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Die biblischen Plagen
ОглавлениеDer Kohanim’sche Haushalt hatte sich nach dem Tod des letzten Stammhalters in ein Tollhaus verwandelt. Das christliche Gesinde hielt teils verstört, teils sensationslüstern Maulaffen feil, während die Frauen der Beerdigungsgesellschaft ungerührt ihren Dienst an der Kinderleiche versahen. Die Mädchen, zwischen nervösem Gekicher und Angst vor väterlicher Strafe hin- und hergeworfen, sollten eigentlich oben in ihren Zimmern hocken und Bußgebete sprechen. Natürlich dachten sie nicht daran. Immer wieder schlichen sie neugierig über den Flur, um hinter dem Pfosten über die Balustrade des oberen Stockwerks zu spähen.
Was hier fehlt, ist die Würde, die der Tod verdient, auch wenn der Tote nur ein Säugling ist!, dachten die Bediensteten.
Mindel war weit und breit nicht zu sehen. Ihre Pflicht war erfüllt. »Tod ist Männersache!«
Wortlos drückte Samuel Kohanim jedem Klageweib ein Geldstück in die Hand. Hastig haschten die Frauen nach den Münzen und schlüpften linkisch dankend durch die Tür. Mit Trostworten und Segnungen verabschiedete sich die Beerdigungsgesellschaft und ließ Samuel mit seinem aufgebahrten toten Söhnchen zurück. Lange starrte er mit feuchten Augen auf den winzigen Leichnam mit den zu großen Tonscherben auf den kleinen Augen. »Mit den Kohanim ist es also aus!«, seufzte er, baute sich im Gebetsumhang vor dem Fenster auf und wippte unwillkürlich mit den Zehen. Zwangsläufig hielt er nun Rückschau auf die gewesenen Kohanim. Eigentlich hielt er den Kult des Erinnerns für eine dieser Krankheiten, die mit zunehmendem Alter auftraten und in immer heftigeren, längeren Schüben um sich griffen, bis man ganz in ihnen versank. Außerdem misstraute er Familienlegenden prinzipiell. Wie bei Stalagmiten und Stalaktiten in Tropfsteinhöhlen lagerte doch jede Generation nur die Sedimente ihrer Fantasien ab. Selbst wenn man bloß zwei Generationen zurückblätterte, war Wahrheit von Dichtung kaum mehr zu entflechten.
Wenn er an den Ahnvater aller Kohanim in Westpreußen, Baruch Kohanim, dachte und an dessen streitbare Schwester Zippora Orenstein, die den Überlieferungen zufolge allesamt Heilige gewesen sein sollten, so konnte er nur den Kopf schütteln. In Wahrheit war nicht die Frömmigkeit, sondern das Außenseitertum und die Rebellion gegen das Althergebrachte das Erbe der Kohanim. Und zum Ärger und Verdruss aller Heuchler lag immer Segen darauf.
»Vielleicht ist das das Geheimnis von Heiligkeit?«, philosophierte er vor sich hin. »Man erteilt sich selbst einen ehrenwerten Auftrag, setzt sich über alles hinweg und hat Erfolg damit.«
Sein Blick blieb am Gemälde hängen, das sich die Kohanim vor hundert Jahren von ihrem Ahnherrn Baruch anfertigen ließen. Ein reines Fantasieprodukt. Dort blickte ein ziemlich finster dreinschauender Baruch Kohanim unter einer schwarzgrauen Lockenmähne mit Samtkippa streng auf seine Nachkommen herab. Das Kinn ließ er dabei entschlossen auf der Brust ruhen, so dass sein halblanger Bart wie ein Biesendach seinen Hals bedeckte und in einem eigentümlichen Widerstreit mit einem Jabot aus weißer Seide stand. Seit jenen Tagen im 17. Jahrhundert war viel Wasser die Weichsel hinuntergeflossen. Tatsache war aber auch, dass seit längerem irgendein Übel am Stamm der Kohanim fraß. War es nicht schon schlimm genug, dass alle seine Söhne starben? Waren die Töchter, mit denen er geschlagen war, nicht ein noch viel größeres Unglück?
Hinter seinem Rücken nannte man seine Töchter im drei Kilometer entfernten Dorf Osche »die sieben biblischen Plagen«. Biblisch verstand man als jüdisch, zur Unterscheidung von den üblichen Plagen im Dorf: das jährliche Hochwasser, der Alkohol, die Rauflust der Jugend, der Aberglaube und, und, und.
Außer Fanny, der Ältesten, deren Gesicht die Masern durch eine halbseitige Lähmung entstellt hatten, so dass ihre linke Gesichtshälfte wie schlaffer Hefeteig herunterhing, war jede seiner Töchter ein Ungeheuer ganz eigener Art, fand er. Geistergläubige hätten jeden Eid geschworen, dass jemand eine Horde von Teufeln, Dibbukim, auf die Seelen seiner Töchter losgelassen hatte.
In Elli, seiner Drittältesten, schien ein gojischer Landsknecht zu wohnen. Anstatt zu laufen, rannte sie, sprang über jede Mauer, ja selbst vom Dach, und hatte heimlich im neben dem Gesindehaus vorbeifließenden Schwarzwasser das Schwimmen gelernt. Anstatt Monogramme in ihre Aussteuer zu sticken, wie andere jüdische Mädchen in ihrem Alter das taten, veranstaltete sie mit den übelsten polnischen Straßenjungen Faustkämpfe, dass die Fetzen flogen, wenn sie nicht gerade in skandalös wadenlangen Röcken Tennis spielte, die sie dann auch noch schürzte, oder gar noch skandalöser: auf Pferde ohne Damensattel stieg, um unzüchtig wie ein Mann mit dem Gaul zwischen den Schenkeln in vollem Galopp auf Flaschen und Tauben zu schießen. Einerseits hatte das zwar die segensreiche Wirkung, dass die polnischen und deutschen Kinder im Dorf aus Angst vor Elli die jüdischen Kinder nicht mehr mit Steinen, Moder und steinhaltigen Grasbüscheln bewarfen oder hänselten, doch Elli blieb ein wandelnder Skandal. Sicher, als Junge wäre sie ein Dorfheld, ein zwar ganz untypisch streitsüchtiger Jude, aber immerhin ein Kerl, der seinen Eltern Ehre machte. Doch wo fände sich ein seriöser Jude, der so ein Mannweib wie Elli einmal zur Frau nehmen würde?
Ein weiterer Seufzer galt Selma. Seine Zweitälteste, Selma, hatte schon mit sechzehn das doppelkinnige Gesicht ihrer Mutter mit engstehenden, unangenehm stechenden Augen und vereinigte den unerschütterlichen Starrsinn eines senilen Maulesels mit dem hitzigen Temperament und der bezwingenden Beredsamkeit eines Levantiners. Außerdem entwickelte sich seine zweitälteste Tochter zu einer Bildungssüchtigen, in der offenbar der Dibbuk eines Chassiden steckte, denn Selma pflegte aus jugendlichem Aufruhr gegen den Vater einen ausgeprägten ultraorthodoxen Fimmel.
In der ständig albern vor sich hinträllernden Jenny, seiner Zweitjüngsten, wohnte offenbar der Geist einer hirnlosen Soubrette. Aber konnte es unter all diesen Unglücksfällen ein noch größeres Unglück geben, als mit einer Tochter wie Martha geschlagen zu sein?
Martha, die drittjüngste der Schwestern, war hässlich, dumm wie ein Huhn, verlogen wie Münchhausen und dazu noch ständig krank. Mal waren’s die Nerven, dann ein Hautleiden, dann wieder Asthma. Allein schon ihre quäkende Stimme konnte ihn in Rage versetzen. Natürlich ließ er sich das nicht anmerken, denn er behandelte alle Töchter gleichermaßen teilnahmslos und hielt das für gerecht.
Mit einem weiteren Stoßgebet dachte er an Franziska, die »Mittlere«, genannt Fränze, die ihm eigentlich die liebste war. Noch eigentlicher war er aber davon überzeugt, dass seine schöne, kühle Franziska, die bedenken- und herzlos wie eine Nihilistin war, irgendwann konvertieren würde, oder Schlimmeres. Der war alles zuzutrauen.
Und Flora, seine Jüngste? Großer Gott, sie war ja schon jetzt so scheinheilig und falsch wie eine Katholikin!
Kurz: Mit Ausnahme der entstellten Fanny, fand er, waren alle seine Töchter vollkommen missraten, aufsässig und weder im Guten noch im Bösen zu lenken. Bei Söhnen hätte er diese oder jene Eigenschaften vielleicht noch als Charakter gelten lassen, doch bei Töchtern war Charakter dieser Art so entbehrlich wie ein Geschwür am Hintern und brachte nur Scherereien. Was machte die neue Zeit nur aus den Jüdinnen? Alles war in Auflösung geraten und schien auf ein unabwendbares Unheil zuzusteuern. Die Ironie des Schicksals wollte aber, dass ausgerechnet er, der immer den Optimismus des Fortschrittsgläubigen gepredigt hatte, jetzt immer ratloser wurde und sich vorkam wie der Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht mehr loswurde. »… und darum straft ihn Gott!«
Diese Verwünschung seines Erzfeindes Rabbi Streisand angesichts des Wegsterbens seiner Erben war das Letzte, woran er jetzt erinnert werden wollte. Andererseits konnte er sich nicht der Frage entziehen, seit wann sich das Verhängnis bei den Kohanim eingenistet hatte und in seinem Hause Unheil auf Unheil ausbrütete wie eine Schlange ihre Eier. Begann das eigentlich vor oder nach dem Schulkrieg?, fragte er sich nun halb abergläubisch und ärgerte sich dabei über sich selbst.
Dabei war es damals doch nur um die Einführung der allgemeinen Schulpflicht in Preußen gegangen, wie er fand, ein echter Fortschritt für alle, ob Juden, Nicht-Juden, Jungen und Mädchen. Entsprechend setzte er sich dafür ein, und alle Orthodoxen fielen prompt über ihn her. »Ein Jid gehört in die Talmudschule, den Cheder, um den Talmud, die Thora und die Schriften zu studieren. Was soll ein Jid von Ungläubigen lernen, außer ihren Unglauben, Schweinefleisch zu essen und Gotteslästerei? Das ist das Ende der Judenheit und somit das Ende der Welt!«, prophezeite sein Widersacher Rabbi Streisand, der oberste Chassid des Landkreises.
»Dieser aufgezwungenen Sünde kann ein gottesfürchtiges jüdisches Schulkind nur entgehen«, eiferte der Streisand nach Durchsetzung der Schulpflicht weiter, »wenn, wann immer in der Schule der Ungläubigen der Name des jüdischen Verräters Jesus Christus fällt, das jüdische Kind ausspuckt und dazu ein Vermaledeit-und-ausgemerzt-sei-Er! spricht!«
Es lag auf der Hand, dass den Schulkindern, die fromm und brav dem Gebot des Rabbi Streisand folgten, keine großen Schulerfolge, dafür jedoch umso mehr Schläge ihrer christlichen Mitschüler beschieden waren. Die Prügel war man gewohnt und ertrug sie stolz als Zeichen der Auserwähltheit vor Gott wie all die Generationen von Juden zuvor. Doch die Dummheit und deren ständige Begleiterin, die Armut, fürchteten die Juden im Landkreis noch mehr. Also schickte man die Kinder, ob es dem Rabbi gefiel oder nicht, in die öffentliche Schule. Dann hatte man auch keine Scherereien mit der preußischen Obrigkeit.
Das Vermaledeit-und-ausgemerzt-sei-Er! bei Nennung des Heilands dachten sich die jüdischen Schulkinder im Kreis Schwetz bald nur noch im Stillen, das Ausspucken wurde zu einem unverdächtigen »Tja!« oder zu einem verzischten »Tzh«, das dann auch immer seltener fiel, bis man es irgendwann ganz sein ließ und vergaß.
Eigentlich hatte Samuel Kohanim auf ganzer Linie gesiegt! Jedoch um den Preis, dass Rabbi Streisand den Kohanim nun noch mehr hasste. Samuel aber wollte ein Beispiel an wahrer Gottesgefälligkeit geben und Milde üben. Aus Zartgefühl gegen den unterlegenen Rivalen unterließ er sogar die üblichen Spitzen, für die er berüchtigt war. Damit nicht genug! Nach der nächsten Polemik seines Widersachers demonstrierte er Großmut: Den notleidenden Chassiden spendete er »ein ordentliches Gehalt« für ihren Rabbiner. Dafür hasste der Streisand ihn nur noch mehr, und um zu demonstrieren, dass seine religiösen Überzeugungen so schon gar nicht käuflich waren, hetzte der Rabbi umso heftiger gegen den Kohanim, ja drohte sogar mit dem Bannfluch. Doch genau an diesem Punkt riss Samuel der Geduldsfaden. Ab sofort stellte er seine mildtätigen Zahlungen an die armen chassidischen Brüder ein: »Ja, bin ich ein Schmock, lass mich beleidigen und zahl noch dafür? Soll der Kerl doch zusehen, wer ihn bezahlt!«
… und dafür straft ihn Gott!? Nebbich!
Sein Gott war weise und großherzig und kein kleinlicher Buchhalter, der den Menschen mit engherziger Eifersucht und der Grämlichkeit alter Männer zusetzte. Als er nun zu dem kleinen Bündel hinüberschaute, in das er bis vor kurzem all seine Hoffnungen gesetzt hatte, wusste er, dass ihm mit dem letzten Sohn nun auch der letzte Rest seines Glaubens abhandengekommen war. Gott hatte den Kohanim die Gnade entzogen. Wozu hatte er die Sägemühle vom Grafen gekauft, wenn da niemand wäre, der sein Werk fortsetzen würde? Ein weiteres Mal hatte der Kohanim der polnischen Grafenfamilie seine Verbundenheit bewiesen. An den Solkowskys, aber auch an sich hatte er ein gutes Werk getan, als er seinem ehemaligen Dienstherrn noch einmal aus den drückendsten Schulden heraushalf, indem er ihm das Sägewerk zu einem überhöhten Preis abgekauft hatte. Ein letztes Mal. Es war ein Jammer. All das, was Generationen von polnischen Bauern erschuftet und Generationen von Kohanim für die gräflichen Solkowskys als Verwalter erwirtschaftet hatten, verspielten diese Landherren in Baden-Baden in wenigen Nächten. Die gräfliche Kartoffelschnapsbrennerei, die unter den Hammer zu kommen drohte, wollte Samuel dem Solkowsky allerdings nicht abkaufen. Er riet auch allen anderen Juden dringend davon ab. »Soll es wieder heißen, dass die Juden die Bauern zum Trinken verführen, um sie in den Ruin zu treiben?« Alles, was die Neigung zu Pogromen förderte, hatte tunlichst zu unterbleiben. Am Frieden muss man unablässig arbeiten wie in einem Weinberg, das war seine feste Überzeugung. Viele Juden meinten allerdings, dass richtige Pogrome in Preußen inzwischen völlig undenkbar wären. »Man hat schon Pferde vor Apotheken kotzen sehen!«, warnte Samuel diese eingefleischten Optimisten. »Ein Jude ohne Wachsamkeit ist ein toter Jude!« Die letzten Übergriffe gegen Juden vor ein paar Jahren in Preußen waren ihm Warnung genug gewesen. »Nein, diese Deutschen haben harte Herzen, in denen steckt ein kalter Hass, der mit trügerischem Biedersinn Frieden verspricht.« Er jedenfalls ließ sich davon nicht täuschen!
Da waren ihm die Polen schon lieber. Anders als die Pogrome in Russland, die neben Raub Mord und Totschlag bedeuteten, glichen die Ausbrüche der Polen gegen die Juden seinem Empfinden nach eher den Tobsuchtsanfällen eines geplagten Ehemannes, der in regelmäßigen Abständen sein Weib durchprügelt, wenn er ausreichend unglücklich ist und genug Schwarzgebrannten intus hat. Danach tat’s ihm dann leid, und man war sich wieder gut. Für eine Weile. So war es hier doch immer! Damit kannte man sich aus. Samuel Kohanim traute ja noch nicht einmal dem russischen Deutschen von nebenan, den er für die Schnapsbrennerei nach Osche geholt hatte. »Der Kerl hat das Gemüt eines Krokodils«, lästerte er im vertrauten Kreis über seinen neuen Nachbarn, den Zucker- und Schnapsbaron von Steinfeld. Über Izrael Poznansky, den größten Tuchfabrikanten in Lodz, einen frommen Juden, der selbst in seinen Tuchwebereien Gebetsräume für seine jüdischen Fabrikarbeiter einrichten ließ, hatte Samuel seinerzeit erfahren, dass ein gewisser Baron von Steinfeld an einer Schnapsbrennerei und ähnlichen Unternehmen »weiter westlich« interessiert war. Er wollte dringend vom russisch-polnischen Lodz ins Preußische wechseln. Obwohl die von Steinfelds vom Zaren geadelte deutsch-russische Kaufleute waren und märchenhafte Liegenschaften in Russland besitzen sollten, hielten sie es seit längerem für opportun, sich weiter westlich zu etablieren, angeblich des milderen Klimas wegen.
Es musste so um die Weihnachtszeit gewesen sein, als der Kohanim dem alten Solkowsky den Handel vorschlug, denn in der Schlosshalle stand noch die große Weihnachtstanne, die die Grafen wie immer patriotisch mit weiß-roten Seidenpapierfähnchen geschmückt hatten, »solange Polen in Knechtschaft lebt«.
»Kaufadel!«, höhnte Graf Solkowsky über den »von« Steinfeld. Wahrer Adel zählte für ihn erst von sieben edlen Ahnen abwärts. Mindestens! Dass man das Adelspatent mal vom polnischen König, mal vom russischen Zaren und nach 1806 vom preußischen König gegen das Versprechen von Treue und Wohlverhalten erwarb, war der Lauf der Welt. Doch keine Kreatur unter der Sonne schien dem alten Grafen Zygmund Solkowsky so verächtlich wie ein snobistischer Emporkömmling, der sich einen Titel kauft und zu diesem Zweck sogar noch seinen Glauben verleugnet, als Protestant zum russisch-orthodoxen Glauben konvertiert und dann wieder retour, wie es so passt. »Ehrloses deutsches Pack, ohne Mut, Charakter und Rückgrat, jedem zu Diensten, der es einschüchtert oder mit der Wurst winkt!«
Darum glaubte der polnische Graf auch keinen Moment daran, dass die sogenannten »von« Steinfelds nur wegen der milderen Winter nach Westpreußen kamen. Nein, »der Sogenannte«, wie die Solkowskys den deutsch-russischen Kaufbaron tauften, wollte seine Schäfchen ins Trockne bringen. »In Russland wird es bald drunter und drüber gehen«, verriet er Samuel, der im Geiste gleich wieder Zehntausende von Juden auf der Flucht nach Preußen sah und sich und die alteingesessenen Juden deshalb in zunehmenden Schwierigkeiten. Amüsiert weidete sich der polnische Graf am Schrecken »seines Juden«. Der Kohanim war zwar schon lange nicht mehr der gräfliche Verwalter, aber geleitet von dumpfer, generationenlanger Gewohnheit nahm er bisweilen die demütige Haltung eines Bediensteten an, wenngleich der Solkowsky schon längst vom Kohanim abhing und nicht umgekehrt. Graf Zygmund Solkowsky forderte vom »Sogenannten« einen grotesk hohen Preis für seine Schnapsbrennerei, den der geadelte Deutschrusse zur Überraschung aller, ohne mit der Wimper zu zucken, zahlte. Drei Wochen später kaufte der Schnapsbaron zu ähnlich wahnwitzigen Konditionen die gräfliche Zuckerraffinerie sowie das kleine Landanwesen der Solkowskys bei Laskowitz dazu.
Keine zwei Kilometer vom Vorwerk Sauermühle der Kohanim zog »der Sogenannte« mit seiner Familie ein. So wurden die Kohanim und die von Steinfelds Nachbarn, die sich höflich ignorierten und einander in der Öffentlichkeit nur mit den Augen grüßten, wenn es unerlässlich war.
Nach dieser Transaktion konnten die polnischen Grafen die Kugeln in den Kasinos wieder eine Weile flott rollen lassen und ihre falschen französischen Mätressen mit echten Juwelen behängen.
Seitdem arbeiteten die Leute im Kreis entweder für den »deutschen Zuckerzaren« oder für den »Holzjuden« im Sägewerk und in der angeschlossenen Möbelfabrik, die Samuel Kohanim mit seinem Cousin Zacharias Segall seit der Geburt des Kronprinzen betrieb.
Samuel hatte damals den Plan, seinem Sohn ein Königreich aus Brettern, Tischen, Stühlen und massiven Eichenschränken zu errichten. Er hatte sogar daran gedacht, sich an der modernen Papiermühle seines erfolgreichen Schwippschwagers Artur Bukofzker in Schwetz zu beteiligen und damit an der Herstellung von Zeitungspapier für das nahe Danzig, Bromberg, Breslau, Berlin … zumal man direkt an der Weichsel und an der Bahnlinie Berlin–Königsberg lag. Welche Möglichkeiten!
Nun waren ihm jedoch alle Projekte gleichgültig geworden. »Alles Streben und Trachten ist eitel!« Stöhnend streifte er den Gebetsumhang und Gebetsriemen ab, zerriss sich zum Zeichen der Trauer das Hemd und ging schweren Schritts im Zimmer auf und ab, bis er vor der Bücherwand des düsteren Herrenzimmers stehen blieb. Das Buch Hiob! Mit dem goldenen Kneifer auf der Nase begann er zu lesen. Weil er sich aber nicht konzentrieren konnte, stellte er das Buch kurz darauf an seinen Platz zurück. Hiob! »Man hat zumindest die Pflicht, das Leben zu leben, das Gott einem bereitet hat.«
So versuchte er sich wieder in den Zustand des frommen Wohlgefühls der Geborgenheit im Glauben zu versetzen, doch es gelang ihm nicht mehr. In seinem Herzen verspürte er eine Leere, die sogar noch schwerer wog als die Trauer um seinen Sohn. Sein Gott versagte ihm nun die Gnade und den Segen. Deshalb trauerte er doppelt und beneidete fast seinen Erzfeind Streisand. Der kannte den Zweifel nicht. Seine enge Welt schien immer in Ordnung.