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Kapitel 1: Der Kaufmann

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Im Laufe der Jahrhunderte büßte die Herrscherwürde, die ein Karl der Große einstmals getragen hatte, Glanz und Ansehen ein, sodass der Kaiser am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts im Spiel der Fürsten des Deutschen Reiches bestenfalls ein Erster unter Gleichen war. Er besaß nicht mehr die Stärke, den bunten Schwarm aus Territorien und Herrschaften zu bändigen, in welchen die Christenheit sich zersplittert hatte. Bald würde sich jedoch ein Mann erheben, um Stück für Stück eine Macht zusammenzuschmieden, deren Gipfel so weit emporragte, dass andere nicht umhinkommen würden sich an dieses neue Kraftzentrum zu binden oder es zu bekämpfen. So wurde er möglich: der Griff nach der Herrschaft über Europa und die Welt.

Diese hegemoniale Sintflut entsprang der Stadt, in der sich die einflussreichsten Fürsten des Reiches, die Kurfürsten, nach altem Brauch versammelten, um ihren Kaiser zu wählen: die freie Reichsstadt Frankfurt.

Frankfurt am Main, Januar 1487


Philipp schleppte sich durch die dunklen Straßen. Der eisige Wind schlug seine Krallen tief durch die Kleidung, in die Haut und das Fleisch des Mannes, sodass dieser glaubte, seine Knochen lägen bloß. Leider hatte der Wind noch nicht den morastigen Boden gefrieren lassen, weshalb der zweirädrige Holzkarren, den Philipp hinter sich herzog, quälend einsank. Es war eine Marter. In immer kürzeren Abständen hielt er eine seiner halb erfrorenen Hände vor den Mund, um sie zu beleben, aber sein warmer Hauch scheiterte an dem, was der Odem des Ewigen einst vollbracht hatte.

Der Wind, der sich in den Häusern fing, fauchte und jaulte ihn wie ein Raubtier an. Warum musste er zu solch einer Stunde nach Sonnenuntergang durch diese unbarmherzige Stadt wandern, die ihm fremd war? Warum musste er die unwürdige Arbeit eines Hausierers vollführen? Warum konnte er nicht eine ehrenhafte Anstellung als Kaufmann erhalten, wie er sie so lange in seiner niederländischen Heimat innegehabt hatte? Herrgott, warum strafst du mich so? Schwer atmend wandte er das von der Kälte gezeichnete Gesicht zu den Phalangen der Fachwerkhäuser, die ihn umzingelten und von den anderen Menschen ausschlossen. Nur schwach drangen Lichtstrahlen aus den Fensteraugen auf die unbeleuchtete Straße.

Beim Gedanken, an eine der Türen anzuklopfen, schnitt Philipp eine Grimasse, als kaute er fauliges Fleisch. Wie ein Bettler soll ich mich aufdrängen, muss genug in dieser einen Nacht verkaufen. Die Stimme des Hauptbuchhalters Herr Lösser stach noch in Philipps Ohren: „Lieber Herr Jansen, Eure Erfahrung in Ehren, aber in Frankfurt müsst Ihr Euch erst beweisen, wenn Ihr in die Dienste des Meisters Brückfeld treten wollt. Darum nehmt diesen Karren mit Tuchen und verkauft heute so viel, dass ich einen Lehrling ein Jahr davon bezahlen könnte.“ Philipps Kinn sackte gegen die Brust. Der Wind verhöhnte ihn. Warum war in dieser Stadt alles dermaßen grausam? Aber es ist nicht nur hier so.

Wie viele Städte hatte er durchstreift, um eine Anstellung zu finden? Keiner hatte in dieser Zeit Geld im Überfluss. Kriege und Krisen konnten dem Handel rasch zusetzen. Gesellte sich noch Unglück hinzu — eine verhagelte Ernte, ein gesunkenes Schiff, ein abgebranntes Kontor — war der Bankrott nicht mehr abzuwenden. So war es ihm widerfahren. Ach Herr, hättest du mir nur Arbeit, Wohlstand, Ehre genommen. Aber warum auch mein Weib? Der Wind verwandelte Philipps Tränen sogleich in frostige Dornen, welche die Haut ritzten.

Er fühlte sich so leer, so ausgemergelt ohne Magdalena. Jedweder Sinn war erloschen; bleich. Tot. Verschwitzt und durch wochenlanges Fieber vollkommen verwittert, hatte sie ihre letzten Worte an Ihren Gatten gerichtet: „Bitte ... versprich mir bei deiner Seele, dass du für unsere drei Töchter sorgst und sie gut verheiratest. Schwör’ es mir!“ Er hatte es geschworen, er hätte alles geschworen, nur damit sie sanft einschlummern konnte, um in dieser Welt nie mehr zu erwachen. Was für eine fürchterliche Bürde musste er nun schultern. Er musste seinen Töchtern, die bei Verwandten untergekommen waren, ein standesgemäßes Leben schenken. Dies war seine Verantwortung, sein Versprechen, seine Pflicht. Wäre er doch nur ganz allein, dann könnte er einfach ... Nein! Er musste sich zusammennehmen.

Er atmete tief ein. Die Luft schmerzte in seiner Lunge. Ein weiterer Atemzug, und das Brennen flammte nicht mehr derart quälend auf. Beim dritten Einatmen hob er den Kopf. Es blieb ihm nur noch die Möglichkeit, sich gegenüber Meister Brückfeld — einem der größten Kaufleute der Stadt — zu bewähren. Sonst wäre das Empfehlungsschreiben eines Bekannten nutzlos gewesen. Er betrachtet die Häuser vor sich. Ja, Magda, ich weiß ...

Die folgenden finsteren Stunden bot Philipp seine Waren feil. Ein Füllhorn der Peinigungen: man ignorierte ihn, hetzte Hunde auf ihn, schüttete den Inhalt von Nachttöpfen nach ihm ... Was war dies nur für eine verdammte Stadt? Warum hatte es ihn nur hierher verschlagen? Wüsste er doch wenigstens, dass Magda in seiner Stube auf ihn wartete. Er blickte zu Boden, um nicht mehr die Häuser sehen zu müssen, die ihn ausschlossen und aus den Augenwinkeln grimmig musterten.

Bald kam er in eine Gegend, in der die Häuser nicht mehr derart reich waren wie zuvor, wo Holzhütten die Gassen bildeten, die mit Unrat übersät waren. Der sumpfige Boden saugte sich an seinen Schuhen fest, und der Wind lastete ihm mehr und mehr Gewicht an, das sich anschickte, jedwede seiner Bewegungen zu ersticken. Selbst das Heben des Brustkorbes war eine Tortur und es dauerte nicht lange, bis Philipp dermaßen geschwächt war, dass er den Karren nicht mehr ziehen konnte. Die Deichsel klatschte zu Boden und er durchfurchte mit der Hand seine schulterlangen braunen Haare. Keuchend schaute er sich um. Was soll ich hier? Hier werde ich nichts verkaufen. Die Gegend ist zu arm. Ich muss zurück. Doch er war gleich einem Schwimmer, welcher seine Kräfte überschätzt hatte und zu weit vom Ufer weggeschwommen war, nicht mehr in der Lage umzukehren. Es gab kein Zurück; er war am Ende. Er wehrte sich zwar, aber unaufhaltsam knickten seine Beine unter ihm weg. Er vollbrachte es gerade noch, sich mit dem Rücken an den Wagen zu lehnen.

Was hatte er nur falsch gemacht im Leben, dass er nun in dieser schmutzigen Gosse sitzen musste? Er wusste es nicht. Warum wurde er derart gestraft? Oder war es nur ein Mangel an Barmherzigkeit; kümmerte sich Gott nicht um ihn; war es ihm gleich, ob er hier elendig zugrunde ging? Er hatte sich alles einmal völlig anders erträumt, damals, als er noch auf der Höhe seiner Kräfte und Lebensfreude gestanden hatte, als Magda noch bei ihm gewesen war. Jetzt war er am Ende. — Doch nein! Er durfte nicht einfach aufgeben, er musste ... Aber er konnte sich nicht mehr erheben. Sein Leib war so schwer, alles war so schwer ... Er wollte so gerne einfach nur schlafen, sich einmal ausruhen; endlich. Mit einem Mal schien ihm der Gedanke, hier liegen zu bleiben, nicht mehr so erschreckend. Selbst an den Wind gewöhnte er sich mehr und mehr, als habe dieser erkannt, dass Philipp seinen aussichtslosen Kampf endlich aufgegeben hatte. Er hatte niemals wegen des Todes seiner Frau geweint. Erst hatte ihm die Not keine Zeit gelassen — er musste stark sein für seine Kinder — und jetzt war er dafür zu entkräftet. Wie könnte Magdalena ihm nur vergeben, wenn ... ?

Ein Stich schoss durch sein Bewusstsein. Was war, wenn Gott ihn verstieß, weil er sich nicht genug gemüht, nicht aufopfernd genug gekämpft hatte? Kein Priester würde ihm das letzte Sakrament spenden. Würde er Magda jemals auf der anderen Seite wiedersehen? Herrgott, du musst doch gesehen haben, dass ich alles tat, was in meiner Macht stand. Ich bin nun mal kein Hiob, der jedwede Unbill des Lebens erträgt. Mich hat sie gebrochen. Magda, du musst es doch auch wissen. Ich gab mein Bestes. Bitte ... !

Was sollte er flehen? Sinnlos — er war selbst dazu zu schwach. Eine Woge kribbelte langsam von seinen Füßen und Händen zu seinem Rumpf empor. Wo sie ankam, verströmte sie ein kurzes Gefühl von Wärme und hinterließ letztlich nur köstliche Taubheit. — Einfach nichts mehr empfinden, keine Trauer, keine Angst, keinen Schmerz. Ja! Wie süß wäre dies. Er wünschte sich, endlich Ruhe zu finden; einfach nur Ruhe. Er wusste, was es bedeutete, wenn die Woge seine Brust erreichte, aber es war ihm gleich und so gab er sich ihr hin. Sie versprach ihm den Frieden, den er so begehrte. Seine Hände und Unterschenkel nahm er nicht mehr wahr — wie wundervoll. Er schloss die Augen. Bald würde er auch keinerlei Kraft mehr für das Atmen verschwenden; dann wäre er erlöst. So ließ er sich auf einem schwarzen Wasser dahintreiben, um den scharfen Kanten der Welt zu entfliehen. Kleine Wellen streichelten über seine Glieder und benetzten diese. Ganz allmählich sank er in die dunkle Flüssigkeit ein, verlor den Sinn für die Konturen seiner Umgebung, die zunehmend von Dunkelheit überlagert wurde. Bald würde er Erlösung finden, bald ...

Da war das Klatschen bloßer Füße auf dem Boden. Die Schritte näherten sich und blieben dicht bei ihm stehen. Philipps Mundwinkel beschrieben ein zaghaftes Lächeln. Da sind sie also schon wegen meiner Sachen — die Aasgeier. Nur zu! Nehmt, was ihr kriegen könnt, aber lasst mir meine Ruhe. Ich will nichts mehr spüren. Eine Stimme drang an seine Ohren, aber er war schon zu tief hinabgesunken; das schwarze Wasser verwischte die Worte. Auf einmal merkte er, dass sich zwei Hände auf seine Wangen legten und sanft seinen Kopf rüttelten. Lass’ mich in Ruhe! Bestiehl mich, aber nimm deine Hände von mir! Doch die Hände ließen nicht ab von ihm, sondern klatschten auf seine Wangen. Da öffnete er seine Lider einen Spalt und sah ein Gesicht vor sich. Ein Junge! Gerade mal zwölf. Er hätte sich wenigstens waschen können. Meint er etwa, das kleine Lederband könne seine schwarze Mähne bändigen? Die Haare haben wohl noch niemals einen Kamm kennengelernt. Mein Gott, das soll das letzte Geschöpf sein, das ich in diesem Leben sehe? Er wollte wieder entgleiten, um gänzlich abzutauchen, aber etwas an den braunen Augen des Jungen hielt seine Lider offen, verhinderte, dass Philipp seinen Kopf wegdrehte. Was war es? Die Augen schienen weich, beinahe anschmiegsam. Er bemerkte tastende Blicke auf sich und auch ... in sich — liebkosend. Was ist das? Einen Moment lang verspürte Philipp Furcht. Ich kann nichts vor ihm verbergen. Alles in mir liegt vor ihm ausgebreitet. Was denkt er von mir? Was sieht er? Schließlich ergab er sich diesen Augen und plötzlich kam es ihm vor, als wäre er kurz vor dem Ersticken aus einem See aufgetaucht. Er tat einen berstenden Atemzug. Sein Rumpf war wie ein Triumphbogen gen Himmel gewölbt; sein hämmerndes Herz sandte gewaltige Stöße durch seinen Körper, verscheuchte die Taubheitswelle und brachte seine Arme und Beine dazu, vor Leben zu brennen. Warmes Licht; Licht — wo kam auf einmal dieses Licht her? Alles war anders, heller und milder.

Er setzte sich auf und betrachtete den Jungen. „Wie hältst du es im Winter mit dem dünnen Leinenhemd und den zu kurzen Hosen aus? Schuhe hast du auch keine. Das geht doch nicht!“

Der Junge hob erstaunt die Augenbrauen, legte den Kopf schräg und zeigte ein alabasternes Grinsen.

Warum frage ich ausgerechnet jetzt nach seiner Kleidung? Philipp strich sich über die Stirn. „Was hast du mit mir gemacht? Wie hast du ... ?“ Er kreiste vor sich unsicher mit offenen Händen.

Aber der Junge verstand. „Ich habe gesehen, dass es dir nicht gut ging. Da wollte ich dir helfen.“

„Aber was hast du mit mir getan?“

„Trauer hatte dich wie eine Schlingpflanze überwuchert und dich beinahe erstickt. Ich habe die Ranken weggerissen, dass wieder Licht an dich kam.“

Philipp nickte, als ob er verstünde. Ein Teil von ihm tat es zwar, aber sein Verstand war völlig verwirrt. „Wie hast du das vollbracht? Warum kannst du so etwas?“

Der Junge streckte die offenen Handflächen von sich und hob beinahe entschuldigend die Schultern.

„Ich weiß es nicht. Ich habe es einfach gemacht.“

„Hast du dies schon öfters getan?“

„Hmm, einige Male.“

„Vermagst du dies bei jedem zu vollbringen?“

„Nein. Nicht jeder kann dein Freund sein, so kann ich auch nicht jedem helfen … leider!“

„Aber ... aber, die Art, mit der du mich zu Anfang betrachtetest, ist dies bei allen möglich?“

Der Junge ließ den Atem hinausströmen. „Ja, ich kann in jeden hineinblicken, aber ich tue es nur selten, am besten nur in der Not.“

„Warum?“

„Weil die Menschen es spüren und es nicht mögen. Man will vor Blicken geschützt sein. Nur vor einem Geliebten oder Medikus zieht man sich aus.“

Das verstand Philipp. Ja, ich fühlte mich vor ihm entblößt, aber erkannte, dass er mir half. „Wie ist überhaupt dein Name?“

„Ich heiße Jeremias.“

„Wo wohnst du?“

„Im Waisenhaus, östlich von der Stadt, nicht weit von hier. Ich kam gerade von der Arbeit bei einem Bauern.“

Philipp wusste einige Atemzüge lang nicht, was er sagen sollte.

Da ergriff Jeremias erneut das Wort: „Es tut mir sehr leid, dass deine Frau nicht mehr lebt. Aber du würdest ihr keinen Gefallen tun, wenn du dich wegen dieser Tücher auf deinem Karren zermürbst.“

„Woher weißt du ... ?“ Doch Jeremias musste nichts sagen. „Aber ich habe keine Wahl, als möglichst viel von den Tuchen zu verkaufen, sonst ... “

„ ... sonst bekommst du keine Anstellung bei Meister Brückfeld, bleibst mittellos und kannst die Aussteuer für deine Töchter nicht bezahlen.“

Eine sanfte Faust bohrte sich in Philipps Magengrube. Der Junge wusste einfach alles. „Kennst du Meister Brückfeld?“

„Zweimal sah ich ihn bei den Messen. Er ist stets am buntesten gekleidet.“

„Morgen werde ich vor seinem Buchhalter Lösser mit leeren Händen dastehen. Ich habe noch nichts verkauft und bald ist tiefe Nacht.“

Jeremias schürzte erstaunt die Lippen. „Aber noch ist doch genug Zeit.“

„Zeit?“ Philipp schüttelte den Kopf. „Ich laufe bereits seit Stunden durch die Stadt. Kein Fetzen ging weg.“

„Du hast es einfach nur falsch angepackt, das ist alles.“

„Ach, ich habe es falsch angepackt, ja? Seit frühester Jugend bin ich Händler. Und nun kommst du ... ohne Erfahrung in meinem Metier ... “ Er verschränkte die Arme vor der Brust.

Jeremias grinste und ging zu dem Wagen. „Ich kenne einige Leute hier. Komm’ einfach mit.“

„Nein, Junge, der Wagen ist doch viel zu schwer für dich. Ich werde ihn ziehen, dann kannst du ... “

Doch Jeremias warf sich gegen die Deichsel, krallte sich mit seinen Zehen in den erdigen Untergrund und alsbald löste sich das Gefährt mit einem schmatzenden Geräusch. „Ich weiß, wo du am besten etwas verkaufen kannst. Folge mir einfach.“

Nun erlebte Philipp sprachlos, was der Junge meinte. Jeremias kannte viele der Frankfurter Bürger und diese waren ihm wohlgesonnen. Kaum hatte er an eine Tür geklopft, begann er ein munteres Gespräch und hatte bald etwas von den Tuchen verkauft. Nachbarn kamen herbei, der Wagen leerte sich — noch vor Mitternacht war alles verkauft. Philipp konnte es nicht glauben. Die an ihn gestellten Erwartungen waren mehr als erfüllt. Das erste Mal seit Monaten vernahm er so etwas wie Zuversicht; ein fremd anmutender Geschmack auf seiner Seelenzunge.

Kerker aus Licht und Schatten

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