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Wahrheit und Glaubwürdigkeit
ОглавлениеIn der Kanzlei von Frau Rechtsanwältin Seraphina Kühnel ist es ruhig geworden. Um halb acht haben sich die Anwaltsgehilfin und die Sekretärin in den Feierabend verabschiedet. Das ist auch der ideale Zeitpunkt, mich unbemerkt aus der Klinik fortzuschleichen.
»Ein entspanntes Mandantengespräch kann ich mir nur ohne Handy im Kühlschrank und nicht auf dem Klo bei laufenden Wasserhähnen vorstellen«, habe ich Frau Kühnel ausrichten lassen und um einen Termin in den sicheren Räumen ihrer Kanzlei gebeten. Jetzt, nach Feierabend der Kanzleigehilfinnen, laufen alle Telefonanrufe der Kanzlei auf der Mailbox auf. Nur die Notfälle erreichen das rote Handy meiner Strafverteidigerin. Es liegt auf ihrem englischen Schreibtisch, der vom milden Licht einer antiken grünen Kanzleilampe beschienen wird. Neben dem Telefon liegt meine Akte. Frau Kühnel ist heute ganz in Siegerlaune. Überraschend hat sie einen spektakulären Fall gewonnen. Morgen wird alles darüber in den Nachrichten und in den Zeitungen erscheinen. Ein riesiges, sündhaft teures Blumengesteck mit Dankeskarten und eine Holzkiste mit Heidsieck-Champagner künden vom tiefen Dank eines solventen Mandanten. Ansonsten herrscht im Büro der aufdringlich englische Stil vor, der offenbar Geldmenschen und Ganoven gleichermaßen beeindruckt. Auf den Schränken reihen sich Golftrophäen und Pokale, die daran erinnern sollen, dass Seraphina Kühnel auch auf diesem Gebiet brilliert.
Meine Verteidigerin blättert hastig in meiner Akte. Sie erklärt mir, dass sie mich für die Befragung durch die Polizei und die Staatsanwaltschaft vor Gericht fit machen will. Zudem war es ihr gelungen, alle Ersuchen zu meiner Einvernahme wegen Nichtvernehmungsfähigkeit abzuschmettern. Ich will so etwas wie »Danke« murmeln, aber sie wischt das mit einer Handbewegung weg. Dass sie gut ist, weiß sie ohnehin. Dann legt sie die Akte mit einer fast liebevollen Streichelbewegung zur Seite. Sie sammelt sich. Zur besseren Konzentration faltet sie die Hände auf dem Schreibtisch und blickt mich so forschend an wie ein Arzt eine Patientin. »Gab es einen konkreten Anlass für Sie, nach Istanbul zu reisen?«
Verlegen begutachte ich den Zustand meiner Fingernägel. »Es war eine rein touristische Reise. Sehenswürdigkeiten, Einkaufen und so …«, labere ich kleinlaut daher.
»Sind Sie allein gereist oder mit einer Gruppe, mit Freunden oder in Begleitung?«
»Das steht doch alles schon in den Akten«, murmele ich unwillig.
Widerstand ist sie nicht gewohnt, und darum stößt sie den Kopf gleich angriffslustig in meine Richtung. »Also hören Sie zu: Man wird Sie das alles noch hundertfach fragen. Ich will die ganze Sache von Ihnen hören, und zwar so, wie sie sich darstellt. Um Wahrheit geht es nicht, es geht um Glaubwürdigkeit! Verstehen Sie, was ich meine? Nach dem Grad Ihrer Glaubwürdigkeit muss ich eine Strategie mit Variablen zimmern. Ich unterstelle mal, dass Sie sich trotz einiger Bewusstseinslücken an die Reise an sich erinnern können, oder?« Sie schickt mir einen unendlich verstehenden Strafverteidigerblick über den Tisch. Mein Widerstand schmilzt.
»Na ja«, gebe ich ohne Schwung zu. »Ich bin ganz allein nach Istanbul geflogen und habe vier Nächte im Hotel Topkapi Palace Inn gewohnt.«
Sie linst prüfend über ihre edle Lesebrille zu mir herüber. Jetzt sehe ich erst, dass sie ganz grüne Augen hat. »Also keine Mitreisenden, mit denen Sie zusammen gebucht haben, weder Flug noch Hotel?«
Ich schüttele den Kopf.
»Haben Sie im Hotel jemanden getroffen, zum Beispiel die hier Mitbeschuldigte, Frau Golani, der Sie zur Flucht verholfen haben sollen?«
»Gohari, Nasi Gohari!«, helfe ich ihr auf die Sprünge. »Nein! Ich reise immer allein, grundsätzlich.«
»Aha!« Frau Kühnel schüttelt missbilligend den Kopf, als hätte ich ihr eine bizarre Marotte gestanden, die ihr vollkommen unbegreiflich ist.
»Kann man Sie und die Mitbeschuldigte Nasi Gohari irgendwo zusammen gesehen haben, oder schlimmer noch: Kann man Sie irgendwo gemeinsam mit Frau Gohari auf einer Videoaufnahme einer Überwachungskamera wiederfinden? Die sind da überall, denken Sie scharf nach! Überall stehen diese Überwachungskameras heute rum. Und in Istanbul ganz besonders.«
Diese Frage bringt mich etwas aus dem Konzept. »Wieso? Behauptet das die Staatsanwaltschaft? Dann bluffen die!«
Röntgenblick meiner Rechtsvertreterin. »Also ausgeschlossen?«
»Vollkommen!«
»Ganz sicher?«
»Absolut.«
»Bei der Verhandlung dürfen Sie aber auf diese Frage nicht so antworten. Man könnte das als ein indirektes Eingeständnis werten, dass Sie extra darauf geachtet haben, nicht mit der Mitangeklagten gesehen zu werden. Sie verstehen?«
Ich nicke und grinse. Sie lächelt schmal zurück. Zum Beweis, dass ich den Wink verstanden habe, gebe ich zu Protokoll: »Kaum vorstellbar. Istanbul ist riesig, ein total chaotischer, menschenüberfüllter Moloch. Kein Mensch kann da sagen, wer da wo zufällig geht oder steht. Möglicherweise war ja diese andere Person, diese Mitbeschuldigte, genau wie ich unterwegs zu den gleichen Sehenswürdigkeiten, ohne dass ich es überhaupt ahnen konnte … und …«
Meine Verteidigerin fällt mir tadelnd ins Wort. »Bei einer Aussage vor Gericht müssen Sie solche Erklärungen weglassen.«
Ich gucke sie verständnislos an.
»Die Lüge, verehrte Mandantin, die Lüge verrät sich immer durch besonderen Wortreichtum und zu umfangreiche Einlassungen zum Thema der Lüge. Die Wahrheit muss sich nicht erklären. Sie ist einfach da, steht für sich selbst. Ihnen als ehemaliger Journalistin sollte das geläufig sein.«
Langsam beschleicht mich Panik. Was ist, wenn ich mich bei der Vogelsang durch übermäßigen Wortreichtum verraten habe? Meine Anwältin scheint meine Gedanken zu lesen.
»Hat Sie bereits jemand zur Sache selbst befragt?«
»Nein, eigentlich nicht …«, entgegne ich gedehnt, weil ich noch überlege.
»Und uneigentlich?«, fragt sie zurück.
»Tja, hm, also, ich traue dieser Therapeutin in der Klinik nicht, dieser Dr. Vogelsang. Denn zum normalen Ärzteteam scheint sie nicht zu gehören. Die arbeitet da gar nicht regulär. Das finde ich schon befremdlich. Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar, wenn Sie der Vogelsang mal auf den Zahn fühlen könnten.«
Jetzt guckt mich Frau Kühnel teils mitleidig, teils skeptisch an. »Die Therapeutin unterliegt doch der Schweigepflicht, aber wenn es Sie beruhigt, prüfe ich das nach. Was haben Sie dieser Dr. Vogelsang denn schon zum Fall erzählt?«
»Gar nichts, ich erzähle ihr lediglich meine Familiengeschichte.«