, dass es an der Zeit war, die Hände zu falten und ihrem Schöpfer dafür zu danken, dass er sie so gut behütete. Doch im nächsten Augenblick war sie schon fest eingeschlafen.
Neujahrsabend 1861
Meridian Hill, Washington City
Ich grüße Euch, meine Lieben, und wünsche Euch und allen, die ich in Mechanicville kenne, ein glückliches Neues Jahr.
Wir rasten nun seit über einer Woche in unserem Lager. Ich sollte nicht ›rasten‹ sagen, denn in der Army ist man der festen Überzeugung, rastende und ruhende Hände seien Werkzeuge des Teufels, so dass wir von morgens bis abends damit auf Trab gehalten werden, unsere Waffen zu putzen, Kessel zu flicken und uns hier und dort mit anderen Ausbesserungsarbeiten nützlich zu machen – von unseren übrigen Pflichten als Freiwillige des stolzen 77sten New Yorker Infanterieregiments mal ganz abgesehen. Alle naslang müssen wir Aufstellung nehmen, zur Überprüfung unserer Kleidung, zur Regimentsinspektion, zum Wachwechsel, als Drillübung, als Bataillonsdrill, zur Abendparade – es wird endlos exerziert, endlos paradiert. Aber ich will mich nicht beklagen; es ist kein entbehrungsreiches Leben, und wir sind alle guten Mutes. Wir sind Waffengefährten, Waffenbrüder sogar, einander beinahe verbundener als Blutsbrüder. Aber nicht so wie Zwillinge, Jessie, niemals. Lass mich dir die tägliche Routine in einem Armeelager schildern, das den Marschbefehl erwartet und in den Kampf ziehen will. Bei Sonnenaufgang wird das Wecksignal gegeben; reihum antworten die Trommeln einander, bis jeder wach und auf den Beinen ist. Unmittelbar danach erfolgt der Appell, und jedermann beeilt sich, seinen Platz in den Reihen einzunehmen, beim Namen aufgerufen und in den Listen abgehakt zu werden. Eine Stunde später rufen Pfeife und Trommel zum Frühstück, worauf wir alle zur Feldküche laufen, dort teilt man uns die Rationen aus. Um halb acht werden die Ärzte und die Kranken aufgerufen, sich beim Lazarettzelt zu versammeln, wo den Patienten der Puls gemessen wird und wir zur Inspektion die Zunge herausstrecken müssen. Anschließend werden Chinin und kleine blaue Pillen verteilt – nebst einem geringen Quantum Whiskey, um sie damit hinunterzuspülen, wenn man Glück hat. Das Aufsitzen auf die Pferde in Galauniform ist etwas, was man gesehen haben muss, und das Musikkorps spielt einen passenden Marsch dazu. Dann marschieren wir in Reih und Glied nach Dienstgraden geordnet zum Wachposten, wo nach viel Gebrüll und Hin und Her und dem Präsentieren der Gewehre die Nachtwache abgelöst wird und eine neue Wache ihren Platz einnimmt. Um neun ertönt die Musik zu einer Exerzierübung; diese dauert anderthalb Stunden. Um eins ruft ein Trompetensignal zum Mittagessen. Um drei findet ein einstündiger Bataillonsdrill statt, um vier wird die erste Abendparade abgehalten und um fünf als Höhepunkt des Tages ein weiterer Aufmarsch in Galauniform. Abendessen ist um sechs, Zapfenstreich um halb neun, und mit einem letzten Trommelwirbel verlöschen die Lichter.
Ich schätze, dass wir es nun halb acht Uhr haben; ich sitze in meinem Zelt, mein Bajonett ist in die Erde gesteckt; die Spange, mit der es am Gewehr befestigt wird, dient mir als Kerzenhalter. Mein Schreibpult ist eine Trommel; ein anderes habe ich nicht. Wie wir alle hoffe ich, wach zu bleiben, um das Jahr des Herrn 1862 begrüßen zu können; das Jahr, in dem wir sicher die Rebellen schlagen und sie in die Flucht treiben werden, heim in den Süden, wo sie hingehören. Ja, wir können es kaum erwarten, endlich etwas zu tun zu bekommen, dem Feind entgegenzumarschieren und uns ihm zur Schlacht zu stellen, aber es heißt, wir würden noch hier ausharren, bis das Wetter sich bessert. Im Moment regnet es in Strömen. Wenn das so bleibt, nehmen wir morgen in einem Fuß tiefen Morast Aufstellung.
Mutter, mach dir um mich keine Sorgen. Wir sind die bestversorgte und bestausgerüstete Armee aller Zeiten und fest entschlossen, diesen Krieg für Präsident Lincoln und alle Daheimgebliebenen zu gewinnen. Und das werden wir! Wenn du uns sehen könntest, wie wir uns hier auf dem Meridian Hill ausgebreitet haben, Tausende von Mann stark und unsere Zelte bunt wie exotische Winterblumen, würde es dein Herz beglücken. Ich erwarte mit Ungeduld Post von zuhause. Bitte versäumt nicht, mir bald zu schreiben; und damit bist auch Du gemeint, Schwesterchen. Ich möchte alles aus Mechanicville erfahren, Fragt Sally Randall noch nach mir?
Drei von den Jungs sind gerade zu meinem Zelt gekommen und haben mir zugeflüstert, dass wir mit einem Dutzend Kameraden das Neue Jahr im Zelt des Sergeanten begrüßen wollen, also muss ich nun schließen. Macht Euch keine Gedanken, Ihr beiden, wir werden uns schon nicht zu sehr bezechen, und falls doch, sind es nur ein paar Schritte bis zu unseren Betten! Möge das nächste Jahr uns den Sieg bringen – dessen bin ich mir ganz sicher – und damit alle möglichen Freuden. Gebt gut auf Euch acht und vergesst nicht Euren kleinen Soldaten, der oft an Euch denkt und darum betet, Euch bald wiederzusehen.
Euer Euch liebender Sohn und Bruder Jacob