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Der gute Ort und der Zwölffingerige

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Die Beerdigung des kleinen Toten fand kurz vor Sonnenuntergang statt, als die Erde wieder hart gefroren war und der Abendhimmel im Osten schon kobaltblau leuchtete. Die Trauergemeinde, die Nachbarn und alle Verwandten der Kohanim, die aus Zempelburg, Tuchel, Lianno, Bukowitz Krupoczin, Wiersch und Jeschewo, teils mit dem Zug bis Laskowitz, teils auf Pferdewagen und mit Kutschen, hastig angereist waren, stolperten in der Abenddämmerung über den jüdischen Friedhof von Schwetz bis zur Familiengrabstätte der Kohanim, die auf dem Ehrenteil des Friedhofes lag. Und weil bei gläubigen Juden in Schwetz nicht nur der Tod, sondern auch die Beerdigung Männersache war, trauerten die Frauen für sich daheim, barfuß auf dem Boden kauernd, mit Asche auf dem Haupt.

Die auf dem »Guten Ort«, dem jüdischen Friedhof, versammelten Männer trugen Gebetsumhänge, pomadisierte kohlschwarze Bärte nach Kaiserart, auf dem Kopf modische schwarze Homburger, meist aber feierlich glänzende Zylinder. Im letzten rötlichen Dämmerlicht über der Weichsel, das man westlich von der Anhöhe des Friedhofs noch sah, umringten sie in stummen Gebeten, mit und ohne Gebetsschal, das steingefasste Kindergrab.

Samuel trug den Gebetsumhang und sprach das Kaddisch für seinen Kronprinzen:

»Erhoben und geheiligt werde Sein großer Name in der Welt, die neu geschaffen werden soll, wo Er die Toten zurückrufen und ihnen ewiges Leben geben wird, die Stadt Jerusalem aufbauen und Seinen Tempel in ihre Mitte setzen wird und allen fremden Götzendienst von der Erde ausrotten und die Verehrung des wahren Gottes einsetzen wird.

Oh, möge der Heilige, gelobt sei Sein Name, Sein Reich und Seinen Ruhm erstehen lassen in euren Tagen und dem Leben des ganzen Hauses Israel schnell und in naher Zeit, so sprechet: Amen!«

Die Gedanken der Männer konnte man in der nachtblauen Luft fast lesen: Der würde nun keinen Sohn mehr haben, der ihm am Grabe einmal das Kaddisch sprechen könnte.

Der Kohanim tat ihnen leid. Aus diesem Grunde waren sie auch so zahlreich erschienen. Und wer kein Mitleid hatte, wollte wenigstens sehen, wie der Mann sich angesichts des Untergangs seines Geschlechts hielt.

Bald nach der Beerdigung des kleinen Benjamin ging das Leben seinen gewohnten Gang. Die sieben Töchter entfalteten wieder ungestört ihre Tyrannei über Haus und Hof. Dabei wurden sie mehr schlecht als recht von einer spindeldürren Gouvernante aus dem Hannoverischen in Schach gehalten. Madame Bertha hatte eine kapitale Nase und war gegen Kost und Logis dazu angestellt, den Mädchen dialektfreies Deutsch, Französisch und Benimmse beizubringen. Als einziges, für alle Zeiten fortlebendes Erziehungsresultat der Madame überdauerte nur das Wort »merde«. Dieses Wort entfuhr der Überlieferung nach dem General Cambronne angesichts der verlorenen Schlacht von Waterloo. Für nachgeborene höhere Töchter im französischen Sprachraum wurde es später als »Le mot de Cambronne« so benutzbar wie der Götz von Berlichingen für den deutschen Kleinbürger. Doch das Mot de Cambronne blieb wegen seiner schillernden Vornehmheit bei den Kohanim vom Götz unerreicht und diente deshalb drei weiteren Generationen zum zierlichen Fluchen. In der Kurzform: »Le mot!«, oder einfach »Cambronne!«

Als man Madame Bertha eines Morgens aus dem Kanal zum Sägewerk fischte, dachten alle, dass sie aus Verzweiflung über ihre Erziehungsaufgabe ins Wasser gegangen wäre. Ein Opfer der sieben biblischen Plagen!

Die Obduktion ergab jedoch ein eher klassisches Motiv. Die Madame war gesegneten Leibes. Wer sie in diese Umstände gebracht hatte, darüber machte sich im Landkreis jeder seine eigenen Gedanken.

Nachdem Madame Bertha ins Jenseits entschwunden war, hatte man den Eindruck, dass Mindel Kohanim ihr Leben auf Erden nur noch simulierte. Wie ein Gespenst mit nur zeitweiligem irdischem Aufenthalt huschte sie durchs Haus. Doch aller Abkehr von der Welt zum Trotz hielt sie ein Auge wie aus wachsamem Stahl auf die Verteidigung des Familienbesitzes gegen alle Dienstboten und Angestellten, die »angeborenen Feinde der Familie«, gerichtet.

An ihren ausgemergelten Hüften klirrten drei riesige Schlüsselbunde von Vorratskammern, Kellern, Schränken und Laden. Jede Serviette, jeder Teelöffel, jedes Brikett, selbst jeder leere Sack, jede Flasche war abgezählt und notiert. Man spottete sogar, dass Mindel jede Erbse, Bohne und sogar jedes Reiskorn zählen würde, denn seit dem Tod des Erben hatte sich Mindels Sparsamkeit ins Wahnhafte gesteigert.

Hätten mein Urgroßvater und meine Großmutter und Großtanten nicht lautstark dagegen protestiert, abends in klammen Räumen bei einer heruntergedrehten, funzelnden Petroleumlampe zu sitzen, während Samuel Kohanim wie üblich der Familie aus der Zeitung und ausgewählten Büchern vorlas, wäre Mindel sicher aus Geiz irgendwann in totaler Finsternis verhungert oder erfroren. Selbst wenn die Sabbatkerzen in der Menora entzündet waren und die Familie eigentlich feierlich und guter Dinge bei Tisch sein sollte, warnte Mindel ständig vor den Gefahren der Verschwendung und Völlerei. »Du wirst dir noch den Magen verderben«, unkte sie, wenn jemand nochmals zugriff. »Mit vollem Magen ist schlecht ruhen«, warnte sie oder: »Völlerei ist eine Todsünde, nicht nur bei den Katholiken!«

Bald hatte sich die Familie auch an diesen Tick gewöhnt wie an eine unvermeidbare Naturerscheinung. Man übersah und überhörte es einfach. Lediglich wenn Gäste da waren, nagelte man sie mit Blicken fest. Oft saß Oda mit am Tisch, weil Samuel es so angeordnet hatte. Die Stieftochter des Zuckerbarons hatte stets den Appetit einer zehnköpfigen Hydra, die Beute auf Vorrat machte. Nach Samuels Meinung sollten sich die »kiesetigen« Großtanten und meine Großmutter an Odas gesundem Appetit ein Beispiel nehmen. Mindel blickte dann den ganzen Abend gekränkt drein, als würde man sie bestehlen. Dabei bestand überhaupt keine Notwendigkeit zum Sparen, im Gegenteil. Die Geschäfte der Kohanim gingen glänzend. Und fast schien es sogar, dass sie umso glänzender gingen, je weniger Interesse mein Urgroßvater daran zeigte, je sinnloser ihm jeder Erwerb schien und je leerer er sich selbst fühlte. Während Mindel ihren Schmerz mit absurdem Geiz und sinnlosem Knausern betäubte, zerstreute sich ihr Gatte mit Wohltätigkeit.

Und dabei ging es ihm nicht um abstrakte Wohltaten wie Spenden oder mildtätige Vereine, die die Not der Juden im Kreis Tuchel und Zempelburg lindern halfen. Samuel war immer am konkreten Fall interessiert: An Ruth Lewinski etwa, eine stattliche rothaarige Witwe mit sechs kleinen Kindern. Ruth Lewinski ließ er eine kleine Rente aussetzen und erkundigte sich regelmäßig nach dem Gedeih und den schulischen Fortschritten der Kinder. Diese ungewöhnliche Anteilnahme am Schicksal der schönen Witwe und ihrer Nachkommenschaft fanden die Klatschbasen der Gegend befremdlich genug, um sich die Mäuler darüber zu zerreißen. Nachdem selbst der Apotheker im entfernten Zempelburg anzügliche Anspielungen machte, wurde der wohltätige Verkehr nur noch schriftlich – oder nach Einbruch der Dunkelheit vollzogen, wie andere meinten, die Samuel Kohanim auch in Verbindung mit Madame Berthas Unglück bringen wollten.

Meist ging es bei Samuel Kohanims Drang zur Mildtätigkeit aber nur um Max. Max, der eigentlich Maxim Gulkowitsch hieß, war der Sohn russischer Juden aus dem Dorf Wiersch. Als der Junge sieben Jahre alt war, bekam er Kinderlähmung und hinkte seitdem stark. Außerdem hatte er von Geburt an jeder Hand sechs Finger. Für Abergläubige war ein Sechs- oder Zwölffingeriger ohne Frage ein vom Teufel Gezeichneter. Weil er und die Seinen aus diesem Grunde jederzeit damit rechnen konnten, dass irgendwer ihnen das Haus anzünden würde, um den Teufel auszutreiben, musste Max schleunigst das Dorf und seine Familie verlassen. Aus dem Makel der Zwölffingerigkeit wusste Max jedoch Kapital zu schlagen. Anstatt sich aber auf Jahrmärkten herumzeigen zu lassen, zog es ihn aufgrund der Überlegenheit von zwölf Fingern zur Musik. Max wollte Pianist werden. Dazu fehlte ihm nur ein Piano. Im Dorfgasthaus wurde er fündig und drosch auf das Pianoforte des »Schwarzen Ochsen« ein, bis ihn der Wirt hinauswarf, zumal er partout keine Polkas, Märsche und Walzer spielen wollte. Die an Besessenheit grenzende Leidenschaft, mit der Max immer wieder irgendwo Partituren aufstöberte, auf Packpapier und Tapetenrollen abschrieb oder fotografisch im Gedächtnis speicherte, dann ein Klavier aufspürte und dieses mit der Hemmungslosigkeit eines Psychopathen traktierte, um dann unter Einsatz aller Pedale komplette Konzerte aus dem Kopf herunterzuhämmern, machte auf Samuel tiefen Eindruck. Eines Tages ließ er Max auf seinen Landauer steigen und sich beim alten Grafen Zygmund ansagen.

»Er ist ein Genie«, erklärte Samuel dem verblüfften Grafen Zygmund, der sich gerade mit Gästen aus Warschau zum Kartenspiel niedersetzen wollte. Im Schloss stünde doch ein Konzertflügel, ein echter französischer Érard-Flügel, den niemand bespiele, stellte er fest.

»Där ist schon seit Ääääwigkeiten verstimmt«, warnte die Gräfin Valeska muffig.

»Ein solches Instrument kann doch heutzutage ohnehin keiner mehr reparieren«, erläuterte ihr gräflicher Gatte. »Da müsste man schon nach einem Spezialisten aus Paris schicken.«

»Brahms spielte auf so einem Érard«, flüsterte Max begeistert, als er davon erfuhr. Er bat und bettelte, dass man alles für den Erhalt dieses wertvollen Instruments tun müsse, bis auch Samuel der Gedanke gefiel.

Einen neuen Vorstoß ihres Juden wollte Pani Valeska sogleich im Keim ersticken. Der Kohanim war ihr unheimlich, und sie war entschlossen, »den Kerl in seine Schranken zu weisen«. Wenn der Graf den Jungen auf dem Flügel spielen lasse, würde er, Samuel Kohanim, den Flügel auf seine Kosten stimmen lassen, für einen guten Lehrer sorgen und auch für dessen Kost und Logis aufkommen. »Man könnte gelegentlich kleine Soireen und Musikabende im Schloss veranstalten«, lockte er. Zygmund Solkowsky konnte dem Kohanim nichts abschlagen. Außerdem bot sich so eine billige Gelegenheit, mit seiner »Grandeur de Cœur« und als Förderer der schönen Künste zu glänzen. Die Idee gefiel ihm umso mehr, zumal sie ihn nichts kosten sollte. Man ließ das Wunderkind nach langem Hin und Her dann zum Schloss bringen.

Max war ein unansehnlicher, dicklicher Bursche von mittlerweile elf bis zwölf Jahren, dem die schwarzen Haare wie Borsten wild vom Kopf abstanden. Darunter wölbte sich ein Gesicht voller Pickel, in dem ein mürrischer, wulstiger Mund hing wie eine Wurst auf einem Reibekuchen. Kurzsichtig kniff Max seine schwarzen Knopfaugen zusammen und schaute mit der milden Verachtung des Berufenen auf seine potentiellen Wohltäter herab wie auf ein paar nützliche Lurche.

Der Graf war entzückt und entsetzt zugleich: »Na, seht euch den an!«, krähte er. »Welch ein Exemplar! Ha, ha, ha! Und der hat Talent, sagen Sie?« Dabei kneistete er durch sein Monokel in Richtung Max wie auf ein interessantes unbekanntes Tier.

»Dobje! Na, was will er uns denn spielen?«

»Chopin! Klavierkonzert Nummer eins!«, versetzte Max hochmütig, das belustigte Auflachen seines Publikums überhörend hinkte er hinüber zum Flügel, klappte den Deckel hoch, setzte sich umständlich, spreizte dann feierlich die Hände mit den zwölf Fingern, die er für eine Weile wie ein Magier bewegungslos in die Luft hielt, und hieb dann wuchtig in die Tasten.

Der Graf und seine Gäste fuhren vor Schreck zusammen. Die Gräfin bekreuzigte sich. Der Flügel klang wie ein Haufen Glasscherben, die in einer alten Zinkwanne schepperten. Nur vergaß man das sogleich, denn Max transponierte das komplette Konzert völlig frei in eine erträglichere, weniger verstimmt klingende Tonlage. Eine spontane Abstraktionsleistung, die Samuel erst in Begeisterung und dann in andächtiges Staunen versetzte. Ein wahres Genie!

Maxims Spiel war mal heiter, mal filigran und leicht wie ein Feenzauber, dann wieder hämmernd und dramatisch, ein wütender Strudel aus Tönen. Die Anwesenden lauschten ergriffen, denn die Glasscherben in der Zinkwanne schepperten nur noch ganz selten.

Das Gehörte war selbst ungeübten Ohren tatsächlich von anderer Art als das übliche Klavierspiel höherer Töchter. Kein eifriges Geklimper wurde hier verschämt mit zittrig-bleichen Schweißfingern zum Besten gegeben. Hier entlud sich eine Naturgewalt, die trotz vereinzelter Misstöne und verstimmt flirrender Sphärenklänge die Zuhörer gegen ihren Willen in Bann schlug oder doch zumindest erstarren ließ. Als der letzte Ton verklungen war, knallte Max den Deckel des Flügels laut zu, sprang auf, und ohne auf Beifall zu achten, eilte er hinaus. Graf Zygmund war »très enthusiasmé«. Der Gräfin stand immer noch der Mund vor Schreck oder Staunen offen. Offenbar war sie unschlüssig, wie sie dem Phänomen begegnen sollte. Dunkel ahnte sie wohl, dass jeder Widerstand gegen dieses ruppige Wunderkind zwecklos wäre. Sie entschloss sich zu einem säuerlichen Lächeln.

Max sollte, wann immer er wollte, im Schloss spielen, und er durfte den Grafen ab sofort zu seinen Förderern zählen. Also ließ man »das Genie« wieder in den Salon rufen, um ihm die gute Nachricht persönlich mitzuteilen. Max lächelte fad. Mit demselben Gleichmut, mit der Juden über Jahrhunderte Missetaten über sich ergehen ließen, nahm Max nun diese gojische Wohltat hin. Nur mit der Aussicht auf einen exklusiv bespielbaren Érard-Flügel und um seinen Wohltäter, den Kohanim, nicht zu brüskieren, dankte er brav der Herrschaft, wie man jemandem dankt, der lediglich seiner Pflicht und Schuldigkeit vor Gott nachkommt, also einer reinen Selbstverständlichkeit. Eigentlich nicht der Rede wert.

Bald nahmen auch die sieben biblischen Plagen Anteil an den musikalischen Fortschritten des zwölffingerigen Jungen, der es wagte, sie, die sieben Prinzessinnen, noch nicht einmal zu grüßen.

»Wer denkta denn, dassa is’?«, regte sich Fränze auf und stemmte aufgebracht die Fäuste in die Hüften. Er litte am Stimmbruch, ließ Max sich entschuldigen, und schließlich hätten die Schwestern im ganzen Kreis einen gewissen Ruf.

Für den gewissen Ruf passte Elli Max am Fliedergebüsch ab und gab ihm so lange Kopfnüsse, bis er schwor, fortan nur noch das Gegenteil zu behaupten. Es dauerte nicht lange, und Jenny und Franziska lagen dem Vater in den Ohren, dass auch sie das Klavierspiel lernen wollten, »wie ganz richtige Damen«.

Ein hochglänzendes schwarzes Klavier mit golden schimmernden Messingleuchtern wurde von vier Klavierpackern, stark wie Ackergäule, mit breiten Ledergurten den Hügel hinauf, hoch ins Haus und umständlich in den Salon gehievt. Nur konnte man Mindel schwer davon überzeugen, dass es nicht das Geringste zu sparen oder zu schonen gäbe, wenn sie das gute neue Klavier unter Verschluss hielte. Die Mädchen fanden das Klavier trotzdem immer wieder verschlossen vor und mussten jedes Mal betteln und erklären, warum sie gerade jetzt spielen müssten. Irgendwann hatte Fränze den rettenden Einfall.

»Na, das wolln wa doch ma’ sehn!« Sie steckte den Schlüssel ins Schlüsselloch, schloss das Klavier auf und klappte feierlich den Deckel hoch. Das Piano grinste ihr mit seinen schwarz-weißen Zähnen breit entgegen. Beherzt ergriff Fränze nun den Nussknacker aus der böhmischen Kristallschale auf dem Piano, legte den Schlüsselkopf in den Nussknacker wie in eine Zange und drehte ihn mit einem kräftigen Ruck herum. »Knack!« Der Bart war abgebrochen. Fortan hatten sie freie Bahn. Die Anschaffung des Pianofortes fiel zwar in Samuel Kohanims Zuständigkeit, der begehrte Klavierunterricht für die Mädchen war nach den ungeschriebenen Gesetzen der Kohanim’schen Gewaltenteilung jedoch Mindels Angelegenheit.

Geld für einen Klavierlehrer fand Mindel pure Verschwendung. Fränze und Jenny wollten sich auf diese Art und Weise nur vor der Hausarbeit drücken. Damit hatte sie natürlich recht. Wenn es aber nun schon der Wunsch ihres Mannes war, dann sollte Maxim Gulkowitsch für seinen Wohltäter arbeiten, indem er Fränze und Jenny umsonst Stunden gäbe. Und weil sie im Haus das Sagen hatte, wurde es so gemacht. Jenny war darüber todunglücklich. Im Gegensatz zu ihrer Schwester Fränze war es ihr ernst mit der Musik. Fränze fand Klavierspielen einen lustigeren Zeitvertreib, als Hohlsäume zu häkeln, und einen fast gleichaltrigen Jungen als Lehrer entschieden amüsanter als einen grauen Mann, der nach Alter, schmutzigen Anzügen und billigen Zigarrenstumpen roch. Diesen Max Gulkowitsch würde sie erst mal gründlich Maß nehmen, beschloss Franziska.

Auf die Stunden für Jenny freute sich Max inzwischen. Jenny, die sich plötzlich als Musikenthusiastin erwies, mache »für ein Mädchen« gute Fortschritte, berichtete Max dem Kohanim etwas hochtrabend. Doch die Stunden für Fränze fürchtete er, zum einen, weil sie jedes Mal eine neue Bosheit ausheckte, zum anderen, weil er sich immer so beklommen und machtlos in ihrer Gegenwart fühlte. Fränze, fand Max, hatte die Augen eines teuren Pferdes. Wenn sie ihn direkt ansah, war er wie gelähmt. Ihren Samtblick senkte Fränze allerdings umso lieber in seine Augen, sobald sie seine Schwäche witterte. Für Schwäche, Angst und Unsicherheit hatte Franziska schon damals einen fast animalischen Instinkt und fand an der Nutzbarkeit dieser Gabe rasch ein perverses Vergnügen.

»In Fränze steckt ein Dibbuk!«, behauptete Max deshalb und wurde dabei so rot, dass seine Ohren wie zwei Hufeisen unter dem Schmiedehammer glühten. Für Samuel Kohanim war das ein willkommener Anlass, das Gespräch bei Tisch auf die Zukunft der Mädchen zu lenken, insbesondere auf die Frage, welche Heiratskandidaten überhaupt in Betracht kämen und mit welchen würdigen Eltern man vielleicht in nicht allzu ferner Zeit Gespräche führen sollte.

»Ich will aber nur einen Mann, den ich liebe«, rief Martha kategorisch. Mindel und Samuel wechselten besorgte Blicke. Offenbar trat ein, was man seit langem befürchtet hatte.

»Was sollen denn diese gojischen Moden?«, fuhr Mindel auf. Romantische Liebe war für Mindel gleichbedeutend mit Unzucht und allgemeinem Sittenverfall. »So was endet nur in der Gosse oder im Leichenschauhaus.«

Dafür hatte sie unzählige schreckliche Beispiele parat, von der Hanni, die ins Wasser gegangen war, und »Denkt an Bertha!«, bis zu einer »Person« um sieben Ecken, die ihrem Herzen folgend in einem schlimmen Haus endete und so weiter und so fort. Wenn das alles nicht half, kam das abschreckende Beispiel von Romeo und Julia, oder nur ein Wort: »Berlin!«

Angesichts der Front von sieben schmollenden Töchtern wollte Samuel Kohanim beschwichtigen. Vage ahnte er, dass er dabei genau auf demselben verlorenen Posten stand wie all die anderen jüdischen Eltern seiner Generation: gegen den Zug der Zeit.

Der Assimilation könnte man zwar noch etwas trotzen, so zwei bis drei Generationen, spekulierte er, aber gegen das süße Gift der Romantik, dem inzwischen ausnahmslos alle jungen Mädchen, egal ob Deutsche, Polin, Russin oder Jüdin, zum Opfer fielen, sei kein Kraut gewachsen. Da gab es nur Rückzugsgefechte! Trotzdem schien es Samuel Kohanim ratsam, an die Vernunft seiner Töchter zu appellieren: »Ihr haltet eure Eltern doch nicht für Scheusale, die euch Böses wollen, oder?« Seine Frage prallte auf Flunsche, »Schippen«, Schmollmünder, vorwurfsvolle Blicke und trotzige Stirnen. Kleinlaut schüttelten alle sieben den Kopf. Jenny, die noch nicht ganz verstand, worum die Aufregung ging, malte angestrengt mit den Zinken der Gabel tiefe Streifenmuster auf das weiße Tischtuch.

»Liebe!«

Große Pause.

»Überlegt doch mal selbst. Der junge, unerfahrene Mensch denkt, das sei für immer. In Wahrheit ist die Liebe ein äußerst flüchtiges Gefühl. Das Herz des Menschen ist wankelmütig. Heute so und morgen so, übermorgen schon wieder anders, und dann vergessen! Darauf kann man doch nicht sein Leben gründen. Das wäre doch wirklich töricht, nicht wahr?«

Die Mädchen zeigten sich nicht überzeugt. Aus unerfindlichen Gründen, oder weil es die Evolution so wollte, glaubten sie wie alle jungen Mädchen felsenfest an die große Liebe aus den Romanen, wo Liebe bis in den Tod noch das mindeste war. Wegen der rhetorischen Übermacht des Vaters und in der Überzeugung, dass sich Gefühle dem Verstand nicht erschließen und Eltern davon ohnehin keine Ahnung haben, fielen ihnen jedoch keine passenden Gegenargumente ein.

So schwiegen sie trotzig, während ihre Gesichter sagten »Wir glauben euch kein Wort!«

»Ich möchte aber überhaupt nicht heiraten. Ich will studieren«, meldete sich Selma zu Wort.

»Aber du bist doch ein Mädchen!« Samuel Kohanim lächelte sie nachsichtig an.

»Ja, wieso soll ein Mädchen nicht studieren? In der Zeitung habe ich gelesen, dass inzwischen auch Mädchen studieren, selbst an der Universität! Bin ich etwa dümmer als ein Junge?«

Mindel sah Selma entgeistert an und begann, nervös an ihrem Spitzenkragen herumzunesteln.

»Aber das ist es doch gerade!«, versetzte Samuel gutmütig und erklärte lachend: »Nur die Jungen müssen alles, was sie zum Leben brauchen, lernen. Die Mädchen wissen bereits alles. Seht euch eure Mutter an!«

Sie blickten zu ihrer Mutter und waren sich einig, dass sie sich ein solches Leben auf keinen Fall wünschten, auch wenn sie sonst noch nicht wussten, was sie wollten.

Mischpoke!

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