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Kapitel 3: Das Schoßlos

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April 1494. Die Welt hatte sich verändert. Die Herrscher von Kastilien und Aragon hatten ihre Ländereien zu einem spanischen Königreich der Christen vereint. Spanische Schiffe waren es auch gewesen, die die Neue Welt im Westen entdeckt hatten. Ein Weltreich war entstanden.


„Dies war wahrlich einer der besten Tage, die ich jemals in meiner Karriere genießen konnte.“ Philipp atmete tief ein, als wollte er die Luft dieses prächtigen Frühlingstages auf ewig in seinen Lungen bannen. Er schmunzelte dem hoch aufgewachsenen jungen Mann wohlwollend zu, der neben ihm ritt. Sie hatten soeben ihre Handelspartner nach der Ostermesse noch etwas auf deren Heimweg begleitet und gerade verabschiedet.

Jeremias löste das Lederband von seinem glänzenden Haar, das bis zu seinen Hüften floss. Seine lächelnden Zähne blendeten nahezu. „Ja, du hast recht. Wir haben eine schöne Menge Geld eingenommen. Unsere Freunde aus Hamburg waren derart zuvorkommend, dass sie uns ihre Waren beinahe schenkten. Wenn wir diese an die Augsburger verkaufen, bist du erneut der erfolgreichste Kaufmann in Brückfelds Diensten bei der Ostermesse. Eine Prämie wartet.“

„Das ist wahr, aber ein guter Teil davon steht dir zu. Ohne dich wäre ich während der letzten sieben Jahre nicht dermaßen erfolgreich gewesen.“

Jeremias legte verlegen den Kopf leicht schräg. „Hab Dank, aber du wirst die Prämie selber brauchen für die Mitgift deiner jüngsten Tochter. Nun hast du auch sie als letzte in eine wohlhabende Bürgerfamilie verheiratet.“

„Ja, endlich ist es vollbracht.“

„Alle haben gute Partien gemacht. Die erste Enkeltochter hast du bereits. Deine Gattin wäre stolz gewesen.“

Nun war Philipp verlegen. Seine Mundwinkel zuckten hilflos, als er über seine Augen wischte.

„Schade, dass du ohne Sohn bist, der etwas einbringt“, sagte Jeremias. „Es ist teuer für den Brautvater.“

„Wer sagt denn, dass mir mein Sohn nichts einbringt?“

Lange betrachtete Philipp Jeremias, der erst nicht verstand. Verschämt musste der Jüngere lächeln. Einige Minuten ritten beide wortlos nebeneinander her.

Schließlich fragte Philipp: „Woher wusstest du, dass die Hamburger nur in der einen Kiste Tuche von erster Güte hatten, und in den übrigen bloß bis zur dritten Lage? Sie hatten uns alles als beste Qualität angeboten.“

„Die beiden Söhne des alten Händlers, die mit uns verhandelten, waren eine Spur zu zuvorkommend.“

„Aber sie wussten nicht, dass ihr Vater die schlechteren Tuche hinzugepackt hatte. Sie waren beide aufrichtig überrascht, ja geradezu erbost, als sie es bemerkten.“

„Dann war es wohl doch ihr alter Herr“, sagte Jeremias. „Er wippte etwas nervös von Bein zu Bein.“

„Er saß die ganze Zeit über.“

„Die Augen waren unruhig, mit denen er uns beobachtete.“

„Er hatte den Hut dermaßen tief herabgezogen, dass man seine Augen nicht sehen konnte.“

Jeremias unterdrückte ein Grinsen. „Wahrscheinlich waren es seine Hände, die er nicht stillhalten konnte.“

Philipp schüttelte den Kopf. „Nein. Er bewegte sich die ganze Zeit über nicht. Dazu war er zu erfahren.“

„Was kann es wohl sonst gewesen sein? Ich weiß es nicht.“ Jeremias übertrieb seine gespielte Ratlosigkeit dermaßen, dass Philipp leise knurrte und seine Brauen zusammenzog. Dies brachte den Jüngling vollends zum Lachen.

„Du benutztest deine Gabe“, sagte Philipp. „Sagst du nicht stets, dass du sie nur in seltenen Fällen einsetzen willst, weil sie anderen Angst bereitet?“

„Gewiss, aber es war nur eine zarte Prise, ein Zwinkern.“

„Aber es reichte, um ihn alles zugeben zu lassen und uns einen gewaltigen Rabatt zu bescheren.“

„Er fürchtete eben um seinen guten Ruf. Wir sagten zu, dies alles als unglückliches Missverständnis zu behandeln. Es hätte ihn ruiniert, wenn es sich herumgesprochen hätte.“

„Dies ist ihm aber erst durch deine ... sagen wir, Mithilfe bewusst geworden, nicht?“

Jeremias wedelte leicht mit der Hand. „Dies war nur ein winziger Fingerzeig, der ihn zurück auf den tugendhaften Pfad brachte.“

Philipp schürzte die Lippen. „Rührend, wie du sein Seelenheil sicherst.“

Jeremias versteckte seinen Mund hinter einer Hand.

Nach einer Weile beäugte Philipp Jeremias’ nackte Füße, welche dieser vor sich auf den Pferderücken gelegt hatte. „Gefallen dir deine neuen Schuhe nicht, die ich vor ein paar Wochen wegen der Messe für dich anfertigen ließ?“ Seine Stimme war ernst geworden und enthielt einen vorwurfsvollen Unterton.

Jeremias wackelte mit den Zehen und schaute nicht auf; er wusste bereits, was nun kam. Mit vorgetäuschter Ahnungslosigkeit antwortete er: „Doch, sehr. Vielen Dank dafür. Sie haben mir gute Dienste geleistet. Aber ich wollte sie schonen und deshalb habe ich sie lieber in einen Leinensack gepackt.“

Philipps Miene prasselte wie kalter Regen an seine Wange. „Es ist vielleicht unüblich, aber noch duldbar, dass du fortwährend ohne Sattel reitest“, sagte Philipp, „aber an ordentlicher Kleidung solltest du es niemals mangeln lassen. Wir haben einen Stand zu wahren. Wohl kleiden wir uns nicht derart edel und farbenprächtig wie Adlige, aber stets müssen wir Solidität zum Ausdruck bringen. Da ist nichts zweckmäßiger, als gute Kleider.“

Jeremias wetzte seine Zunge an den Backenzähnen. Solidität war Philipps Lieblingswort, aber Jeremias mochte es nicht sonderlich — behäbig und langweilig war es. Eine Schildkröte konnte stolz behaupten solide zu sein, aber er hatte anderes im Sinn. Er wandte sich nun Philipp zu: „Du hast gewiss recht und ich werde meine Schuhe und mein gutes Hemd und auch meine besten Hosen wieder anziehen, kurz bevor wir in die Stadt zurückkommen. Solange wir mit Händlern zu tun haben, trage ich sie doch stets.“

„Du musst sie ständig tragen, weil du auf das Unerwartete gefasst sein musst. Vor zwei Monaten war Herr Lössers Ausdruck nicht gerade wohlwollend, als du barfuß in der Gesindeküche warst und deine Geschichten erzähltest. Das hat keinen soliden Eindruck hinterlassen. Doch dieser ist in unserem Gewerbe unabdingbar. Jeder Moment zählt.“

„Ich kann es nicht fassen. Für dich und die anderen Kaufleute ist die Aufmachung eines Menschen alles, danach urteilt ihr. Bevor du einen schlecht gekleideten Kollegen an deinen Tisch ließest, nähmest du gewiss lieber vorlieb mit einem in Hermelin gewandeten Esel.“

„Jeremias!“ Philipps Gesicht leuchtete purpurn. „So ist nun einmal die Welt. Ich habe sie nicht gemacht.“

Jeremias verdrehte die Augen. „Wenn sie mich wie einen Bettler bezahlen, kleide ich mich auch wie ein solcher. In den ganzen Jahren haben sie meine Bezahlung nicht einmal erhöht. Ich bin längst volljährig und verdiene noch dasselbe wie ein Lehrjunge. Wovon soll ich mir teure Kleidung leisten? Wenn du mich nicht unterstütztest, trüge ich noch die Hosen aus dem Waisenhaus. Ich kann mir keine eigene Kammer leisten und schlafe neben dir, weil die Miete, die Brückfeld verlangt, derart hoch ist.“

Philipp seufzte. „Ja, ich weiß. Es ist nicht richtig. Aber sei versichert, dass sich schon alles fügen wird. Manches braucht vielleicht ein wenig länger.“

Jeremias setzte sich nun aufrecht hin und stemmte eine Hand in die Seite. „Etwas länger? Ich bin nun sieben Jahre in Brückfelds Diensten und nicht einmal ... “

Philipp hob abwehrend die Hand. „Ich werde mit dem Meister sprechen, wenn wir unsere Handelsabkommen darlegen müssen. Da wird er gewiss guter Dinge sein. Ich werde mich dafür einsetzen, dass du gemäß deiner Verdienste entlohnt wirst. Jetzt beruhige dich.“

Jeremias brummte noch einmal, aber er entspannte sich allmählich. Er mochte es eben, den warmen Pferdekörper unter sich an seiner Haut zu spüren, das Fell zwischen seinen Zehen. Er hätte nicht einmal Zügel benötigt. Sein Pferd wusste stets, wohin er wollte, so wie er fühlte, was das Tier bedurfte. Warum sollte er bei dem Vierbeiner nicht vollbringen, was er bei einem Menschen vermochte?


Zur Mittagszeit kamen die beiden in der Stadt an. Jeremias hatte Hunger und so lief er sogleich zur Gesindeküche, wo ihn die Köchin herzlich begrüßte.

„Jeremias, mein Junge. Schön dich zu sehen. Komm, setz dich. Ich gebe dir eine gute Kelle Suppe. Vielleicht kannst du uns ja eine Geschichte erzählen.“

Bei den kauenden Mägden und Knechten ging Begeisterung reihum. „Ja, eine Geschichte! Erzähle von deinen Reisen!“

Langsam begann Jeremias mit seiner Erzählung. Alle schauten zu ihm hin, einige vergaßen gar zu kauen. Die Art, mit der er sprach, schuf lebendige Bilder vor den anderen. Er spielte auf seinem Publikum wie auf einem Instrument: Zupfte er eine bestimmte Saite, schrien drei Mägde auf, eine andere Saite und die Männer lachten, schlug er sie zusammen an, ertönte ein Raunen. Er liebte dieses Gefühl, wenn er zum Höhepunkt einer Geschichte fortschritt, doch dieses Mal unterbrach ihn ein Kollege.

„Jeremias, wir brauchen dich dringend im Kontor. Herr Lösser will geschwind die Einkünfte der Ostermesse wissen. Wir schaffen es nicht allein.“

Der junge Eindringling bemerkte in seiner Sorge nicht die enttäuschten Augenpaare, die sich verärgert auf ihn richteten. Jeremias betrachtete sehnsüchtig die Suppe, die er noch immer nicht angetastet hatte.

In der Rechenstube angekommen ließ er sich alle Belege geben und begann die Gesamtabrechnung aufzusetzen. Er wusste, wo welche Preislisten, wie die Währungen nach dem gegenwärtigen Stand ineinander umzurechnen und wie die Wechsel einzulösen waren. Seinen Arbeitskameraden gab er schnell genaue Anweisungen. Kaum war die Aufstellung vollendet, wurde Jeremias in die Versammlungshalle gerufen. Er sehnte sich nach einer Suppe.

Zusammen mit Philipp und den zahlreichen übrigen Untergebenen, die für Meister Brückfeld auf der Messe gearbeitet hatten, stand der Jüngling vor dem Prunksitz des Dienstherrn. Während der vergangenen Jahre hatte sich der Großkaufmann gewissenhaft gemästet, sodass sein Fleischgelee bereits um die Armlehnen herum quoll. Von einem Teller neben sich nahm er mit der Hand gebratene Geflügelteile, nagte das Fleisch von den Knochen und ließ es in seinem Schlund verschwinden. Die Reste warf er den beiden Hunden zu seinen Füßen hin. Buchhalter Lösser stand nur wenige Fuß von seinem Herrn entfernt.

Brückfeld fragte Lösser soeben: „Hat der Schmittler mehr verdient als bei der Herbstmesse? Hat er seine Vorgaben erfüllt?“

„Nein, Meister.“

Brückfelds beringte Penisse kratzen über sein öliges Backenfett. „Man kürze ihm den Lohn um dieselben Prozentpunkte, die er nicht erbracht hat. Weiterhin keine Prämien für ihn in diesem Jahr. Der Nächste.“

Schmittler war kurz davor zu zerbrechen. Mit steifen Gliedern kehrte er in die Reihen der anderen zurück.

Diese Prozedur erfolgte während der folgenden zwei Stunden, bis die Reihe an Philipp und Jeremias war. Der Niederländer begann mit seinen geordneten Ausführungen. Lösser hielt die Bilanz vor sich und nickte stumm.

„Und, Lösser? Hat mich wenigstens unser Jansen nicht enttäuscht?“ fragte Brückfeld.

„Meister, Herr Jansen konnte seine Gewinne beinahe verdoppeln. Er ist Euer erfolgreichster Händler.“

„Tüchtig, tüchtig. So etwas hat man gern.“

Philipp ließ ein vorsichtiges Hüsteln erklingen und verbeugte sich verspannt. „Wenn Ihr erlaubt, Meister Brückfeld. Dürfte ich das Wort an Euch richten?“

„Es sei ihm gewährt.“

„Nun ... ähm ... ich möchte mich aufrichtig für Euer Wohlwollen und Eure Anerkennung erkenntlich zeigen. Wie Ihr Euch gewiss noch erinnern könnt, ist es nur Eurer Großzügigkeit vor einigen Jahren zu verdanken, dass ich den heutigen Erfolg erleben durfte.“

„Dies nehme ich gern entgegen. Was weiter?“

Philipp zupfte an seiner plötzlich zu engen Kleidung.

„Auch Eurer Generosität war es geschuldet, dass mein teurer Begleiter Jeremias Aufnahme in Euer Haus fand. Ich möchte sagen, dass er sich in den vergangenen Jahren weitaus mehr als nur bewährte. Er ist mir unentbehrlich bei meiner täglichen Arbeit geworden.“

„Gut zu hören. Dann zahlt er sich demnach langsam aus.“

Jeremias’ Finger pressten sich taub in seiner Faust. Seine Kiefermuskeln schmerzten bereits, doch er hielt seinen Blick zu Boden gerichtet.

Philipp nahm einen tiefen Atemzug. „Meister Brückfeld, wie Ihr seht, hat sich mein junger Schützling in den letzten Jahren vorzüglich entwickelt. Und ich ... nun ja, ich denke ... dass er sich wahrlich verdient machte. Hieltet Ihr es nicht auch für angebracht, ihm den nächsten Schritt zu ermöglichen?“

Der Fettkoloss hielt inne. Seine Augen pressten sich zusammen, doch er kaute ruhig an seinem Fleisch weiter. Stille hatte sich wie eine gewittrige Schwüle über den Saal gelegt. Schweigen knisterte. Brückfelds mit Marinade verschmierter Mund verzog sich zu einem Grinsen. „Ihr meint also, Jansen, dass unser Gossenknabe seiner Lehrlingshose entwachsen wäre?“

Philipp befeuchtete seine Lippen. „Er verfügt wahrlich über Qualitäten, die ihn gegenüber jedermann auszeichnen. Ich würde mein vollstes Vertrauen in ihn setzen, wenn ... “

„Oh, ich habe Vertrauen in ihn. Fürwahr. Ich habe Vertrauen. Ihr glaubt ja gar nicht, wie viel Vertrauen ich bereit bin, in andere Menschen zu setzen. Ich setzte mein Vertrauen auch in zahlreiche der jungen Leute, die jeden Tag an meine Pforte klopfen, um in meine Dienste zu treten. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, Jansen, welcher Begabung man in Frankfurts Jugend begegnet.“

Philipp schluckte laut. „Ja, die jungen Menschen sind gewiss eine Zierde dieser Stadt.“

Brückfeld bleckte seine gelbbraunen Zähne. „Aber von Vertrauen kann ich mir nichts kaufen. Ich weise sie alle ab, weil ich sie nicht bezahlen kann. Es gibt immer einen, der dieselbe Arbeit besser und zu einem geringeren Lohn erledigt. Ich habe Verantwortung gegenüber meinem Hause, ich muss viele Mäuler stopfen. Dafür muss ich hart schuften. Da kann ich es mir nicht leisten, alle diese vielversprechenden jungen Leute hereinzubitten.“ Er warf einem der Hunde den Knochen derart wuchtig gegen die Schnauze, dass das Tier aufjaulte. „Ein jeder sollte Gott für das danken, was für ihn abfällt. Es könnte auch weniger sein.“

„Sehr wohl, Meister.“

Jeremias’ demütiger Blick fräste sich in den Dielenboden. Ein Fingernagel hatte vor Anspannung seine Handfläche geritzt, sodass Blut in seiner Faust klebte. Er erkannte aus dem Augenwinkel, dass Philipp sich verbeugte, aber er selbst wollte nicht, er wollte nicht demütig sein vor diesem Mann, der ihn all die Jahre nur verachtete. Schließlich wurde er jedoch Philipps ängstlichen Ausdruckes gewahr und so überwand er sich. Er täuschte eine ungeschickte Zerstreutheit vor, indem er seine Verbeugung zu hastig vortrug. Eine Weile mussten sie noch ausharren. Brückfeld leckte sich die Finger ab und wollte sich mit dem Ärmel den Mund abwischen, stockte jedoch und entsann sich seiner Serviette, die von Adligen bevorzugt wurde. Nachdem er dieses kleine Zeremoniell genüsslich abgeschlossen hatte, entließ er seine Untergebenen.


Wortlos gingen Jeremias und Philipp die Stufen hinab zur Straße. Während des gesamten Weges zu ihrer Unterkunft toste ein ohrenbetäubendes Schweigen zwischen ihnen. Als sie die Tür zu ihrer Stube endlich verriegelt hatten, nahm Jeremias wahr, wie seine Rumpfmuskeln sich verkrampften und seine Kehle tobte, um die Wutschreie zu entlassen, die in seinem Innern wüteten. Doch die Wände waren dünn und hinter ihnen wohnten Brückfelds Mieter. Selbst auf Niederländisch wagte er nicht, seine Empfindungen lautstark von der Kette zu lassen. Jeremias ging stumm zu dem Esstisch, beugte sich darüber, schlug seine Hände auf das Möbelstück und ergriff es. Seine Finger zogen sich immer weiter zusammen, bis sie das Holz derart stark würgten, dass dieses um Erbarmen knirschte. Jeremias vernahm, wie sein Mentor einen Schritt von ihm entfernt hinter ihm stehen blieb und einige Male laut schnaufte.

Jeremias’ Flüstern schnitt durch die Stille des Raums: „Dieser eingebildete ... dieser widerliche Fettwanst. Für was hält er sich? Seine Dummheit wird nur noch durch seine Grausamkeit übertroffen. Alles hat er von seinem Vater geerbt und alles wird von seinen Untergebenen aufrechterhalten. Er kennt keine Handelszahlen, versteht nicht, was doppelte Buchführung ist, aber hält sich für einen kleinen König.“ Philipp wollte etwas sagen, aber Jeremias ließ ihn nicht. „Er widert mich an, diese scheußliche Schmalzblase. Wie eine Warze auf der Nase: hässlich, nutzlos, immer im Blick. Er bildet sich ein, dass er zu Recht über mir stünde und mir ins Gesicht spucken könnte.“ Philipps Hand war auf seinem Rücken, doch Jeremias konnte sich nicht beruhigen. „Sage mir Philipp, wie viele Händler in ganz Frankfurt haben die Zahlen schneller parat, können Kunden besser von ihren Waren begeistern und auch noch den verstocktesten Handelspartner überzeugen? Wie viele?“

Sekunden der Stille, bis der Niederländer schließlich zugab: „Ich kenne keinen Einzigen im ganzen Deutschen Reich, der dir gleichkäme. Ich sagte dir stets, dass ich deine Begabungen für einzigartig halte.“

„Und warum können alle dennoch auf mich herabglotzen und mich gering schätzen? Nur weil ich eine Waise bin? Weil ich arm geboren wurde?“

Der Tisch drohte unter Jeremias Händen zu bersten.

„Bitte beruhige dich doch. Wir haben bereits so viel gemeinsam erreicht. Es wird sich schon fügen, wenn ... “

„Ach, was soll sich denn fügen? Was hat sich in den letzten Jahren gefügt? Sieh’ dich doch einmal um. Nützte mir meine gute Kleidung heute etwas?“

„Aber vielleicht müssen wir uns auch manchmal mit dem bescheiden, was uns zuteilwurde. Gott verlangt Demut.“

„Oh ja, mit allem muss man sich zufriedengeben. Ja gewiss … gewiss. Die Welt ist eben so. Ja, das sagst du laufend. Man muss sich mit allem abfinden, alles hinnehmen und alles ertragen. Nein ... mit einer solchen Haltung kann man die Welt niemals verändern.“

Philipps Flüstern wurde eindringlicher: „Was willst du die Welt verändern? Es ist nun einmal die von Gott bestimmte Ordnung. Es gibt solche die herrschen und solche die gehorchen müssen. Selbst Kaiser und Papst müssen dem Herrn dienen. Jedermann kann nur auf die Gnade und Gerechtigkeit Gottes hoffen.“

Die Knöchel von Jeremias’ Fingern blitzten weiß auf. „Ha, Gerechtigkeit! Was für eine Gerechtigkeit denn? Das Los eines Menschen wird nicht durch dessen Güte bestimmt, sondern aus welcher Frau er als Säugling hervor kroch, aus wessen Schoß.“

„Jeremias!“

„Wo siehst du denn Gerechtigkeit? Sollten wir Menschen von Geburt an nicht dieselben Möglichkeiten besitzen und uns durch unsere Taten bewähren? Wo findest du dies?“

„Aber ... aber ... Gott ... “

„Ja, Gott! Wo ist Gott? Wo war ... “ Er hielt inne, denn er war an eine gefährliche Schwelle getreten. Wohl war auch Philipps Gottvertrauen erschüttert worden, aber noch immer benötigte dieser seinen Glauben als wichtige Stütze im Leben. Keinen Menschen wollte Jeremias verletzen — aber seinem Ziehvater wehzutun, dies wäre eine Sünde gewesen. Er atmete einige Mal tief ein, lockerte seinen Griff um den Tisch. Er wusste, dass Tränen in den Augen seines Mentors lauerten. Er beneidete Philipp um dessen Genügsamkeit. Könnte auch er so glücklicher sein? Jeremias lächelte, sachte ergriff er einen Arm von Philipp, der den freundlichen Ausdruck erwiderte. Ich liebe dich so sehr, Philipp. Ich will dir keine weitere Wunde zufügen. Niemals.

Sie umarmten sich und blieben miteinander verbunden im Raum stehen. Noch immer war es für Jeremias ungewohnt, dass ihm der Ältere, zu dem er einst hatte aufschauen müssen, gerade noch an die Schulter reichte. Einige Minuten dauerte es, bis sie sich voneinander lösten.

Es fiel Philipp nicht leicht, Worte zu finden. „Ich wünschte es dir doch auch von Herzen, dass du die Anerkennung bekämest, welche du verdienst.“

„Warum können wir uns keinen anderen Dienstherrn suchen?“

Philipp erschrak. „Nein, Jeremias. Das wage ich nicht. Ich verlor bereits einmal alles. Dies überlebte ich kaum. Denk’ daran, was mit Luding und Winkler geschah, als sie aus Meister Brückfelds Diensten traten.“

Jeremias seufzte. Jeder kannte diese Geschichte: zwei erfolgreiche Kaufleute, die sich selbstständig machen wollten. Wegen Brückfelds Rachsucht stürzten sie ins Elend. Sie verendeten in der Leibeigenschaft.

Philipp schüttelte den Kopf: „Der Meister ist zu mächtig und er vergibt niemandem, der sich von ihm lösen will.“

„Das heißt, wir können hier nicht weg? Wir sind an ihn gebunden?“

„Wenn wir keine Not leiden wollen, müssen wir uns fügen.“

Jeremias keuchte leise. Sich fügen, solide sein, sich bescheiden — dies waren die Werte in dieser Welt. Täte er etwas wider diesen bürgerlichen Katechismus, fiele es auf Philipp zurück. Er merkte, dass das Blut allmählich erneut begann überzukochen, doch er musste Philipp schonen. So stellte er seine Schuhe in die Ecke, zog sein Hemd aus und eine ältere Hose an.

Philipp beobachtete ihn unruhig. „Was hast du vor?“

„Ich werde versuchen meine Unruhe mit dem zu kühlen, was in unserer Zunft am meisten geschätzt wird: mit Arbeit. Vielleicht hat der Lagervorarbeiter etwas für mich.“

Erst wollte Philipp ihn zurückhalten, erkannte aber, dass es besser war in dieser Sache nachzugeben.

Der Jüngling lief mit wallendem Haar zum neuen Lagerhaus gegenüber dem roten Sandsteinhaus der Brückfelds, das mit seinen Türmchen und Erkern wie ein kleines Schloss dalag. Sogleich entdeckte er den Vorarbeiter und lief zu diesem. „Sag’, hast du Arbeit für mich?“

Der Vorarbeiter blinzelte erstaunt. „Für dich? Du kommst wie gerufen. Ich habe nur zwei Männer, welche die Arbeit von fünfen erledigen müssen.“

„Wo sind die anderen?“

„Der Meister hat sie für die Bauarbeiten an seinem Haus abgezogen.“

Jeremias schaute zur Südseite des Hauses, die dem Meister und seiner Tochter vorbehalten war. „Wird neu hergerichtet, oder?“, fragte er.

„Ja genau. Oben auf dem Dach haben sie schon einiges an Ziegeln heraufgeschafft. Dafür brauchte der Meister meine Männer. Wir können deine Hände gut gebrauchen.“

„Sag’ den anderen, dass sie sich ein Stündchen ausruhen können, damit ich freie Bahn habe.“

„Freie Bahn? Was meinst du?“

Doch dies verstand der Vorarbeiter sogleich. Jeremias rannte zu den beladenen Wagen, lud sich mehr auf die Schultern, als zwei Männer hätten tragen können, und lief damit ins Lagerhaus. Im Gegensatz zum alten Lager musste er die Ware über eine Holztreppe hinauf in den Dachspeicher bringen — kein verhasster enger Keller.

Die Männer rauchten ihre Pfeifen und sahen zu, wie der Neuankömmling geschwind Säcke und Kisten ergriff, wie sich seine jungen Muskeln hervorwölbten, tiefe Furchen bildeten, und bald mit einer glänzenden Schweißschicht überzogen waren. Jeremias wollte den Zorn aus seinem Körper herausschuften. Seine Glieder sollten schreien, wenn er es nicht durfte. Er wollte nicht nur seine Grenzen erreichen, sondern sich an ihnen wund scheuern, um wenigstens für den heutigen Abend Ruhe zu finden.

Er erreichte sein Ziel. Als er die letzten Kisten im Speicher abgestellt hatte, kehrte er schnaufend auf die Straße zurück und setzte sich zu den anderen, die ihm lachend auf die Schulter klatschten. Sie hatten einen Krug Bier für ihn.

Da deutete einer zum Haus: „Seht mal, da kommt der Meister mit seiner Tochter.“

Wegen der Bauarbeiten mussten die beiden den Ausgang auf dieser Hausseite benutzen. Jeremias wollte den Meister und dessen hochnäsige Göre, die hinter ihm ging, nicht sehen. Erst ein unheilvolles Scharren und der Ruf eines Arbeiters auf dem Dach ließen ihn emporsehen und verstehen. Er ließ den Bierkrug fallen und preschte los.


Das junge Fräulein Brückfeld war es nicht gewohnt, diesen Ausgang zu nehmen, der sonst von den Bediensteten genutzt wurde. Diese glanzlose Pforte war ihr peinlich. Zum Glück sah niemand außer einigen Arbeitern, dass sie diesen nicht gerade schmeichelhaften Weg beschreiten musste. Mon dieu, es wäre nicht auszudenken, wenn dies jemand aus den höheren Familien mitbekäme. All das heimliche lästernde Gerede, stichelnde Bemerkungen — darauf konnte sie verzichten. Es war nicht immer leicht, das hohe Ansehen ihrer Familie zu wahren. Die Kutsche für sie und ihren Vater würde hoffentlich bald erscheinen. Plötzlich gewahrte sie ein seltsames Geräusch über sich. Dann ein Schrei. Immer diese lauten Arbeiter. Es ist ein Gräuel. Da wandte sie den Kopf nach oben: Direkt über ihr kippte ein Trog mit Ziegelsteinen um; alles schien zu erstarren — die Steine hingen in der Luft, ihr Herz stockte, alle Muskeln waren gelähmt; die Ziegel würden sie zermalmen. Sie wollte schreien, doch blitzschnell zerrte sie etwas mit sich, sank mit ihr zu Boden. Dicht neben ihr krachten die Steine herab.

Zuerst wusste sie nicht, wohin sie sich wenden sollte. Überall aufgewirbelter Staub. Sie musste husten. Endlich konnte sie ihre Umgebung erkennen. Ein Mann lag an ihrer Seite. Er hatte sie gerettet. Aber kannte sie ihn nicht? Nur hatte sie ihn als Jungen in Erinnerung. Es war Jeremias. Sie blinzelte. Er war zu einem Mann geworden ... Seine weichen braunen Augen — sie kamen ihr ungewöhnlich tief vor. Zut alors! Ich liege hier im Staub und starre einen ungewaschenen Handlanger an! Bin ich noch bei Sinnen? Doch noch immer betrachtete sie den Jüngling. Sie stockte. Er war ... so schön — auch mit all dem staubigen Schweiß. Oder vielleicht gerade deswegen? Ihre Hand lag auf seinem kräftigen Arm, der sie noch immer umfasst hielt. Feuchte Wärme ging von ihm aus, drang durch ihr Kleid. Ein seltsames Gefühl; und doch: es war ... Warum wurde ihr wärmer? Sie wollte aufstehen, doch ... wollte sie wirklich? Sie fühlte sich gerade so wohl.

Plötzlich war ihr Vater über ihr. „Judith, mein Kindchen, hast du dich verletzt? Du Lump! Bist du toll, dass du dich auf meine Tochter stürzt?“

Etwas enttäuscht erhob sich Judith unter der gleichzeitigen Hilfe Jeremias’ und ihres Vaters, der den Jüngeren jedoch fortscheuchte.

„Wag’ es nicht, sie noch einmal anzufassen! Sonst werde ich dich rädern lassen. Hast du verstanden?“

Jeremias stand reglos da und sah demütig hinab.

Judith ordnete ihre prächtigen Kleider. „Papa, er hat mich gerettet. Ohne ihn wäre ich ... “

„Nein, meine kleine Prinzessin. Das sah schlimmer aus, als es tatsächlich war.“

Ihr Mund blieb offen stehen. „Aber die Steine hätten mich erschlagen, wenn Jeremias nicht gewesen wäre.“

Ihr Vater zuckte bei dem Namen seltsam zusammen. „Nein, Kind, schau’ … die Steine wären zwar dicht neben dir eingeschlagen, hätten dich aber nicht getroffen. Du standest weiter hier. Da konnte nichts passieren.“

Warum will er nicht wahrhaben, dass ich tot gewesen wäre? Ich habe die Ziegel doch genau über mir gesehen. „Wie dem auch sei, Papa, ich möchte Jeremias danken.“

„Wofür? Dass er dich in den Gossendreck gezogen hat?“

Am Rand ihres Sichtfeldes bemerkte sie, wie sich die Muskeln des jungen Mannes zusammenzogen. Sie lächelte. „Danke für deine Hilfe, Jeremias. Merci beaucoup.“

Nach einer unschlüssigen Sekunde verneigte sich der Jüngling. „Tout le plaisir était pour moi, Mademoiselle Brückfeld. Si vous avez encore besoin de moi … Ihr wisst, wo Ihr mich findet.“

Sie wollte etwas entgegnen, doch ihre Sprache versiegte. Er hatte Französisch gesprochen, dieser ehemals so schüchterne Waisenjunge. Wie konnte dies ... ?

Ihr Vater zog sie am Arm davon und rief Jeremias zu: „Es ist eine Schande, wie du herumläufst: barfuß, halb nackt, schmutzig. Ich werde mit Jansen sprechen.“

„Aber Papa, wichtig ist doch, dass jeder unversehrt ... “

Brückfeld schritt unwirsch voran. „Versprich mir, dass du mit niemandem hierüber redest. Kein Wort!“

Sie willigte ein. Jeremias — sein Arm um ihre Hüfte, seine Augen; all dies ging ihr nicht aus dem Sinn. In einem längst bekannten Buch hatte sie eine verborgene Seite aufgeschlagen, welche das zuvor Gelesene vertieft und in etwas verwandelt hatte, dessen Versprechen ihr Leidenschaft und Furcht zugleich bescherte.


Jeremias sah den beiden hinterher, bis sie abfuhren. Er war benommen, ja benebelt. Dies sollte das kleine Balg sein, das ihm vor Jahren derart auf die Nerven gegangen war? Er hatte sie seitdem nur flüchtig aus der Ferne gesehen. Beeindruckend. Diese hohen Wangenknochen, auf seinem Arm war noch ein leises Prickeln ihrer Berührung … Hatte das Strauchwerk in ihrem Inneren da nicht einen winzigen Augenblick lang die Sicht freimachen wollen, als wäre es dünner und biegsamer geworden?

Er lief über den Rathausplatz, vorbei am Dom. Er nahm seine Umgebung kaum wahr. Schließlich hatte er die Stadt verlassen. Nackt sprang er in den kühlen Main, ließ sich vom Fluss treiben, Judiths klare Augen vor sich — erfrischend wie das Wasser, in dem er schwamm.

Kerker aus Licht und Schatten

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