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Kapitel 2: Die Prüfung

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Noch bevor die Sonne aufging, holte Philipp — zur nicht geringen Überraschung der Leiterin — Jeremias aus dem Waisenhaus. Er eilte sich geeignete Kleidung für den Jungen zu finden und ging daraufhin zusammen mit ihm ins Kontor zu Herrn Lösser, der wie stets sehr beschäftigt war. Als sich endlich der rechte Moment bot, trat Philipp vor den Buchhalter hin und reichte ihm mit einigem Stolz den am vorigen Abend erwirtschafteten Erlös. Philipp blinzelte, als Herr Lösser ungerührt das Geld einstrich und seine kleinen Dolchaugen, die durch Gläser unnatürlich verzerrt wurden, auf Jeremias richtete.

„Was soll der Knabe hier?“

„Er soll mein Lehrjunge sein.“

„Wozu braucht Ihr schon einen Lehrjungen? Ihr solltet lieber erst selbst festen Boden unter die Füße bekommen.“

Philipp verneigte sich leicht. „Mit Verlaub. Ich bin mir sicher, dass dieser Junge, Jeremias ist sein Name, dem Hause Brückfeld und auch meiner Wenigkeit gute Dienste erweisen wird. Er kann gut mit Leuten umgehen, kennt die Stadt und hat einen schnellen Verstand.“

„Den wird er auch brauchen!“ Der Ton war scharf wie Kalk auf der Zunge. Herr Lösser kratzte sich mit der Schreibfeder auf seiner Glatze. „Dann kommt mit. Vielleicht gewährt Euch Meister Brückfeld eine Audienz. Achtet auf Eure Haltung, kann ich Euch nur raten. Der Meister schätzt es nicht, mangelndem Respekt in Form von Schlaffheit zu begegnen.“

„Selbstverständlich!“

Philipp wandte sich zu Jeremias, der heftig nickte. Dem Jungen war in seiner neuen Kleidung nicht wohl. Sie kniff und juckte. Außerdem war er nicht an Schuhe gewöhnt und fühlte sich beim Gehen unsicher.

Herr Lösser schloss eine Tür auf, die zu der Beletage führte, welche der Familie Brückfeld vorbehalten war. Er führte sie in die große Empfangshalle. Der weite, mit Fresken und Schnitzereien verzierte Raum erinnerte Jeremias an ein Blätterdach im Wald, da das Sonnenlicht durch grüne Fenster fiel. Der Buchhalter führte sie an das Kopfende des Saales, wo Jeremias Meister Brückfeld erkannte, der in einem mit bunten Ornamenten versehenen Stuhl thronte. Jeremias war beeindruckt von der Körperfülle des Kaufmanns, die noch durch wallende Gewänder aus Samt aufgebläht wurde. An den Fingern, die an Schweinepenisse denken ließen, trug Brückfeld edelsteinbesetzte Ringe, wie farbenfrohe Geschwüre.

„Meister Brückfeld“, sagte Herr Lösser, „erinnert Ihr Euch noch an den niederländischen Kaufmann Jansen, der wünschte, in Eure Dienste zu treten?“

„Möglich!“

„Wie vortrefflich. Nun, um Eure werte Zeit zu schonen: Herr Jansen hat die Menge an Geld, die Ihr verlangtet, verdient. Ich denke, dass wir ihn ein Jahr auf Probe einstellen können.“

Philipp und Jeremias verneigten sich tief. Jeremias erkannte keine Regung auf Brückfelds Zügen. Konnten die Gesichtsmuskeln den Antlitzbrei nicht bewegen?

Brückfelds Penisfinger strichen nachdenklich durch den Bart. „Nun denn, setzt einen Vertrag mit ihm auf, Lösser. Salär wie üblich. Aber was will der kleine Straßenköter an seiner Seite in meinem Haus?“

Der Buchhalter wandte sich mit strenger Miene zu Philipp und bedeutete ihm selbst zu antworten.

Der Niederländer reckte sich: „Mit Verlaub, ähm ... verehrter Meister. Der Name des Jungen ist Jeremias. Er ist Waise und ich traf ihn gestern. Ich war sehr angetan davon, wie er mir zur Hand ging und ich ... ja, ich bin davon überzeugt, dass er uns allen gute Dienste leisten wird.“

Jeremias schaute, wie Philipp es ihm geraten hatte, demütig zu Boden und hielt die Luft an, während seine Hände sich zusammenballten. Brückfelds Stimme traf ihn wie eine Ohrfeige.

„Es interessiert mich nicht, wovon Ihr überzeugt seid, Jansen. Und auch nicht, warum Ihr diesen Streuner aufnahmt. Den habt Ihr wohl erst heute Morgen entlaust und in diese lächerlich zu kleinen Klamotten gesteckt.“

Philipp wankte einen Schritt zurück und sog zischend die Luft ein. „Gewiss ... gewiss, Meister, Ihr ... habt vollkommen recht, wenn Ihr Euch noch etwas Bedenkzeit ... “

„Kann er lesen oder schreiben oder rechnen?“

Philipps Augen zuckten zu Jeremias und nahmen einen traurigen Ausdruck an, als der Junge nur zögerlich seinen Kopf schüttelte.

Brückfelds Gesichtsfett verzog sich hämisch, er lachte. „Ha, das ist ja wohl ... “

„Papa? Papa!“

Der Kaufmann verstummte und sein Kopf schwenkte zu einer Tür, durch die ein Mädchen mit einer älteren Dame hinter sich hereingeschritten kam. Jeremias war verwundert, weil sich das Kosewort für Vater bei Brückfelds Tochter anhörte, als hätte ein kleiner Vogel beide Silben in einem trillernden Staccato gezwitschert. Die Laute schienen aus ihrem Mund hervorzublitzen.

„Papa, ich habe mit Louise ein neues Stück einstudiert. Du musst es dir sogleich anhören. Kommst du? D’accord?“

Meister Brückfeld leuchtete und dies lag nicht nur an dem öligen Schweiß, der aus seinen Poren strömte.

„Judith, mein kleiner Schatz. Wie schön, dass du hier bist. Ein neues Stück? Wunderbar! Sobald ich kann, komme ich in dein Gemach.“

„Aber du musst sofort kommen. Tout de suite. Jetzt ist das Licht besonders exquisit, was die Wirkung der Musique nur noch mehr unterstützt.“

Es waren nicht die kostbaren golddurchwirkten Kleidungsstücke, die Jeremias in ihren Bann schlugen; auch nicht das kupferfarbene Haar, welches Judiths Schneegesicht umflammte, aus dem zwei kleine Gletscher blitzten; es war ihr Inneres, ihre Seelenlandschaft, welche seinen Blick gefangen hielt. Obwohl eine dichte Hecke die Sicht abschirmte und dem Betrachter nur gelegentlich einige Sichttupfer erlaubte, kündeten diese funkelnden Teilstücke von etwas, was Jeremias niemals zuvor gesehen hatte. Er schaute auf die Holzdielen zu seinen Füßen. Hitze kroch in seinen Körper.

Brückfeld streichelte Judiths Wange. „Ich möchte doch auch sehr gerne zuhören, aber ein Kaufmann muss auch seiner Arbeit die nötige Zeit widmen. Das verstehst du doch, Matscherie?“

Judith vollbrachte es, ihr Haupt und ihr Kinn noch ein Stück weiter zu heben. „Das heißt ma Chérie, Papa. Du betonst es falsch: Ma Chérie!“

„Aber gewiss doch.“ Nun wandte er sich an die drei männlichen Zuhörer: „Hört ihr, wie schön mein kleines Engelchen Französisch spricht? Seit dem frühen Tod ihrer Mutter ist unsere Zofe Louise an ihrer Seite und unterrichtet sie. Na, hört sie sich nicht an wie eine richtige Edelfrau, eine kleine Dütschess?“

Judith holte kurz Luft, unterließ es jedoch ihren Vater erneut zu verbessern. Stattdessen fragte sie: „Wer sind diese Leute, Papa?“

„Dies ist Herr Jansen aus Amsterdam.“

„Très joli, Monsieur Jansen“, sagte sie.

Philipp verbeugte sich. „Enchanté, Mademoiselle Brückfeld. Euer Französisch klingt, als käme es direkt aus Paris.“

Ein leichtes Schmunzeln umspielte die Züge des Mädchens. „Merci, Monsieur. Und wer ist der ... Junge hier?“

Jeremias’ Schultern schmerzten, als sich diese noch mehr verkrampften. Er wagte es nicht emporzublicken, obwohl er sich nach Judiths Anblick sehnte. Die Spannung zerquetsche ihn.

Sie kicherte leise. „Er scheint sehr schüchtern zu sein.“

Philipp eilte sich zu antworten: „Sein Name ist Jeremias. Er kommt auch aus dieser Stadt. Vielleicht habt Ihr ihn schon einmal ... “

„Wohl kaum!“ Meister Brückfelds Stimme glich dem Schnauben eines Pferdes. „In die Gegend um das Waisenhaus herum würde meine Tochter keinen Fuß setzen — schmutzig und verkommen. Pah!“ Nun richtete der Kaufmann seinen Zeigepenis auf Jeremias. „Er ist so alt wie du, mein Liebling, aber nicht in der Lage, seinen eigenen Namen zu Papier zu bringen. Siehst du, wahrer Stand zeichnet sich stets durch Verstand aus. Auf dich wird einmal ein Prinz warten.“

Jeremias hoffte, dass niemand bemerkte, wie das Blut in seinem Gesicht kochte. Warum muss er mich ausgerechnet vor ihr derart herabsetzen? Scham bohrte sich in sein Fleisch, wütete in seinen Adern, bis es sich in seinen Eingeweiden verfing und diese hinab zerrte. In seiner Not wollte er instinktiv die Hecke um Judiths Seelenlandschaft mit seinem inneren Auge durchdringen. Was dachte sie über ihn? Doch stets waren Zweige im Weg.

Judiths Stimme war plötzlich schrill: „Papa, er ... er sieht mich an. Sage ihm, dass er dies unterlassen soll. Es ist mir ... unheimlich.“

Brückfeld blinzelte irritiert. „Aber er guckt doch die ganze Zeit nur zu Boden.“

„Nein, Papa, er betrachtet mich. Horrible!“

Kalter Schweiß plätscherte über Jeremias’ Nacken. Er konnte sich nicht von der Hecke lösen. Etwas Wunderbares musste auf der anderen Seite liegen, er konnte nicht aufhören. Warum gaben die Zweige nicht nach?

Meister Brückfeld erhob sich. „Mein Engel, ich komme sofort mit dir mit. Dieser Umgang ist nichts für dich.“

Philipp räusperte sich, aber der Meister kam ihm zuvor.

„Jansen, der Bengel kann die nächsten drei Monate für mich arbeiten, aber ohne Bezahlung — Ihr müsst ihn verpflegen. In dieser Zeit soll er alles lernen, was man als Kaufmann beherrschen muss. Gelingt es ihm, stelle ich ihn ein; wenn nicht, will ich ihn nie mehr wiedersehen. Haben wir uns verstanden? Bis dahin soll er zeigen, dass er zupacken kann. Lösser wird ihm Arbeit zuweisen.“ Daraufhin folgte Brückfeld seiner Tochter zur Tür, die in die Familiengemächer führte.

Philipps Rumpf klappte ergeben nach vorne. „Habt Dank, Meister, für Eure Großzügigkeit.“ Seine Worte erstarben wie mattes Laub im Herbst.

Jeremias konnte wieder freier atmen. Mit einer Hand wischte er sich das kühle Salz aus dem Genick.

Lösser war sogleich bei ihm: „Heute ist neue Ware gekommen, die eingelagert werden muss. Sag’ dem Vorarbeiter bei unserem Magazin, dass ich dich schicke!“

So machte sich Jeremias auf den Weg.


Der Vorarbeiter verzog angewidert das Gesicht: „Was willst du halbe Portion hier? Ich kann keinen gebrauchen, der meinen Männern zwischen den Beinen herumläuft. Die Säcke müssen schnell abgeladen und in den Keller gebracht werden.“

„Lasst mich nur machen. Ich zeige Euch, dass ich arbeiten kann.“ Er musste diese Möglichkeit nutzen: Lehrjunge bei einem Kaufmann — dies hatte er sich noch nicht einmal erträumt. Er würde nicht an ein paar dummen Säcken scheitern.

Der Vorarbeiter spuckte aus. „Mal sehen, was in dir steckt, Kleiner.“

Der Mann grinste breit, doch bald formte sein Mund ein großes Loch, als der Junge geschwind einen Sack emporhob und sich zu den anderen Männern gesellte — für Jeremias war der Sack nicht schwer, er hatte schon härter gearbeitet.

Im Magazin klaffte vor ihm eine steile Steintreppe, die nach unten führte. Er füllte seine Lungen, als tauchte er sogleich unter Wasser; er hasste unterirdische Gewölbe. Mit jeder Stufe, die er nahm, wurde sein Herz mehr zu einer panischen Pauke. Jeremias musste sich überwinden, den Männern vor ihm zu folgen. Jetzt erst holte er erneut Luft, wieder, noch einmal, aber es half nichts; die Steinwände um ihn herum kamen auf ihn zu und drückten auf seine Brust. Eine Hand schien seine Kehle zuzupressen, sodass er kaum schlucken konnte. Ein leises Zittern durchbrach mehr und mehr die Stärke in seinen Beinen. Bleib’ ruhig, ruhig. Du darfst nicht aufgeben. Du darfst es nicht verderben. Philipp hat so viel für mich gewagt ... Fackeln dort vorne ... Licht ... Endlich hatte Jeremias die Lagerstatt erreicht, wo er den Sack ablegen konnte.

Als er mit dem zweiten Sack beladen war, wusste er bereits, was auf ihn zukam. Er konzentrierte sich auf das Licht der Fackeln, die Freiheit versprachen. Sie durften niemals ausgehen, ansonsten ... nein, daran durfte er nicht denken. Der Keller wurde erträglicher.

Mit der Zeit erkannte er, dass sein Vordermann immer stärker hinkte. Bald konnte Jeremias nicht mehr mit ansehen, wie sich der andere schund. Dessen Schmerz schwappte verstärkt zu ihm hinüber.

„Warum ruhst du dich nicht aus? So kannst du nicht mehr lange weitermachen.“

„Was du Rotzlöffel nicht sagst!“ Sollte die Antwort rau klingen, so machte ein Keuchen diesen Versuch zunichte. „Falle ich jetzt aus, ist mein Lohn dahin.“

Jeremias atmete lange durch die Nase aus. „Jemand anderes könnte deine Arbeit mitmachen.“

„Wer soll das denn für mich machen?“

Bei einem der Wagen rief Jeremias zum Vorarbeiter: „Herr, lasst bitte zu, dass sich dieser Mann ausruht. Er hat ein schlimmes Bein und könnte stürzen“

Der Vorarbeiter spuckte erneut aus. „Und wer soll dann seine Arbeit machen? Wir müssen schnell ausladen, es regnet immer stärker.“

„Ich werde seine Säcke tragen. Meine Beine sind gesund.“

„Jetzt fang’ nicht an zu spinnen!“, sagte der Vorarbeiter. „Wie willst du das ... “

Jeremias hob einen Sack auf seine Schulter, ging in die Knie, griff nach einem zweiten, atmete ein und wuchtete das ganze Gewicht nach oben — schwer, aber es ging. Nicht nur der Vorarbeiter war sprachlos, auch die anderen Männer blieben stumm stehen und beäugten Jeremias.

Eine Stunde später war alles erledigt. Jeremias wollte gehen, doch da legte der verletzte Arbeiter die Hand auf seine Schulter.

„Junge, wie hast du das vollbracht? Tausend Dank dafür. Warum tatest du dies für mich?“ Seine Augen waren zwei tiefe Brunnen, die hofften, dass man eine Antwort in sie hinabließe.

„Ich merkte, dass du in Not warst. Da wollte ich helfen.“

Der Mann konnte nichts erwidern und lächelte nur dankbar.


Am Sonntag fand Philipp Zeit, Jeremias zu unterrichten. Mit Kreide schrieb er die ersten fünf Buchstaben des Alphabets auf eine kleine Schiefertafel. „Schreibe sie nach und präge sie dir ein.“

Jeremias’ Finger vibrierten. Unglaublich. Ich lerne wirklich Schreiben. Trotz der Freude fühlte er die Sorge in Philipp, die wie eine hungrige Motte in dessen Inneren umherflog und am Nervengewebe nagte: Nur drei Monate blieben — unmöglich alles in dieser Zeit zu erlernen.

Jeremias probierte die ungewohnten Handbewegungen aus und nach einiger Zeit gelang es ihm, die fünf Buchstaben sauber niederzuschreiben. Es ist gar nicht schwer.

Philipp brummte zufrieden und gab Jeremias fünf weitere Buchstaben zum Lernen, dann tätschelte er Jeremias’ Oberarm und ging schlaff an seine eigene Arbeit. Die Sorgenmotte hatte Junge bekommen.

Eine Woche später zeigte Philipp Jeremias den Rest des Alphabets. Der junge Schüler schrieb die Lettern eifrig. Die Schrift wurde immer sicherer und geschwinder. Philipp spitzte die Lippen.

„Du kannst dich wahrlich noch gut an die Buchstaben vom letzten Mal erinnern. Sprich sie einmal aus.“

Jeremias antwortete sofort. Sofort richtig. Der Niederländer fragte nach weiteren Buchstaben, aber auch hier entgegnete der Schüler korrekt.

„Nun werde ich dir einmal einige Worte zum Lesen geben. Vielleicht kannst du sie aussprechen.“

Es dauerte, aber mit ein wenig Hilfe, las Jeremias die Worte laut vor.

„Gut, du machst das wirklich hervorragend. Ich hätte nicht gedacht, dass du dermaßen schnell lernst.“

Der Junge strahlte.

„Wie würdest du die folgenden Worte schreiben, die ich dir sage?“, fragte Philipp.

Jeremias schrieb so gut er konnte, und mit der Zeit musste Philipp immer weniger berichtigen, da sein Schüler keinen Fehler ein zweites Mal beging.

Den folgenden Sonntag war Philipp auf einer Handelsreise, sodass der Unterricht ausfiel. Zurückgelassen ließ Jeremias seinen Blick durch die winzige Kammer schweifen, die er mit dem Älteren teilte, und erspähte eine kleine Fibel. Kurz darauf hatte er das Büchlein geöffnet vor sich liegen. Die gedruckte Schrift war ungewohnt. Nicht leicht ... aber ja, das muss dieser Satz bedeuten ... und der nächste ... Die Herztrommel ließ seine Brust pulsieren. Er konnte die Augen nicht mehr von dem Text nehmen, den er schneller und schneller durchmaß, bis das Buch zu Ende war. Er begann erneut. Dieses Mal blieb noch viel mehr in seinem Geiste haften. Ein fiebriges Lächeln bemächtigte sich seines Mundes. Er nestelte ziellos an seiner Kleidung herum, da sein Kragen zu eng geworden war. Hatte er tatsächlich soeben dieses Buch gelesen? Er? War dies möglich? Aber er hatte alles vor sich. Er brauchte noch mehr Luft, noch mehr Atem. Seine Zunge war pelzig, aber er vernahm keinerlei Durst. Er legte sich auf sein Lager und betrachtete die holzwurmverzierte Decke. Er lachte und ließ zufrieden seinen Brustkorb herabsinken, während er ausatmete.

Die harte Arbeit während der Woche fiel ihm nun noch leichter, da er sich auf den Sonntag freute.

Am nächsten Sonntag holte Philipp stolz die Fibel hervor: „Das habe ich für dich vor einigen Tagen erstanden. Mal sehen, ob wir zusammen die erste Seite schaffen.“

„Das sollte kein Problem sein. Auf der ersten Seite steht Folgendes ... “

Er fing an zu rezitieren. Philipps Gelassenheit zerbröckelte, als er gewahr wurde, dass Jeremias Wort für Wort alles aufsagte, was in der Fibel stand. Jedwede Bewegung war aus der Mimik des Niederländers gewichen. Er war nicht fähig, den unteren Kiefer nach oben zu ziehen.

Jeremias hörte auf, strich verlegen über seine Stirn. „Es tut mir leid, wenn ich dich enttäuscht habe. Aber ich habe das Buch schon gelesen, als du fort warst.“ Er trat von einem Fuß auf den anderen.

Endlich fasste sich Philipp. „Du hast das ganze Buch gelesen? Das ... das kann nicht sein. Wie hast du ... ?“

Doch Jeremias zuckte nur mit seinen Achseln. „Ich weiß es nicht, aber bitte gib mir mehr zu lernen. Es ist noch viel Zeit. Wir werden Brückfelds zeigen, dass Verstand nichts mit Reichtum zu tun hat.“

Philipp schluckte einige Male. Er hatte so etwas noch nie erlebt. Schließlich fuhr er mit dem Unterricht fort: Zahlen, Rechnen … die Grundlagen der Mathematik. — Jeremias meisterte es mühelos. Er verband, zerstückelte und verwob immer größere Beträge. Landkarten, Städte, Flüsse, Namen von Händlern — Jeremias schrieb das Gelernte aus dem Gedächtnis nieder.

Die Sonne hatte ihren höchsten Stand an diesem Tag erreicht. Noch immer umströmte Philipp Jeremias mit Wissen, doch der Junge fasste die Massen nicht nur, sondern sog mehr und mehr aus seinem Lehrer hervor. Eine heiße Begeisterung loderte zwischen ihnen, versengte den Sorgenmotten die Flügel und trieb beide voran.

„Kannst du mir deine Sprache beibringen? Ich möchte wissen, wie man in Amsterdam spricht“, bat Jeremias.

Die niederländischen Worte tanzten wie bunte Mosaiksteine durch seinen Geist; fügten sich erst langsam, kurz darauf immer flinker und schließlich rasend schnell zu wachsenden Teilen zusammen, bis sich das gesamte Bild vor Jeremias auftat.

Die Sonne stand nun dicht über dem Horizont. Doch noch länger als die Schatten draußen, waren Geduld und Eifer der beiden in der Kammer, wo sich ein Lernsturm entfaltet hatte.

„Beherrschst du auch Französisch?“

„Äh, ja ... aber willst du dies auch noch ... ? Ich meine, du hast heute schon so viel gelernt und ... “ Philipp keuchte.

„Wir haben noch den gesamten Abend“, sagte Jeremias. „Aber trink’ etwas. Deine Stimme ist bereits rau geworden.“ Er lachte.

Mit dem letzten Tageslicht flogen sie weiter voran. Jeremias’ Zunge musste sich mit den weichen Worten anfreunden, die ihm bald elegant über die Lippen sprudelten. Eine kleine Kerze war Zeuge, wie Jeremias und Philipp, der nur noch durch die Begeisterung seines Schülers wach gehalten wurde, auf Französisch parlierten. Schließlich jedoch ging Philipp erschöpft ins Bett.

Jeremias war indes noch nicht müde; er hätte die ganze Nacht hindurch lernen können. Noch immer hörte er die Brandung des Wissens, sah die angewachsene Welt um sich herum wie von einem hohen Berg herab.


Es dauerte noch fast einen Monat, bis Philipp es wagte, um eine Audienz bei Meister Brückfeld zu bitten.

Brückfeld saß grinsend zusammen mit Lösser als Examinator vor Jeremias und Philipp, die stehen mussten.

Der Oberbuchhalter eröffnete die Prüfung: „Vor dir liegen Korrespondenzen und Rechnungen aus dem Kontor. Du hast Zeit, bis die Sanduhr abgelaufen ist, alles zu studieren, die Rechnungen zu überprüfen und uns das Gelesene in deinen Worten zusammenzufassen. Trödele nicht herum.“ Mit diesen Worten wendete er die Sanduhr.

Jeremias vermeinte, ein spöttisches Rieseln zu hören. Er hob einen dünnen Dokumentenstapel auf, verbeugte sich und wollte gerade ansetzen, als ihn der Meister unterbrach.

„Halt, es fehlt noch etwas. Judith, komm’ bitte herein, mein kleiner Liebling.“

Die Privattür der Brückfelds öffnete sich und Judith kam mit Louise herein. Sie hatte eine Holzflöte bei sich.

Lachen blubberte aus Brückfelds Lippenwulsten: „Mein Töchterchen hat ein neues Stück zusammen mit Louise, die eine wunderbare Stimme besitzt, eingeübt. Ich beschloss, dies mit euch zu teilen. Bitte beginnt.“

Judith hob ihr Instrument zum Mund und kurz darauf durchstachen schnelle Flötentöne den Raum. Als auch noch die Zofe einstimmte, war die Luft derart durchtränkt von Musik, dass Jeremias das Atmen schwerfiel.

Philipp räusperte sich. „Mit Verlaub, Meister Brückfeld. Ist dies denn unbedingt notwendig, wenn Jeremias nun etwas Ruhe benötigt, um ... ?“

„Sicher ist es vonnöten. Bei einer Messe ist es auch nicht klosterstill. Er muss zeigen, dass er dem Handwerk eines Kaufmannes auch in dieser Lage gewachsen ist. Er sollte lieber anfangen. Der Sand wartet nicht auf ihn.“

Jeremias vertiefte sich in das Geschriebene, kämpfte darum, die Arme unter den Pulshieben ruhig zu halten. Die Schrift war verschnörkelt und an vielen Stellen undeutlich. Er musste einige Zeilen mehrmals wiederholen. Die Musik zwickte seine Augen, verwischte alles vor ihm. Was bedeutet dieses Wort? Noch nie gehört. Ist kein Deutsch. Jene Zahl war verschmiert. Eine Acht? Das Ergebnis stimmte nicht. Hatte er sich verrechnet oder der Urheber des Schreibens? Er musste es noch einmal nachprüfen. Das nächste Dokument. Hier war die Schrift noch schlimmer. Einige Passagen vermochte er nur zu erahnen. Was war die Botschaft? Die Flöte schnitt in sein Gehirn und der Gesang klatschte an seine Wangen. Das Kichern des Sandes blieb vernehmbar. Bald war bereits die Hälfte der Zeit abgelaufen, doch der größte Teil der Papiere war noch ungelesen. Die nächste Korrespondenz: die Zahlen schienen zu stimmen, Aussage klar; weiterer Bogen, mürbes Papier, Tinte nass geworden und ausgewaschen; ein Stapel war verschnürt, Knoten gemein, Blätter ungeordnet. Kalte Fäden flossen Jeremias Rücken hinunter. Da zerschlug die Flöte seine Konzentration und er zuckte zusammen. Judith war bei ihm und pfiff direkt in seine Ohren. Sie tanzte wie ein Irrwisch und wirbelte gar einige Seiten auf. Dieses verdammte Biest. Das bereitet ihr wohl Freude. Allein mit ihr würde ich diese vermaledeite Flöte über dem Knie zerbrechen und vor ihr im Kamin verheizen. Es nützte nichts, er musste sich sammeln. Weiter, weiter, nicht auf das Sandflüstern hören, nächstes Dokument, Schrift besser, Rechenfehler auf der vierten Seite, merken. Wo kam der zweite Teilhaber her? Erklärung in der Folgekorrespondenz suchen. Der Sand feixte bereits. Wie viele Blätter waren es noch? Dieses Blatt hier kenne ich. Ist es eine Abschrift des vierten? Ja, es gleicht ihm. Nein! Hier ist noch eine zusätzliche Notiz. Oh mein Gott, dies ändert alles. Ich muss noch einmal zurück ...

Die Musik verstummte und lautes Klatschen erscholl.

„Das war fabulös, meine kleine Dütschess“, johlte Brückfeld. „Ausgezeichnet. Hier klingt es noch besser als in deinem Gemach.“ Er streichelte seine Tochter und küsste sie.

Der stille Sand grinste Jeremias an. Die Zeit war um.

Herr Lösser kratzte sich die faltige Stirn. „Dann wollen wir doch einmal sehen, was der Knabe uns zu erzählen hat. Zeige er uns, ob im Kontor richtig gerechnet wurde.“

Jeremias benötigte einige Zeit, um die Seiten aufzulesen. Er trat vor. Wie passte diese Notiz zu dem Gesamten? Diese kleine unauffällige Randbemerkung. Fünf Augenpaare tasteten ihn ab — nur eines war ihm wohlgesonnen.

„Es handelt sich um die Korrespondenz mit Kaufleuten aus Nürnberg und Lübeck. Wir haben ... “

„Sage er uns doch, wie man nach Nürnberg und Lübeck reist. Welche Städte, Gebirge und Flüsse passiert man?“

Jeremias sagte alles auf.

„Welche Nebenflüsse haben Rhein und Donau?“, fragte Lösser. „Welche sind schiffbar? Was sind unsere wichtigsten Handelspartner in den Regionen? Welche Waren führen sie?“

Jeremias gab sich keine Blöße.

Herr Lössers Miene quetschte sich zusammen. Seine dürren Finger deuteten fordernd auf die Dokumente.

„Jetzt soll er uns einmal aufrechnen, ob alles stimmt. Ein Kaufmann muss vor allem rechnen können.“

Jeremias suchte die Seiten, auf denen ein Rechenfehler war. Was bedeutet nur diese Randbemerkung im letzten Schreiben? Er war so dicht davor. „An dieser Stelle ist mir aufgefallen, dass der fünfte Betrag nicht mitgerechnet wurde. Wir haben den Nürnbergern einen halben Gulden zu wenig entrichtet.“

Der Buchhalter stockte. Vielleicht hätte er sich zu einem lobenden Nicken herabgelassen, aber Meister Brückfeld blaffte los: „Was willst du werden, Junge, Erbsenzähler? Ein halber Gulden, lächerlich. Außerdem haben wir den auf unserer Habenseite. Ein Händler weiß dies einzuschätzen. Was kümmert uns das? Du hast nur unsere Zeit vertrödelt.“ Er warf den Kopf in den Specknacken und lachte los.

Philipp wollte einen Schritt nach vorne machen, doch der Meister machte eine flapsige Handbewegung. „Geh’ zurück in deine Gosse und ernähre dich von dem, was Leute wie ich dir zuwerfen.“

Jeremias’ Hals war geschwollen. Jeder Sprung des Adamsapfels schmerzte. Das sollte es wirklich gewesen sein? Alles vorbei? Er blickte Judith nicht an. Er ertrug es nicht. Schleppend wandte er sich ab ... da war es! Die Randnotiz! Er wusste es. „Wenn Ihr erlaubt, Meister Brückfeld, so wäre es mir eine Freude Euch zu zeigen, wo Euer Haus Anderthalbtausend Gulden jedes Jahr bei den Lübeckern liegen lässt.“

Lösser schniefte abwertend. „Das hätte ich doch wohl gesehen. Eine solche Summe geht nicht einfach verloren.“

Jeremias entfaltete das Papier mit der Randbemerkung. „Es ist Euch wahrscheinlich nicht aufgefallen, weil Ihr nur das Duplikat ohne diese Notiz in Augenschein nahmt.“

Brückfeld verzog das Gesicht. „Was soll dies für eine Notiz sein?“

„Sie besagt, dass die Hanse in Lübeck uns gewisse zugesicherte Leistungen noch nicht erbringen konnte, da sie nicht genügend Schiffe und Lagerplatz dafür hat.“

„Schön! Und was soll das ändern?“

„Dies führt dazu, dass die Miete, die Ihr bezahlt, zu hoch angesetzt ist. Ebenso ging Euch eine Kaution über all die Jahre verloren, die Ihr nicht gewinnbringend einsetzen konntet. Der Schaden beläuft sich über die letzten fünf Jahre hinweg auf fast achttausend Gulden.“

„Das kann nicht sein. Was für ein Unsinn! Lösser, zeigt diesem Gernegroß, dass er nur spinnt.“

Der Buchhalter rechnete, wendete Seite um Seite, machte sich Notizen. Zögerte … Ein blitzender Schweißtropfen rollte seine Glatze hinab.

„Lösser, nun sagt doch endlich, dass alles richtig ist.“

Doch der andere atmete einige Sekunden aus, nahm seine Augengläser von der Nase und legte sie auf den Tisch.

„Meister ... ich ... ich fürchte, der Junge hat recht. Die Lübecker haben uns nicht darauf hingewiesen, dass wir ihnen zu viel zahlen. Es handelt sich um eine hohe Summe.“

Die Lübecker wussten dies eben einzuordnen.

Brückfelds Mund arbeitete, doch Lösser nickte energisch. „Ich rate dazu, diesen Knaben einzustellen. Er lernt schnell und scheint unser Gewerbe zu erfassen.“

Brückfelds Pranken klatschten auf den Tisch. „Gut, so sei es. Stellt ihn auf Probe ein. Salär wie gewohnt. Aber wehe, mir kommen Klagen zu Ohren.“

Jeremias verneigte sich und sah zu Judith. Sie begegnete seinem Blick. Jeremias erkannte ihren Ausdruck; es war der Ausdruck, den Frauen häufig zur Schau stellten, Frauen, die auf einem Markt prüften, ob eine Frucht bereits reif war.

Kerker aus Licht und Schatten

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