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DER TEPPICH, DER FLIEGEN KONNTE

Ach, was waren das früher noch Zeiten! Heute glaubt doch niemand mehr an Märchen, außer vielleicht die ganz kleinen Kinder. Und die Leute schätzen auch nicht mehr den wirklichen Wert der Dinge oder erkennen nicht, was tatsächlich Respekt verdient.

Als ich jung war, war das anders: Damals sah ich mehrere Male am Tag, dass sich jemand mit Ehrfurcht und Hingabe hinkniete. Und jedes Mal spürte ich, wie mich die Wangen, fast wie bei einem liebevollen und respektvollen Kuss, berührten. Damals kannte man sehr wohl noch den Unterschied zwischen Seide, Wolle und Baumwolle und ich wurde in meinem Zuhause als die wertvollste Sache betrachtet, sowohl was meine Feinheit als auch meine heilige Aufgabe betraf. Und natürlich wagte es niemand, in meiner Anwesenheit Schuhe zu tragen.

Aber ohne so lange zurück zu gehen: Alleine bei dem Gedanken an Oma Ida überkommt mich ein Gefühl von Sehnsucht und Wehmut nach den vergangenen Zeiten. Ich erinnere mich, wie behutsam sie mich jede Woche abrieb und wusch, auch wenn es gar nicht nötig gewesen wäre, da sie nie Besuch bekam. Es war nicht ihre fehlende Kraft, die sie so behutsam mit mir umgehen ließ, sondern die Angst mich zu beschädigen. Jedenfalls war es für sie ein heiliges Ritual und vielleicht auch ernsthafter als das Gebet eines Mohammedaners. Ich erinnere mich, mit welcher Sorgfalt sie mich nach einem Reißaus an meinen vorgesehenen Platz zurücklegte.

Mein größter Kummer ist, dass ich mich schon seit langem in Anwesenheit von Erwachsenen gezwungen sehe, bewegungslos wie ein gewöhnlicher Bettvorleger da zu liegen. Den letzten bedeutenden Flug machte ich, als mich Maria, die Enkelin von Oma Ida, neben der Mülltonne abgeladen hatte. Was für eine Beleidigung! Ein echter antiker Perserteppich aus Seide! Nur weil sie gerade als frisch verheiratetes Ehepaar in das Haus eingezogen waren, nahmen sie sich das Recht über mein Schicksal zu entscheiden, ohne die schönen alten Gewohnheiten der Oma zu respektieren. Ich habe ihnen eine grobe Dummheit erspart. Über ein Fenster kehrte ich heimlich an meinen Platz im Gäste-WC zurück. Sie dachte, dass ihr Mann es so wollte und ließ mich dort liegen. Aber seitdem wusch sie mich nicht mehr. Nicht nur das, sie behandelte mich schlechter als den schmutzigsten Lappen im Haus: Ich hatte nasse Schirme, verschlammte Schuhe und ähnliche Ausnahmezustände erlebt. Vielleicht wäre die Mülltonne doch besser gewesen.

Sicher, in ihrer Abwesenheit hatte ich viel Zeit, um frei im Haus herumzufliegen. Aber ich versuchte immer, mich nicht entdecken zu lassen. Sobald ich den Schlüssel im Schloss hörte, flog ich sofort zurück an meinen Platz und blieb dort regungslos liegen, als wäre nichts passiert. Das war wirklich kein Leben.

Eines Tages wollte ich ihre Reaktion testen, wenn sie mich in Bewegung sahen. Die Idee kam mir, als ich in der Wohnung eine tote Küchenschabe fand. Ich versteckte sie unter mir und am Abend, während sie beim Essen waren, schlich ich langsam in die Küche. Was für ein Schauspiel! Ich erinnere mich daran, wie Maria vor Schreck schrie, aber ich erinnere mich auch an die Schläge und Fußtritte, die ich von ihrem Mann erhielt. Zum Schluss brüstete er sich auch noch zu Unrecht damit, den Käfer erlegt zu haben. Ich hatte wirklich ziemliche Schläge bekommen, aber Gott sei Dank war meine Qualität ausgezeichnet und ich trug keinen Schaden davon.

Die gebührende Aufmerksamkeit und Wertschätzung erhielt ich dann von ihrem geliebten und hübschen Söhnchen Giorgio. Als er sehr klein war zunächst noch nicht, da sie ihn auf kleinstem Raum unter ständiger Aufsicht hielten. Aber als er anfing zu laufen und mehr Freiheiten hatte, plante ich meinen Rachefeldzug.

Sobald keine Erwachsenen zu sehen waren, schleppte ich mich bis zu ihm hin. Er war überaus sympathisch. Er schaute mir zu wie ich schwänzelte, ohne irgendwie hysterisch zu werden. Im Gegenteil, mit Wohlwollen berührte er mich und nahm mich zwischen die Finger, so als hätte er mich nie zuvor gesehen. Man könnte sagen, dass wir zusammen spielten. Sobald ein Erwachsener zurückkam, wurde er sofort geschimpft, dass er mit einem so schmutzigen Gegenstand spielte. Aber ich gab nicht auf. Sobald ich konnte, ging ich zu ihm und manchmal war er es, der zu mir kam. Ich wusste, dass ich riskierte aus hygienischen Gründen entsorgt zu werden, aber ich wusste auch, dass es sich um eine Familie handelte, die - selbst wenn sie etwas fantasie- und stillos war - einen gesunden Menschenverstand hatte. Und tatsächlich kamen sie zu dem Entschluss, dass ich eine gründliche Reinigung benötigte.

Anfänglich war ich sehr darüber erfreut, auch weil dies bedeutete, dass ich offiziell als Spielkamerad von Giorgio akzeptiert wurde. Nach der Wäsche mit Schleuderprogramm in einer dieser höllisch modernen Waschmaschinen war ich es etwas weniger und bei solch einem Waschmittel hatte ich Angst um meine Farben. Das wünsche ich niemandem. Am Schluss fühlte ich mich, als hätte sich die ganze Welt auf mich gelegt und noch dazu war ich patschnass wie ein betrunkener Schwamm. Aber ich muss sagen, die Farben waren danach so schön wie ich sie schon lange nicht mehr kannte, vielleicht waren sie sogar noch nie so schön gewesen. Jeder hätte mich schön gefunden.

Zusammen mit einem Berg feuchter Wäsche wurde ich in einen Korb geschmissen. Ich hatte das Gefühl zu ersticken. Ich wollte davonlaufen, auf die Gefahr hin, die ganze Wäsche auf den Boden zu werfen, aber ich hielt durch; ich wusste nämlich, dass bald das wöchentliche Ritual des Wäscheaufhängens beginnen würde. Dieses Mal jedoch, und das war neu, würde ich es höchstpersönlich miterleben.

Und tatsächlich, kurz darauf ging Maria mit dem Korb hoch auf die Terrasse. Im ersten Moment fühlte ich mich erleichtert von diesem erdrückenden Gewicht, das auf mir lastete. Dann kam ich dran - sie zog mich der Länge nach glatt und legte mich auf eine Wäscheleine. Als wäre das nicht schon unangenehm genug, klemmte sie an jedes Ende eine Wäscheklammer. Ein Martyrium.

Die Sonne war blass und es blies ein starker Wind an diesem herbstlichen Nachmittag. Eine andere Frau war auch gerade dabei, ihre Wäsche genauso zu quälen. Dem Gesprächston nach zu urteilen mussten die beiden Frauen sich wohl gut kennen.

„Sobald sie weg sind“, dachte ich, „mache ich mich auch aus dem Staub.“

Inzwischen hing die Leine immer tiefer durch unter dem Gewicht neuer Wäschestücke. Insbesondere von einem sehr schweren.

„Oh, die ist aber wirklich wunderschön! Wo kommt die her?“

„Die ist von meiner Oma“, antwortete Maria. „Schau was für schöne Hand-Stickereien. Heutzutage werden solch schöne Decken nicht mehr hergestellt. Sie hat sie mir zu unserer Verlobung geschenkt.“

„Bewahre sie gut auf, wer weiß wie viel sie wert ist.“

Je mehr ich diese Wörter hörte, desto mehr wurde ich eifersüchtig und unruhig. Es war doch nicht der Schatz von Ali Baba. Sie fuhren fort, dieser Decke ein Loblied zu singen. Sie war vielleicht schön, aber sie war nicht halb so alt und wertvoll wie ich.

„Lass sie mich anfassen. Oh, wie sie sich zart und fein anfühlt.“

„Ich habe sie separat gewaschen, mit lauwarmem Wasser und Weichspüler. Ich wollte nicht dass sie kaputt geht. ...“

Ich konnte diesen Blödsinn nicht mehr ertragen. Ich fing an, um mich zu schlagen, um mich von diesen verhassten Wäscheklammern zu befreien. Der Wäscheständer mitsamt allen Wäschestücken fing durch mein aufgeregtes Herumschlagen an zu wackeln. Einige Socken flogen auf den Boden. Meine Aufgeregtheit wurde auch noch durch eine Reihe unerwarteter Windstöße begünstigt. Während die beiden Frauen damit beschäftigt waren, die heruntergefallenen Teile aufzuheben und weiteren Schaden zu verhindern, befreite ich mich von der ersten Wäscheklammer und begann mit meiner freien Seite wiederholt auf die daneben hängende Decke der Oma einzudreschen. Mit zwei oder drei gezielten Schlägen schaffte ich es, deren Schwerpunkt zu verschieben, bis diese anfing langsam und unerbittlich - trotz der Bemühungen von Maria - hinunterzugleiten. Zu meiner großen Genugtuung sanken die beiden Frauen eng aneinander geklammert auf den Boden der Terrasse. Die eine blieb nicht ganz unbeschadet und die andere war verärgert, dass sie manche Wäschestücke nochmals waschen musste.

Letztendlich konnte ich mich von der anderen Wäscheklammer befreien und flog hoch hinauf, wo ich die Situation gut überschauen konnte. Ein schönes Schauspiel.

Von unten verfolgten mich die Blicke der zwei Frauen mit Besorgnis. Nicht unbedingt meines Schicksals wegen, sondern aufgrund meiner Flugbahn. Ich suchte mir den besten Fluchtweg und glitt langsam die angepeilte Richtung hinunter. Ich wollte für immer anderswohin verschwinden.

Jemand klingelte an der Haustür von Maria.

„Wer ist da?“

„Ich bin die Nachbarin von unten. Ich habe einen Teppich auf meinem Balkon gefunden. Ich dachte er könnte Ihnen gehören.“

Maria überwand ihr anfängliches Misstrauen und öffnete die Tür.

„Er ist in meinen Pflanzen hängen geblieben. Ich dachte, er sei von Ihrem Balkon gefallen. Ich weiß doch wie kleine Kinder sind. Sobald man einen Moment abgelenkt ist ...“

Maria war sprachlos. „Ja, das ist tatsächlich meiner. Aber wie konnte er bei Ihnen landen? Stellen Sie sich vor, er ist mir von der Gemeinschaftsterrasse gefallen!“

„Wie auch immer, auf jeden Fall Kompliment. Das ist wirklich ein schöner Teppich. Er scheint antik zu sein, es ist wahrscheinlich ein Perserteppich, und er hat ein wunderschönes Muster.“

„Sie haben recht, wissen Sie. Bis vor kurzem war er derart schmutzig, dass man kaum etwas darauf erkennen konnte. Stellen Sie sich vor, bei meiner Oma hatte er im Gäste-WC gelegen.“

„Wirklich?!“

„In der Tat würde er viel besser ins Wohnzimmer oder in den Eingangsbereich passen. Apropos, warum kommen Sie nicht einen Moment rein? Kann ich Ihnen vielleicht etwas anbieten?“

Die zwei Frauen plauderten eine gute halbe Stunde miteinander. Ziemlich lang, wenn man bedenkt, dass sie sich nur flüchtig kannten. Einen Großteil der Zeit verbrachten sie damit zu überlegen, welches der beste Platz für einen derart kostbaren Teppich sei. Sicherlich nicht das Gäste-WC, und auch nicht das Kinderzimmer - man weiß ja nie was das Kind damit anstellen könnte. Und dann ist auch wichtig, von welcher Seite das Licht auf den Teppich scheint, damit der schillernde Effekt zur Geltung kommt. Und er sollte nicht zu nahe an der Eingangstüre liegen, damit man ihn nicht mit einem Fußabstreifer verwechselt. Im Gegenteil, man sollte möglichst gar nicht auf ihn treten, weil er durch zu vieles Waschen kaputt gehen könnte.

Die Nachbarin schien sich gut auszukennen und sie gab Maria auch ein paar Tipps für das richtige Waschen und Reinigen des Teppichs. Tief im Herzen wünschte sie sich vielleicht, dass der Teppich nicht von einem der oberen Balkone, sondern vom Himmel gefallen wäre, dann hätte sie ihn behalten können. Stattdessen gab sie sich mit einer guten Tasse Tee zufrieden und damit, dass sie einer ihr unbekannten Person ihre Fachkenntnisse und ihre Ehrlichkeit beweisen konnte.

Ich hatte eine Dummheit begangen und ich hatte eine Strafe verdient. Und dann war ich auch etwas staubig geworden. Demnach war es in Ordnung, dass man mir mit dem Teppichklopfer anständig den Hintern versohlte. Nachdem, was diese Frau gesagt hatte, machte es wirklich keinen Sinn mich nochmals zu waschen. (Eine echte Kennerin: Vielleicht hätte ich es bei ihr besser gehabt.)

Jedoch hatte ich eine Menge Komplimente bekommen und bekomme sie jedes Mal, wenn neuer Besuch kommt.

Das Einzige, was mir leid tut ist, dass ich nicht mehr so viele Möglichkeiten habe mit Giorgio zu spielen. Dies aus verschiedenen Gründen, zunächst einmal, weil sie ihn selten ins Wohnzimmer gehen lassen und dann, weil oft Tischfüße auf mir stehen. Naja, diese Maßnahme hatten sie ergriffen, nachdem sie mich ein paar Mal erwischten, wie ich in seinem Zimmer mit ihm spielte. Aber unsere Zuneigung und die Lust zusammen zu spielen haben sich nicht geändert.

Was die Decke der Oma betrifft, die für so schön gehalten wurde, habe ich nichts mehr gehört und habe auch keine Gelegenheit gehabt, sie zu sehen oder zu treffen. Wobei, jetzt wo auch meine Schönheit erkannt wird, habe ich keinen Grund mehr eifersüchtig zu sein.

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