Читать книгу Jahrgangsübergreifendes Lehren und Lernen im 2. Zyklus (E-Book) - Marco Adamina - Страница 7
1.4 Der Fokus der Unterrichtsanalysen: Vermittlung, Lernbegleitung, Aneignung
ОглавлениеIm Projekt geht, es wie einleitend ausgeführt, um die Frage, wie der Unterricht in der Mehrjahrgangsklasse organisiert ist, wie das jahrgangsübergreifende Lernen am gleichen Gegenstand arrangiert wird. Zudem rekonstruieren wir, wie der Lerngegenstand, d.h. die fachlichen und fachdidaktischen Aspekte, aufbereitet, eingeführt und vermittelt werden. Für die Beschreibung der Unterrichtsbeispiele wählen wir die Aspekte der Vermittlung sowie Lernbegleitung und Lernunterstützung durch die Lehrperson und der Aneignung durch die Lernenden.
Lernbegleitung und -unterstützung bezeichnet Reusser (2019) als die «wichtigsten Professionalisierungs- und Entwicklungsaufgabe[n] von Lehrpersonen» (S. 157). Denn bei der Lernbegleitung stehen die «Tiefenstrukturen», die fachlichen und fachdidaktischen Aspekte, im Vordergrund. Die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen und das unterschiedliche Vorwissen der Lernenden fordern die Lehrperson heraus. Insbesondere im Setting der Mehrjahrgangsklasse muss sie sich von einem «eng geführten Klassenunterricht […] verabschieden» (ebd.). Gefragt sind schliesslich «Kompetenzen der individuellen und gruppenbezogenen Lernunterstützung» (ebd.). «Dies heisst, flexibel auf wechselnde Bearbeitungsstände, Verständnisschwierigkeiten und Lernfortschritte einzugehen, Unterstützungsbedarfe zu erkennen und fachlich angemessene Hilfestellungen zu geben» (ebd.). Fachliche und fachdidaktische Grundlagen sind Voraussetzungen für eine zielführende Lernunterstützung. Die Lehrperson soll in der Lage sein, die Schülerinnen und Schüler individuell zu begleiten, dies vor dem Hintergrund einer grösseren Bandbreite an Lernvoraussetzungen in der Mehrjahrgangsklasse. Diese Problematik wird von Breidenstein (2014) aufgegriffen und unter institutionellen Bedingungen des Schulalltags diskutiert. Der Autor interessiert sich dafür, wie Lehrpersonen der Anforderung an individuelle Begleitung in einem Setting nachkommen, das sich vom «eng geführten Klassenunterricht» (Reusser, 2019, S. 159) verabschiedet hat. Breidenstein und sein Forschungsteam «fragen anhand der Beobachtung des praktischen Vollzugs individualisierten Unterrichts nach den zugrunde liegenden Handlungs- und Strukturproblemen» (Breidenstein, 2014, S. 36). Die Forschenden diskutieren die beobachteten Praktiken von Lehrpersonen unter dem Stichwort der «Knappheit der Ressource Lehrkraft» (ebd., S. 48). Nicht alle Lernenden können gleichzeitig hinsichtlich ihrer individuellen Fragen betreut und in ihrem Lernprozess begleitet werden. Gemäss Breidenstein wird «die Diskrepanz zwischen der Kapazität der Lehrperson und der Vielzahl der Schüleranfragen im individualisierten Unterricht nur […] durch eine gewisse Standardisierung der Schülertätigkeiten und damit der Problemstellungen» (ebd., S. 48) lösbar. Die Dezentrierung des Unterrichtsgeschehens, also die Tatsache, dass der Unterricht nicht mehr um die Erklärungen und Handlungen der Lehrperson, sondern auf das selbstständige und individualisierte Lernen und Arbeiten der Schülerinnen und Schüler hin organisiert ist, hat (neue) Praktiken der (Selbst-)Steuerung und (Selbst-)Kontrolle zur Folge. Das selbstständige Arbeiten der Lernenden geschieht durchwegs auf der Basis bereitgestellter Materialien wie Arbeits- resp. Aufgabenblätter und Lehrmittel. Breidenstein problematisiert diese Form des Lehr-Lernarrangements wie folgt: «Das konkrete Hantieren mit dem Material scheint gegenüber Lerninhalten bzw. -prozessen dominant zu werden» (ebd., S. 45). Ähnliche Beobachtungen machten bereits Liebers et al. (2008) in ihrer Untersuchung zur flexiblen Schuleingangsphase.
Wie wir oben ausgeführt haben, bezieht sich die Diskussion über das (jahrgangsübergreifende) Lehren und Lernen wesentlich auf die Fähigkeiten der Lehrpersonen und die Qualität des Fachunterrichts. Welchen Sinn die Lernenden mit dem Lerngegenstand verbinden, welche Bedeutung der Lerngegenstand für sie und für ihr Lernen hat, wird weniger in den Blick genommen. Aus diesem Grund plädiert Pollmanns (2010) dafür, die Aneignungsseite des Unterrichts, d.h. die Lern- und Bildungsprozesse der Schülerinnen und Schüler, stärker zu beachten. Mit dem Begriff der Aneignung bezeichnet Pollmanns sowohl «die Art und Weise, in der [Schülerinnen und Schüler] Unterricht und ihre SchülerInnen-Rolle deuten» als auch die gleichzeitige Rekonstruktion der Bedeutungen, «die sie in der Auseinandersetzung mit dem unterrichtlichen Gegenstand entwickeln» (ebd., S. 108). Im Rahmen unseres Projektes erschliessen wir die Aneignungsseite des Unterrichts anhand von Interviews mit einzelnen Schülerinnen und Schülern, anhand von Gesprächen unter Schülerinnen und Schülern sowie anhand von Produkten und Lernspuren, die im Rahmen der Unterrichtseinheiten geschaffen wurden.