Читать книгу Die Goldene Stadt im Untersberg 3 - Marcus. E. Levski - Страница 8
Оглавление2. Dunkle Katakomben
Wien, November 2016
Einige Jahre ist es nun schon her, seit Jonas offiziell im Ausland für die deutsche Regierung gearbeitet hatte. Dann hatte er beschlossen, dem ein Ende zu setzen!
Folterungen, Inhaftierung, unzählige Morde und Spionagetätigkeiten für eine Sache, die mehr einer großen Verschwörung glich als nur einem Dienst für Vater Staat. Zu heftig waren die damaligen Erfahrungen, die er über die Jahre sammelte und die ihn in heutiger Zeit prägten.
Dies war auch der Grund, weshalb er heute „offiziell“ als Privatdetektiv auftritt. Natürlich in einem Bereich, den er bestens kannte: nämlich die Spionage sowie die Beschattung zwielichtiger Gestalten im Auftrag anderer dubioser Gestalten. Und das für gutes Geld. Es war wohl ein Fluch oder sein Karma, das er in diesem Leben nicht mehr auflösen konnte.
Ein Gespräch einige Tage zuvor
In dieser kalten Novembernacht fiel bereits Schnee und dicker Matsch lag auf den Straßen von Wien. Das Flimmern der Straßenlaternen konnte aus den Fenstern der warmen Häuser beobachtet werden.
Als Jonas aus der Küche ins Wohnzimmer ging, wandte sich Dr. Weger vom Fenster des dritten Stocks ab und ging mit wenigen Schritten auf den hölzernen alten Stuhl am Wohnzimmertisch zu. Beide Männer nahmen am Tisch Platz und Jonas konnte es kaum erwarten, dass Dr. Weger ihm nun Informationen über seinen nächsten Auftrag geben würde.
Ein paar Sekunden lang saßen sie sich schweigend gegenüber und versuchten sich auf geheimnisvolle Art und Weise auf den jeweils anderen einzustimmen. Dann begann Dr. Weger endlich zu reden.
„Jonas, wir haben Hinweise darauf, dass die Illuminaten den dritten Teil der Papyri Graecae Magicae haben.“
Jonas nahm einen tiefen Schluck aus seinem Whiskeyglas und fragte dann zurück:
„Das Buch befindet sich bei den Illuminaten? Wie das? Ich dachte immer, dass diese Schriften auf der ganzen Welt verteilt im Besitz der Kirche und der Freimaurer sind?“
Dr. Weger runzelte die Stirn, als er Jonas widersprach.
„Das ist ein Irrglaube, Jonas! Die Kirche und die Freimaurer haben zwar sehr wohl Notizen aus diesem Buch angesammelt, sämtliche magische Schriften jedoch wurden 1620 in England unter Verschluss gehalten. Und zwar von einem Alchemisten namens Francis Bacon und zusammengefasst zu einem einzigen Buch.
Nach dessen mysteriösem Ableben eskalierte der Streit um dieses Buch. Im Zuge dieses Streites wurden Teile davon gestohlen, das Buch wurde quasi gedrittelt und niemand weiß, wo sich die Teile heute befinden. Wir haben jedoch Hinweise darauf, dass die hiesigen Illuminaten den dritten Teil des Buches haben!“
Jonas lehnte sich zurück und verschränkte seine Arme vor der Brust.
„Was nützt euch der dritte Teil des Buches? Euch fehlt ja noch der Rest?“
„Diese drei Buchteile dürfen niemals in Verbindung mit …“, Dr. Weger stockte und sah Jonas an.
„Sie müssen nicht mehr darüber wissen. Besorgen Sie mir einfach alle diese Bücher. Der dritte Teil wird, wie schon gesagt, in Wien aufbewahrt. In zwei Wochen wird vom Orden ein großes und wichtiges Ritual abgehalten, bei dem dieses Buch als Werkzeug für eine bestimmte Sache dient! Der Hinweis, den wir haben, der ist wasserdicht!“
Jonas starrte auf die Tischplatte.
„Ja, ist gut. Aber wie komme ich an die anderen beiden Teile des Papyri Graecae Magicae?“
„Ich denke Sie wissen, weshalb ich ausgerechnet mit Ihnen Kontakt aufgenommen habe?“
Auch wenn Jonas Herrn Dr. Weger zuvor erst ein paar Mal gesehen hatte, wusste er aus Erfahrung, dass er keine weiteren Fragen stellen sollte, und nickte zustimmend mit dem Kopf. Klar, wenn es einer schaffen würde, die drei Bücher aufzutreiben, dann er.
Dr. Weger sprach weiter: „In drei Tagen befindet sich auf einem Schweizer Bankkonto die Hälfte der Summe, die wir vereinbart hatten, 300.000 Euro. Sobald ich die anderen beiden Teile der Papyri Graecae Magicae den Händen halte, wird der Rest überwiesen!“
Dr. Weger stand auf, ging zur Garderobe und zog sich seinen Mantel an. Als er die Türklinke der Ausgangstüre heruntergedrückt hatte, warf er noch einen Blick zu Jonas hinüber.
„In ein paar Tagen wird sich ein Kontaktmann bei Ihnen melden. Er wird Ihnen sagen, wann und wo dieses Ritual abgehalten wird. Wie gewohnt gilt natürlich absolute Geheimhaltungspflicht. Oh, eines noch: Sollte der Kontakt zu mir abbrechen, oder mir etwas zustoßen, dann kontaktieren Sie umgehend Jürgen Draft!“
Zwei Tage später
Jonas zerrte sein rechtes Bein seinem erschöpften Körper hinterher. Die Nacht wurde ihm zu Verhängnis. Er hatte Schweißperlen auf der Stirn und eine schlimme Wunde an seinem rechten Bein.
„Eine Seitengasse, die kommt mir gelegen“, murmelte er und flüchtete in eine Seitengasse der Innenstadt. Nach den ersten hastigen Metern, als er an der Ecke abgebogen war, sprang er hinter eine metallene Mülltonne.
Dort sah er einen nur halb befestigten Eisengitterdeckel, der sich am Straßenrand befand und sich in Richtung der Fassade eines heruntergekommenen alten Gebäudes öffnen ließ. Ein Eisengitterdeckel, der zu früheren Zeiten als Ausstieg der darunterliegenden Luftschutzbunker diente.
Von diesen gab es in Wien genügend – weshalb auch die Welt unter Wien von unzähligen Katakomben geprägt war. Er hob die Abdeckung hoch, sah sich kurz um und sprang dann in die Öffnung hinunter, die ihm Schutz bieten sollte.
„Wo ist er?“ Der Wächter des Illuminatenordens stand am Gehsteig direkt vor der Seitengasse und sah sich eifrig und in der Gegend um. Er konnte nicht ausmachen, wo sich sein Opfer befand. „Verdammt, sucht ihn! Wir teilen uns auf. LOS!“
Seine Begleiter verteilten sich hastig über die Innenstadt und der Anführer des mysteriösen Ordens wich nicht von der Stelle. Er griff mit seiner rechten Hand in seine Manteltasche und holte seine Waffe der Marke Clock 17 hervor. Während er den Abzug spannte, machte er ein paar Schritte in die dunkle Gasse hinein.
Jonas versuchte, nicht zu atmen. Er wusste, wenn ihn der Orden finden würde, würde er seinem Leben ein Ende setzten. Er versuchte in dieser sehr bedrohlichen Situation seinen Körper anzuspannen, um keinerlei Bewegung zu machen. Er hielt die Handfläche vor den Mund und hielt den Atem an.
Die Schritte kamen immer näher und näher. Er würde sich nicht einmal verteidigen können, wenn es hart auf hart kam. Sein Bein schmerzte und Blut floss pochend aus der Wunde, die er sich bei einem Streifschuss eingefangen hatte.
Nachdem der Verfolger sich einige Minuten lang in dieser Seitengasse aufgehalten hatte, vernahm Jonas seine Schritte, die sich wieder langsam entfernten. Der Verfolger war auf der weiteren Suche nach Jonas in der nächsten dunklen Gasse verschwunden.
Sein Bein schmerzte jetzt so stark, dass er ein lautes Stöhnen nicht länger unterdrücken konnte, obwohl ihm bewusst war, dass seine Verfolger immer noch in der Nähe sein könnten.
Nach weiteren endlos scheinenden Minuten, die er in dem Luftschacht sitzend verbracht hatte mit der Hand am Eisengitter, entschied er sich, das Gitter langsam beiseitezuschieben, um sich aufrichten zu können.
Er quälte sich vorsichtig in eine aufrechte Position und blickte aus der Schachtöffnung. „Die Luft scheint rein zu sein“, stellte er leise fest. Als er sich genaustens vergewissert hatte, dass niemand mehr in der Nähe war, begann er, aus dem Schacht zu steigen. Dabei rutschte er jedoch mit dem gesunden Bein ab, da das verletzte Bein eingeknickt war.
Eine Welle aus Schmerz strömte durch seinen ganzen Körper, als er zunächst mit den Beinen hart auf dem Boden des Schachtes aufkam und dann, weil das verletzte Bein nachgab, unsanft auf den Allerwertesten plumpste. Er verbot es sich selbst, laut aufzuschreien und fluchte stattdessen in sich hinein. Aus seiner sitzenden Position heraus bemerkte er plötzlich, dass sich neben ihm eine weitere Öffnung befand, durch die er wohl noch tiefer hinabsteigen konnte.
„Hmm. Angesichts der Tatsache, dass die da oben immer noch auf mich warten, ist es wohl vorteilhafter, wenn ich da runter steige, anstatt nach oben zu klettern!“ Gedacht, getan!
Er streckte seine Füße aus und rutschte auf dem Hinterteil langsam die nur leicht steile Strecke durch die Öffnung hinab. Unten angekommen sah er sich um und stellte verblüfft fest, dass er sich im Keller des Gebäudes in einer Art altem Luftschutzbunker befand. Das Gitter von vorhin war die Ausstiegsluke hierzu.
Er betrachte in der Dunkelheit die alten Kellergewölbe und sah, dass es sich um einen riesigen Raum handelte, wo mit Sicherheit hundert Leute Platz hätten. Beim vorsichtigen Entlanggehen fand er eine Öffnung in der Wand. „Wo es da wohl hingeht?“
Er nahm sein Feuerzeug aus seiner Hosentasche, um sich etwas Licht zu verschaffen. Als er mit dem Daumen das Reibrad betätigte, wies ihm die kleine Flamme, die dabei entstand, den Weg durch die neu entdeckte Öffnung, die wie eine Türe aussah. Er trat hindurch und befand sich in einem Gang.
Modriger, verfaulter Geruch schlug ihm entgegen und er hörte das Quietschen von Ratten, die in der Gangecke herumkrochen. „Ich hasse diese Biester“, murmelte er, als er an ihnen vorüberging.
Nach einer halben Stunde in dieser schmutzigen und schlecht riechenden Tunnelröhre blieb er angespannt stehen, als er plötzlich den Zeremoniengesang hörte. „Illuminati! Verdammt!“ Er sprang reflexartig zurück und löschte das Licht seines Feuerzeugs. Dann verharrte er reglos in der Dunkelheit.
Den düsteren Tempelgesang hatte er vorhin schon gehört, als er zwei Straßen weiter in die Krypta der Peterskirche hinabgestiegen war. Seine Anstrengungen, diesen ominösen Orden zu beschatten, hatten ihn genau hierher gebracht. „Und was jetzt? Diese verfluchten Ordensaufträge immer!“
Er wusste, dass er sich in tödlicher Gefahr befand! Denn nicht nur, dass er verfolgt wurde, nein, er hatte vorhin eine Sache gesehen, die er niemals hätte sehen dürfen. Zu abstrakt und surreal war das Erlebnis gewesen. Als er vorhin in die Krypta der Kirche eingestiegen war, um sie auf die Hinweise, die er von diesem Kontaktmann erhalten hatte, zu untersuchen, hatte er Musik aus dem Tempelraum im Inneren der Krypta gehört.
Verwundert war er der Musik nachgegangen und in einem Nebenraum eine hölzerne Stiege in einen weiterführenden Keller hinabgestiegen. Was er dort gesehen hatte, hatte er mit seinem Verstand nicht erklären können: Da war nur grüner Nebel und eine Art Opferaltar, auf dem ein Mann saß. Vor ihm hatten zwei andere Männer gestanden, die feierlich Lieder auf Latein sangen und Ritualtexte zitierten.
Plötzlich war der Mann auf dem Altar spurlos in dem grünen Nebel oder Licht verschwunden und Jonas hatte sich abgewendet und war die Treppe hochgeklettert und in die Krypta gerannt. Auf der Flucht war die Musik immer leiser geworden, während er sich rasch davongestohlen hatte …
Daran musste er denken, während er in der Dunkelheit des Luftschutzkellers – oder was immer das für eine Anlage war – verharrte und überlegte, ob er sich zurückziehen sollte. Aber die Versuchung, herauszufinden, was da vor ihm lag und die Verlockung der in Aussicht gestellten Summe von 300.000 Euro waren einfach zu groß!
Also folgte er der Musik und schob sich leise und in geduckter Haltung an den Wänden des Ganges entlang. Die Musik wurde immer lauter und war immer klarer zu hören.
Plötzlich sah er einen Lichtschein aus einem kleineren Loch an der Gangwand kommen. Sofort schoss ihm das Adrenalin durch die Adern und atemlos vor Spannung trat er näher und blickte vorsichtig durch das Loch in den Zeremonienraum, den er vorhin bereits gesehen hatte, als er hier heruntergekommen war. Und das in den Wiener Katakomben!
Als langjähriger Privatdetektiv, der unter anderem für einige offizielle Stellen recherchierte, war er ja so einige brenzlige Situationen gewöhnt! Aber dass er so tief in einer derart gefährlichen okkulten Sache drinsteckte, das war ihm trotz allem neu. Denn bisher war es noch nie um Okkultismus gegangen und in der Vergangenheit waren bei seinen Fällen auch noch nie Menschen in einem grünen Licht verschwunden.
Fasziniert beobachtete er durch das Loch in der Wand das geheimnisvolle Treffen der Ordensmitglieder. Dabei dachte er wieder zurück an sein Eindringen in die Krypta und das Buch, das er zuvor aus diesem Tempelraum entwendet hatte! Es hatte dort in einer verschlossenen Glas-Vitrine direkt neben anderen Schriften der Illuminaten gestanden, die allesamt nicht für die Öffentlichkeit gedacht waren.
Und bei diesem Buch handelte es sich um den dritten Teil der Papyri Graecae Magicae, das er in Erfüllung seines Auftrages gestohlen hatte. Genau dieser Diebstahl war auch der ausschlaggebende Grund dafür, dass er nun so hartnäckig verfolgt wurde.
Er war sich ganz sicher gewesen, dass er allein und unbeobachtet war, als er die Glasvitrine eingeschlagen hatte. Doch kaum hatte er das Buch in Händen gehalten, war ein Wächter gekommen und hatte Alarm geschlagen. Nur seiner gewohnt schnellen Reaktion war es zu verdanken gewesen, dass er das Buch hastig in seine Umhängetasche stecken und fliehen konnte – mit den Verfolgern dicht auf den Fersen.
Die leiser werdende Zeremonienmusik lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf die Szene, die sich im Ritualraum abspielte. Schwer spürte er das Gewicht der Umhängetasche an seiner rechten Seite. Entsetzt beobachtet er, dass da drinnen jetzt offenbar ein Hund geschlachtet wurde!
Die Menschen in roten Umhängen standen im Kreis rund um einen Tisch – einen Opferaltar? – und sangen einen Text, den er nicht verstand. Latein vielleicht? Er wusste es nicht. Vor dem Tisch stand der Logenmeister. Der Gesang wurde immer rhythmischer und lauter und die Ordensmitglieder stachen dabei auf den Hund ein, um seine Lebensenergie in das Ritual einzubinden, als er schließlich tot war.
Das Blut des toten Tieres lief über die steinerne Tischplatte und bahnte sich seinen Weg durch die Rillen an der Seite des Tisches. Es sammelte sich schließlich und wurde in einem großen, mit Symbolen bestückten Gefäß gesammelt.
Danach widmete sich eines der Mitglieder einer nackten Frau neben dem Alter. Sie hatten rituellen Sex, während sie zeitgleich im Blut des Hundes badeten, das der Logenmeister gefordert hatte. Im Hintergrund sah er das obligatorische Kreuz der Kirche sowie ein metallisches Symbol, das er nicht kannte, an den Wänden.
„Kranke Bastarde“, flüsterte er vor sich hin, während sich der Duft einer stechenden Räuchermischung in seine Nase legte. Er starrte weiter durch die Öffnung und versuchte, alle Eindrücke in seinem Kopf abzuspeichern.
Nach einigen Minuten sah er, dass ein Mitglied an den Logenmeister herantrat und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Plötzlich warf dieser seinen längeren Dolch zu Seite, nahm die rote Kapuze vom Kopf und ging mit hastigen Schritten die Türe zu seiner Rechten aus dem Raum hinaus. Das Ritual wurde unterbrochen und die Mitglieder sahen sich fragend an und begannen sich flüsternd zu unterhalten. Jonas konnte erkennen, dass dieses Ritual abrupt und nicht geplant beendet wurde.
„War ich der Grund?“ Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn und er war nervös, weil er nicht wusste, womit er zu rechnen hatte. Schnell rannte er daher mit seinem verletzten Bein, so gut er konnte den Tunnel entlang in die Richtung, aus der er gekommen war.
Angekommen in dem Raum mit der Öffnung, wo er heruntergerutscht war, erkannte Jonas, dass ein Entkommen aus dieser unterirdischen Anlage nur mit Mühe erreichbar war. Es war möglich, aber nur deshalb, weil eine alte rostige Kette aus der Schachtwand hing. Jonas sah hoch, zog einmal an der Kette, um den Halt zu testen, und kroch anschließend mit einiger Anstrengung aus der Öffnung ins Freie hinaus.
Schwer atmend blickte er sich im Freien um und auch an sich hinunter. Seine Hose war blutverschmiert und zerrissen, sein Hemd verdreckt und total verschwitzt. „Soll ich so etwa auf die Straße?“ Aber viele Möglichkeiten blieben ihm nicht. Auch nicht viel Zeit, um zu überlegen. Also entschloss er sich, die Seitenstraße zu nehmen und verschwand humpelnd in die Dunkelheit, in der Hoffnung, von niemandem entdeckt zu werden.
3. Eine Welt, die es nicht geben dürfte
Wir standen plötzlich auf dieser felsigen Anhöhe mitten im Gebirge und wussten nicht, wo wir waren. In eisiger Kälte und mit gefrorenen Händen zitterten wir am ganzen Körper.
Als ich die Sonne betrachtete, die uns in dieser kalten Gebirgsluft ein wenig wärmte, wusste ich in diesem Moment um das Geschenk einer höheren Instanz, die uns beobachtete. Ich blickte mich nach dem Professor um und merkte, dass dieser einen Weg im Eis suchte.
„Claras, ich weiß nicht, ob wir hier einen Weg hinunter finden.“
Dann sah ich mich selbst ein wenig in der Umgebung um, konnte aber nur ein weißes Nichts erkennen. Ein paar Schritte weg vom Abhang, den Felsen entlang, waren nur Schnee und Eis, sonst rein gar nichts. Der Professor kam auf mich zu und schüttelte deprimiert den Kopf.
„Jürgen, ich denke wir sitzen fest. Hier führt kein Weg hinaus.“
Wir starrten uns beide mutlos an und ich verlor die Hoffnung auf Rettung. Der Wind pfiff uns um die Ohren und betäubte mein Gesicht. Sollte dies das Ende sein? Sollte dies unsere Bestimmung sein? Jetzt einfach zu sterben, in dieser eisigen Hölle zu erfrieren? Ich fiel auf meine Knie zu Boden und umklammerte meine Brust mit beiden Händen. Es war so kalt!
Als ich so im Schnee kniete und meine letzten Erlebnisse Revue passieren ließ, fiel mir ein, dass uns der Graf an diesen Ort gebracht hatte! Naja, er hatte uns kurz zuvor in der Halle der Zeit erklärt, dass diese uns an alle Orte bringen könne und in jede Zeit! Und dass wir genau dorthin kämen, wo unsere Seele oder unser Unterbewusstsein es wollten.
„Claras, erinnerst du dich an die Worte des Grafen?“
Der Professor sah mich fragend an.
„Welche Worte meinst du, Jürgen?“
„Der Graf hat uns doch gesagt, dass wir genau an diesen Ort kommen, der in unserem tiefsten Innern verankert ist! Er sagte mir, dass der Weg ein schmaler und gefährlicher sei! Also dabei geht es um unsere innere Einstellung. Um unsere Überzeugungen und Taten. Das, was wir sind, was uns ausmacht und was wir für tief verankerte Einstellungen haben. Genau diese Orte werden wir besuchen dürfen!“
„Du sagst, also, dass wir genau dorthin kommen, wo unser tiefstes Inneres liegt? So ungefähr?“
„Ja, ich denke schon mein Freund, das sagte er zumindest.“
Ich blickte nochmals in die Ferne der Berge und betrachtete den Schnee und das Eis, das uns zum Schicksal werden drohte. Bevor ich antwortete, überlegte ich kurz.
„Einsamkeit, Eis, Kälte und weite Ferne mit einem Geschenk des Himmels, das sich Sonne nennt. Sagen dir diese Stichworte etwas Claras?“
„Ja, darin befinden wir uns. Das ist doch offensichtlich.“
„Nein, das meine ich nicht. Ich meine dein Innerstes.“
Claras sah zu Boden und überlegte. Nach einigen Sekunden hob er den Kopf und sah mich an.
„Ja, Jürgen, ich weiß, was du meinst und ja, es sagt mir was.“
Er senkte seinen Kopf und setzte sich ebenfalls in den Schnee.
„Das ist es, mein Freund! Mir sagt es ebenso etwas. Die Kälte, die einsame Stille und die Ferne, die zu sehen ist. Auch das Geschenk der Wärme. Wir sollten dankbar sein und unsere Gedanken ändern.“
Der Professor sah mich an und wurde wütend.
„Verdammt noch mal, willst du jetzt meinen Psychotherapeuten spielen, Jürgen? Herrgottnochmal. Wir sitzen in der Falle! Wir sind praktisch tot! Kein Weg führt weg von hier und du erzählst mir was von einer inneren Einstellung.“
Ich sah den Professor an und konnte seine Wut natürlich verstehen, daher lenkte ich ein.
„Ich will nicht dein Therapeut sein. Ich sage ja nur das, was der Graf uns gesagt hat. Und vielleicht ist das einfach hilfreicher als im Schnee zu hocken, alles zu verdammen und den Kopf einzuziehen.“
Der Professor stand auf und geriet jetzt richtig in Rage.
„Sieh dich um, du verdammter Hund. Nichts! Nichts! Eis, Gebirge und der Tod warten auf uns. Ich hätte dir niemals in diesen Abgrund folgen dürfen. Ich hätte niemals auf dich hören dürfen. Ich hätte mich damals umbringen sollen, als ich bei dir war! Warum? Warum hast du die Rettung geholt, warum hast du mich leben lassen?“
Nach diesen laut gebrüllten zornigen Worten konnte ich beobachten, dass Claras kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand. Er war fertig mit der Welt.
„Claras, du hast deinen Sohn wieder gefunden. Du solltest kämpfen!“
Er kam auf mich zu, packte mich an der Jacke und sah mir hasserfüllt in die Augen.
„Was weißt du denn schon, verdammt noch mal? Was weißt du schon über mich? Ja, ich habe meinen Sohn gefunden, aber das macht nicht rückgängig was ich getan habe! Das macht nicht meine Taten rückgängig.
Und wenn wir schon von einem Geschenk reden: WO IST DEIN GOTT? Wo ist dein höheres Wesen? Soll ich dir was sagen, alter Freund? Lass mich in Ruhe! Und deinen Gott, den hat es nie gegeben und wird es nie geben. Er hat mir alles genommen und mich in Agartha in Versuchung geführt! Sollte das Gott sein? Dann scheiß ich drauf, verdammt noch mal. Wir werden hier sterben und das ohne Erleuchtung oder Gnade.“
Nach diesen Worten schubste er mich zur Seite und ging auf den Abgrund zu, der vor uns lag. Ich lag im Schnee, konnte meine Füße nur schwer bewegen, da die Kälte mir durch jede Zelle. Ich sah wie Claras am Abgrund stand und hinunter blickte.
„Nein Claras! Nein Claras! Tu das nicht! Verdammt noch mal. Ich weiß, wir haben noch einen gemeinsamen Weg zu gehen. Ich weiß nicht wohin, aber ich weiß es. Der Graf hat uns dies nicht alles umsonst gezeigt!“
Claras war ganz in Gedanken versunken, während er in den Abgrund starrte. War er ein Ausgestoßener? Ein Abtrünniger? Er wusste es nicht. Alles, was er wusste, war, dass er sich von diesem Leben irgendwie nicht angenommen fühlte. Er dachte an die Menschen, von denen er seit seinem Schicksalsschlag umgeben war. Hier war nicht der Platz, für den er bestimmt war, nein, hier gehörte er nicht hin! Soviel wusste er zumindest.
„Bin ich schuld daran, dass ich hier nicht willkommen bin? Was habe ich getan? Sind es meine Sünden, meine Taten, die mich in diese Situation gebracht haben? Es scheint so! Wäre ich doch nie nach Agartha gegangen.“
Er wurde bei diesen Gedanken richtig depressiv. Als er sich zu mir umdrehte, hatte er sich wieder gefasst und sprach ganz ruhig zu mir.
„Weißt du Jürgen, ich habe immer wieder die Beobachtung gemacht, dass die Leute in meiner Umgebung über alltägliche Dinge redeten und diskutierten. Sie lachten und hatten Spaß daran, aber ich saß derweil auf einem Stuhl und beobachtete sie und erkannte, dass sie sich nicht normal verhielten.
Denn jeder spielte nur eine Rolle, die der gesamten Gruppe Leben einhauchte. Es war einfach nur ein Schauspiel. Sie lachten zwar und hatten Spaß, aber das wollten sie überhaupt nicht. Sie handelten nur unter einem gewissen Gruppenzwang, gemäß der Gruppendynamik, die sie sich selbst erschaffen hatten.
Gruppenzwang, nichts weiter! Und daran konnte ich niemals teilnehmen! Denn meine Taten und der Tod meiner Familie hatten mich sonderbar werden lassen. Ich war dadurch sensibler geworden und konnte mich nicht mit solchen falschen Dingen beschäftigen. Und weißt du, was das Ergebnis davon war? Einsamkeit. Einsamkeit und die Taten, die ich nie vergessen werde.
Und jetzt frage ich dich, als meinen Freund: Was hat das alles denn noch für einen Sinn? Sag es mir! Und ja, du könntest sogar recht haben - vielleicht ist dies die Kälte, die uns gespiegelt wird und manifest geworden ist, als wir die Halle der Zeit verließen und hier gelandet sind. Ich weiß es nicht.“
Ich stand mühsam auf und stakste steif gefroren ein paar Schritte an Claras heran.
„Claras, jeder von uns hat Taten begangen, die er bereut. Der eine schlimmere, der andere weniger schlimme! Aber das ist das Leben mein Freund! Steh jetzt auf, sein dir deiner Taten bewusst und suche einen Weg, um sie auszugleichen. Ich weiß zwar nicht, wie, aber kämpfe darum, mein Freund. Kämpfe und siege.
Dann, wenn die Zeit gekommen ist, steh dir selbst oder einem Gott gegenüber und sage ihm oder dir selber, dass du gekämpft hast und nicht verloren hast. Sag ihm, dass du die Taten, die du begangen hast, verstanden hast und für sie gebüßt hast, indem du ein besserer Mensch geworden bist.“
Claras wendete sich vom Abgrund ab, kam auf mich zu und legte seinen Arm auf meine Schulter.
„Jürgen, ich weiß nicht, ob wir hier sterben. Ich weiß nicht, ob uns ein Gott oder ein höheres Wesen von hier abholt. Aber ich werde nicht durch meine eigene Hand sterben! Wenn es so sein soll, ich bin bereit! Aber bis dahin werde ich kämpfen!“
Dann plötzlich fiel ein riesiger Schneebrocken vom Bergabhang herab, der ca. zwanzig Meter rechts von uns liegen blieb. Wir erschraken kurz und ich drückte fest seinen Arm, bevor ich ihm versicherte:
„Claras, ich bin kein Christ. Aber wir kämpfen uns beide durch diese weiße Hölle. Wo auch immer uns dieser Kampf hinführt!“
Dann gingen wir entschlossen an diesen Bergabhang heran, was uns einige Anstrengung kostete, und blieben bei dem Schneebrocken stehen, der eben noch heruntergesaust war.
Als ich auf den Fels zu meiner Rechten starrte, sah ich einen kleinen Höhleneingang, der ins Innere des Berggipfels führte. Der herabgestürzte Schneebrocken und der Schnee, den er mit sich gerissen hatte, schienen den Eingang freigelegt zu haben. Jedenfalls hatte ich ihn zuvor nicht bemerkt. Aber das spielte auch keine Rolle.
Ich machte den Professor auf den Eingang aufmerksam und zeigte mit dem Finger in die Richtung. Er nickte und gemeinsam gingen wir darauf zu, voller Neugier, was uns dort wohl erwartete.
Als wir endlich die Höhle betraten, waren wir dem ewigen Eis und der kalten Gebirgsluft entkommen. Türkisblaue und weiße Höhlenwände, wie ich noch nie welche gesehen hatte, empfingen uns. Auch die Luft im Berg war wesentlich wärmer als draußen. Wir gingen immer tiefer in den Berg hinein, der unsere Seelen verschlang und bald waren wir in den Tiefen des Berges verschwunden.
Nachdem wir uns eine ganze Weile schweigend und konzentriert vorwärts bewegt hatten, kamen wir plötzlich in eine größere Grotte. Zu meinem Erstaunen musste ich feststellen, dass ich die Gegend kannte.
„Claras, ich kenne diese Gegend!“
Der Professor sah mich an und runzelte die Stirn.
„Claras, als ich in Rosenau bei dieser Pyramide war, bin ich in eine Art Trance gefallen und habe mich bei den Zwergen gesehen, die mir den Stein vermacht haben. Und es sah genauso aus wie hier!“
Der Professor sah sich um und schüttelte den Kopf.
„Ich kann es nicht fassen, aber nach all den Erlebnissen muss ich dir wohl glauben, oder?“
Ich ging an die mir schon bekannte Stelle im Zentrum dieser Grotte und sah mich um. Plötzlich hörte ich eine Stimme, die von den Grottenwänden zurückgeworfen wurde.
„Wir haben dich erwartet, Jürgen!“
Ich zuckte zusammen und drehte mich rasch einmal im Kreis, um festzustellen, wer da mit mir gesprochen hatte, konnte jedoch niemanden sehen. Dann trat überraschend ein älterer Mann hinter einer Steinsäule hervor.
„So lange ist es gar nicht her, mein Freund“, lächelte das mir nur zu gut bekannte Gesicht zu.
„Chalse? Bist du das?“ Ich konnte es nicht fassen.
„Ja mein Freund!“, strahlte mich Chalse Frizker an und trat näher an uns heran. Der Professor kam ebenfalls neugierig näher und starrte ungläubig auf diesen älteren Mann, der in Stofffetzen gekleidet war.
„Chalse? Wo ist mein Sohn Antonio?“, wollte der Professor wissen, doch Frizker winkte ab. „Antonio hat seine Aufgaben!“
Obwohl ich mich freute, ihn zu sehen, war ich dennoch ein wenig verwirrt. Ich hoffte auf eine Erklärung.
„Wo sind wir hier, Chalse? Was sollen wir hier? Wir waren vorhin doch noch in der Halle der Zeit?“
„Ja, aber das hatte ich euch ja gesagt. Die Halle befördert euch genau an den Ort, der in Übereinstimmung mit eurem tiefsten Inneren steht. In eurem Fall war dies nun das eisige Orikongebirge in einer Welt, die ihr noch nicht ganz verstehen könnt!“
Verblüfft sahen der Professor und ich uns an und konnte nicht glauben, was der Graf uns eben erzählte. Wir sollten doch tatsächlich in einer anderen Dimensions- und Zeitlinie sein! Der Graf trat einen Schritt auf den Professor zu und legte ihm wie gewohnt seine Hand auf die rechte Schulter.
„Claras, Antonio bat mich, dir zu sagen, dass du nach Simbola gehen solltest!“
„Was ist Simbola, bitte?“
„Das Zentrum der Nibelungen, mein Freund! Du hattest es schon erblickt. Jedoch in einer parallelen, anderen und dunklen Existenz!“
Der Professor starrte mich fragend an und schüttelte kurz seinen Kopf.
„Was meinst du mit einer anderen und dunklen Existenz?“
„Du hast damals das Land der Nibelungen gesehen, das du sehen wolltest, aber nicht das, was es wirklich ist. Erinnerst du dich?“
Claras überlegte einige Sekunden, ließ seinen Blick schweifen und erwiderte:
„Ja ich erinnere mich. Technologien! Dexer sah sie ebenfalls, nicht wahr? Nur, was meinst du mit Nibelungen?“
„Genau, Claras. Dexer sah sie ebenfalls! Was die Nibelungen angeht, da ist die Erklärung etwas schwieriger. Ihr werdet eure Antworten darauf zu gegebener Zeit finden.“
Offenbar kamen wir mit den Nibelungen nicht weiter, also unterbrach ich die beiden und bedrängte den Grafen stattdessen mit anderen Fragen, in der Hoffnung, wenigstens auf andere Dinge ein paar rasche Antworten zu finden.
„Diese Grotte, Chalse, warum diese Grotte? Ich habe hier den schwarz-violetten Stein von einem Zwerg erhalten.“
Der Graf schmunzelte auf die ihm so eigene Art und Weise und erklärte mir dann ausführlich die Zusammenhänge zwischen der Grotte und den Zwergen.
Er erklärte mir, dass diese Grotte, in der wir uns momentan befanden, die Grotte der Schätze genannt wird. Zwerge, Kobolde und manch andere Wesenheiten leben hier in dieser Grotte in einer Art Parallelexistenz der Welt, wie wir sie kennen. Sie beschützen die inneren Eingänge zu diesem Nibelungenland und geben den Menschen eine Art Zutrittskarte zu diesem Reich.
Nicht immer jedoch passieren die Menschen diese oder andere Grotten, wie zum Beispiel auch am Untersberg, dem Herzchakra der Welt. Manchmal gehen sie nämlich direkt in die dunkle Welt der Nibelungen und der hoch entwickelten Technologien jener Welt, die auch Claras und Dexer gesehen hatten – in die Welt, die den Namen Nibelungen trägt. Ich sah den Grafen erstaunt an.
„War auch die Geisterhöhle ein Zugang zu solch einer Grotte?“
„Ja, das war und ist sie! Nur der Zugang wird nicht jedem geöffnet!“
Ich erinnerte mich an den beweglichen Felsen bei der Grasslhöhle und nickte verständnisvoll, aber mit weiteren einhundert Fragen im Hinterkopf.
„Jürgen, du wirst all deine Antworten bald finden! Das verspreche ich dir! Ihr habt damals einen Weg eingeschlagen, den ihr nun weitergehen müsst. Ihr habt hier und jetzt die Wahl! Die Wahl, eure Entscheidung zu fällen. Doch bedenkt eines: Der Strahl zur schwarzen Sonne wurde durch euch aktiviert, hierzu wurdet ihr sowie auch andere auf der ganzen Welt bestimmt. Es ist jedoch noch nicht vollendet, nein, denn die Höllentore wurden noch nicht geöffnet! Entscheidet jetzt, wie ihr weitergehen wollt!“
Der Professor unterbrach den Grafen ungeduldig in seiner Erklärung. „Was müssen wir tun?“
„Claras, ihr müsst euch entscheiden. Geht ihr den Weg weiter oder geht ihr wieder ohne jegliche Erinnerung zurück in euer altes Leben?“
Der Professor und ich sahen uns fragend und ungeduldig an. Ich selber wusste, dass dies keine leichte Entscheidung sein würde. Nein, denn wenn wir den Weg weiter gingen, würden wir mit Sicherheit jegliche Bindung zu unseren Mitmenschen verlieren. Mit diesen ängstlichen Gedanken suchte ich beim Grafen nach weiteren Antworten.
„Chalse, bitte begleite uns. Was ist ...?“
Doch der Graf unterbrach mich in dem Augenblick und sagte: „Ihr müsst euch nicht genau hier und jetzt entscheiden. Ihr wisst nun von den Dimensionen, Parallelen und dem Land der Nibelungen sowie der schwarzen Sonne, die das Leben speist und noch vielen weiteren und mysteriöseren Dingen. Also geht jetzt aus der Grotte hinaus. Ich kann nicht weitergehen, denn das ist mir untersagt worden und ich muss mich an die Regeln halten. Ihr habt nun die Chance, Großes zu leisten. Ihr habt von mir die Werkzeuge und das Wissen dazu erhalten. Nun geht.“
Als Chalse seine kleine Ansprache beendet hatte, zeigte er uns den Ausgang aus der Grotte.
Wir gingen über abstrakte Steingebilde hinweg, wie ich sie schon einmal gesehen hatte. Nur eines fehlte: Wo waren die Zwerge, denen ich damals hier begegnet war? Warum hatte ich den Stein damals genau hier erhalten? Und warum war der Graf nun hier gealtert? Er sah völlig anders aus. Viele Fragen gingen mir durch den Kopf, auf die ich keine Antwort wusste.
Endlich standen wir in einem Tal, das ich ebenso kannte wie die Grotte. Nachdem ich mich kurz orientiert hatte, konnte ich einen Weg ausmachen, der sich mir zwischen den Steinen zu meiner Linken und der kleineren Wiese zu meiner Rechten eröffnete.
Wir waren gespannt, wo uns der Weg hinführen würde und folgten ihm, bis wir einen größeren Platz passierten und nach weiteren fünf Minuten vor einer kleinen Ruine ankamen, die neben einem Wald lag. Vor dieser Ruine saß ein Mönch auf einer Holzbank. Auch er kam mir bekannt vor.
Bei ihm angekommen, hob er seine rechte Hand und zeigte mir in der Ferne eine Brücke, die ich mit bloßem Auge gerade noch erkennen konnte und die ich ebenfalls schon kannte. Sie war nicht allzu weit weg, vielleicht fünf Minuten zu Fuß. Eine sehr schmale, aber lange Brücke. Ich sah den Mönch wieder an.
„Was ist das für eine Brücke? Wo führt sie hin?“
Der Mönch erklärte, dass dies die Brücke sei, die nach Simbola führte. Dann sah er den Professor an deutete ihm an, dass er über die Brücke gehen sollte. Claras war erstaunt und wollte wissen, warum er diesen Weg gehen sollte, doch der Mönch drängte ihn nur: „Nun gehe nach Simbola, mein Freund“, waren seine einzigen Worte.
Und Claras gehorchte. Er ging mit raschen Schritten und wie ihn Trance, ohne weiter nachzufragen über die Hängebrücke, die in einen grünen Nebel getaucht war, und verschwand. Ich blieb verwirrt bei dem ominösen Mönch zurück und wollte ebenfalls in Richtung der Brücke gehen. Aber als ich meinen ersten Schritt machte, um dem Professor zu folgen, hielt mich der Mönch am Arm zurück. „Stopp, Jürgen. Nein.“
Ich sah den Mönch fragend an. „Weshalb nicht? Was mache ich dann hier? Was hat das alles zu bedeuten? Warum nur der Professor? Wer bist du?“
„Jürgen, ich bin einer der neun Wächter vom Untersberg und von den Nibelungen. Wir waren es einst, die die Halle der Zeit am Untersberg bewachten und dort unser Werk vollbrachten.
Claras sollte vor der Entscheidung, die der Graf vorhin erwähnte, noch die andere Welt sehen. All das, was du gesehen hast. Nur so ist eine Weiterführung eurer Aufgaben möglich. Du kannst nicht über die Brücke. Der schwarz-violette Stein, den du erhalten hattest, ist verschwunden. Er wurde der Sonne, die das Leben speist, übergeben.“
Dann zeigte mir der Mönch, eine Türe in dieser Ruine und sagte mir, dass ich nun durch diese Türe gehen sollte und dass wir uns zu gegebener Zeit wiedersehen würden.
4. Die Goldene Stadt
Claras betrat am Ende der Brücke wieder festen Boden und konnte bei einem Blick zurück nur den Nebel sehen, der die Brücke verschlang, sodass deren Ende nicht zu erkennen war. Wie in Trance stapfte er weiter, bis der seltsame Zustand von ihm abfiel und er wieder ganz der Alte war.
„Verdammt, war ich auf Droge? Wie bin ich hierher gekommen?“, fluchte er. Nur vage konnte er sich an das Gespräch mit dem älteren Herrn in der Höhle erinnern. Da ihm nichts anderes übrig blieb und weil er auch neugierig war, wo er sich befand, ging er einfach immer weiter und betrachtete stumm die merkwürdige Landschaft, die sich um ihn herum ausbreitete.
Er befand sich in einer Art Sandwüste, in der es lediglich hier und da ein paar verdorrte Büsche gab. Auch der Himmel sah ganz anders aus, als er ihn kannte. Lebendiger. Farbenfroher. „So was habe ich noch nie gesehen“, schüttelte er ungläubig den Kopf. Er rätselte, wo er sich wohl befand, konnte aber die Landschaft mit nichts vergleichen, was er bisher gesehen hatte.
Nach einigen Minuten öffnete sich plötzlich vor ihm in einer Schlucht ein riesiges weites Tal. Vorsichtig trat er näher an den Abhang heran und ließ den Anblick auf sich wirken. Fassungslos starrte er auf die beinahe märchenhafte Landschaft. Ob er wohl in einer Art Matrix gefangen war? War diese Umgebung nichts als ein Hologramm?
Die Umgebung war einfach zu schön, um wahr zu sein. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand und worum es sich dabei handelte. Aber er nahm fremde Töne und Gerüche wahr und sah das zauberhafte Tal mit seinen Steinbauten. Der Professor ließ sich am Rande des Abgrunds nieder und versuchte, seine Gedanken zu sortieren.
All dies war so völlig anders als die Realität, die er kannte. Seine Gedanken und Gefühle waren hier und dort völlig gegensätzlich. Und die Welt, die er kannte, war alles andere als so vollkommen wie das, was er hier sah. Viele Gedanken über die letzten Tage und auch über sein vergangenes Leben kamen ihm in den Sinn. Es war, als würde er seine Vergangenheit Revue passieren lassen und noch einmal erleben.
„Das hier ist der Blick über den Tellerrand oder mein Hamsterrad hinaus, in dem ich bisher gefangen war. Das ist genau das, was ich jetzt gebraucht habe“, stellte er fest.
Claras versuchte, die beiden Welten, die er nun kannte, gedanklich miteinander zu verbinden. Dennoch war er ein Gefangener der Materie, der groben Manifestationen, die dem Erfindergeist der Menschen entstammten. Und dies wurde ihm in diesem Augenblick zum Verhängnis. Rückblickend musste er jetzt erkennen, dass dies der Grund und der Weg waren, die ihn aufgrund seiner Bestimmung und der Opfer, die er gebracht hatte, hierher geführt hatten.
Und das alles ausgerechnet in dem Augenblick, indem er sich dazu durchgerungen hatte, die Lehren der Freimaurer anzunehmen und in den Mysterien der Menschheit weiterzugehen, in dem Wissen um die Energie, die in allem vorhanden ist, das existierte.
„Das ist genau das Problem“, seufzte er. „Ich weiß zu viel, habe zu viel gesehen, kenne zu viele Geheimnisse und weiß über ganz fundamentale Dinge Bescheid, die anderen unbekannt sind.“
Und jetzt noch dieses neue Wissen, diese neue Welt. Das machte es für ihn nicht leichter, nein, eher im Gegenteil. Denn sein Leben war ihm schon lange zur Qual geworden. Er konnte einfach nicht aus seinem Hamsterrad der falschen Systeme und allerhand aufgezwungener Dinge ausbrechen.
War denn überhaupt ein Ausbruch möglich? Eine Flucht vor den von fremden Mächten geschürten Ängsten? Aber er konnte keine Antwort auf diese essenziellen Fragen finden, die er sich hier am Rand des Abgrundes selbst stellte. Zumindest im Moment konnte er keine naheliegende oder sinnvolle Lösung finden, die ihn aus diesem Dilemma herausführen würde. Er konnte im Augenblick den Weg nicht erkennen, der ihn weiterführen sollte.
Mit der rechten Hand nahm er eine Handvoll des Wüstenstaubes auf und ballte die Hand zur Faust. Dann ließ er den sandigen Staub zwischen den Fingern hindurch langsam wieder zu Boden rieseln.
„Sand und Staub. Materie, die in okkulten Kreisen dem Saturn zugeordnet wird“, sagte er zu sich selbst, bevor er sich wieder erhob und erneut das Tal vor seinen Augen betrachtete.
Dort lag eine glitzernde Stadt, die von grünen, riesigen Bäumen umgeben war. Darin befanden sich moderne, prächtige Bauten mit Glasfassaden, in denen sich das Licht einer unbekannten Sonne spiegelte. Der violette und grüne Abendhimmel im Hintergrund berauschte seine Augen.
Claras zückte sein 20-Euro-Fernrohr aus seiner Umhängetasche und sah sich die Stadt genauer an. Sie war nicht weit entfernt und es sah dort ähnlich aus, wie die Welt, die er kannte. Es waren auch Fahrzeuge zu erkennen, die allerdings in der Luft schwebten. Hören konnte er nichts. Es war alles sehr leise. Auch wenn in der Stadt ein großes Getümmel herrschte und sie sehr lebendig wirkte, war alles still.
Kein Brummen von Motoren, keine Nebengeräusche von Flugzeugen oder Zügen, selbst die Menschen waren still. Es gab keine Geräusche in der gesamten Umgebung und er sah nur die Vögel rege hin und her fliegen. Das und die Farbenpracht am Himmel fand er einfach atemberaubend und die Szene stellte für ihn einen Inbegriff der Vollkommenheit dar. Außerdem musste er zugeben, dass er sich hier sehr geborgen fühlte.
„Wo befinde ich mich hier bloß?“, fragte er sich und machte einen Schritt zurück vom Abgrund. Dabei fiel es ihm schlagartig wieder ein. Es war dieses Agartha, das er schon einmal erlebt hatte. Allerdings ein wenig anders und nicht so dunkel wie damals. Oder genau das Gegenteil. Zumindest war das Gefühl ähnlich wie damals in Agartha, oder auch das Reich der Nibelungen, wie es der Graf vorhin noch genannt hatte.
Er wusste es nicht genau, hatte jedoch das unbestimmte Gefühl, dass Agartha präsent war. „Ist jetzt die richtige Zeit dafür, diese Welt zu betreten?“, überlegte er ängstlich. „Will ich sie sehen? Will ich sie spüren?“ Jürgens Worte fielen ihm wieder ein: „Der Weg ist schmal und gefährlich“ hatte er ihm gesagt. Bei der Erinnerung daran war ihm klar, dass er nicht in die Stadt gehen konnte. Damit würde er sich nur selbst betrügen, sich seiner Lebensaufgabe verschließen und sich nie mehr um etwas anderes kümmern können.
Doch die Versuchung war groß. Er rang mit sich selbst, wollte unbedingt in die Stadt gehen, dort bleiben, die Geborgenheit spüren. Aber er wusste auch, dass er zu sehr an seiner Vergangenheit haftete. Seine Taten, seine Verluste, die Dunkelheit des Agarthas, das er damals gesehen hatte und die Macht, die er erhalten hatte – die aber nicht kostenlos gewesen war. In ihm tobte ein Kampf und er musste all seine Kraft aufbringen, um erst einen, dann einen zweiten und einen dritten Schritt vom Abgrund weg zu machen und endlich zu beschließen, dass er nicht in die Stadt gehen würde.
Kaum hatte er seine Entscheidung getroffen, stellte er fest, dass der Weg, den er gekommen war, plötzlich nicht mehr vorhanden war. Er war einfach verschwunden! „Verdammt nochmals, was ...?“ Hastig blickte er sich in der Gegend um und erkundete die Landschaft, die ihm plötzlich fremd erschien, jedoch jener ähnlich war, durch die er hierher gekommen war. Der Weg war weg und er stand vor sandigen Dünen mit Pflanzen, die er vorhin noch nicht gesehen hatte, die jedoch ebenso grün waren wie die Pflanzen, die zuvor die Landschaft geprägt hatten.
Er konnte nicht verstehen, warum der Weg verschwunden war und die Landschaft sich erneut verändert hatte. Die Gegend sah zwar ähnlich aus wie die, durch die er zuvor hierhergekommen war, aber sie war eben nur ähnlich und nicht identisch. Verunsichert ging er wieder an den Abgrund und betrachtete die Stadt, die unter ihm im Tal lag. Ob seine Entscheidung falsch gewesen war? Ob er sich mit seinem Rückzug geirrt hatte? Der Weg war jedenfalls verschwunden und die Landschaft hatte sich verändert. Wohin könnte er denn jetzt gehen? Er würde sich vermutlich hoffnungslos verirren.
Je länger er über eine Lösung nachdachte, desto mehr Angst bekam er. Welche Optionen blieben ihm denn schon? Schließlich begann er vor Aufregung sogar zu zittern und Schweiß stand auf seiner Stirn.
Dann fiel ihm der Graf ein. Er dachte an Jürgen und die Gespräche mit dem Grafen und seinem Sohn. Auch an die Geisterhöhle am Untersberg. Von dort wusste er ja: „Die Angst ist nicht real. Sie ist eine Entscheidung.“ Also versuchte er, diesen Satz zu beherzigen, ruhiger zu werden und sich mit geschlossenen Augen zu entspannen, was ihm nach einigen Minuten auch gelang.
Als er sich besser fühlte, öffnete er die Augen und ihm war klar, dass es für ihn nur einen Ausweg gab: Er musste ins Zentrum dieser Stadt. Als er sich besser fühlte, öffnete er die Augen und ihm war klar, dass es für ihn nur einen Ausweg gab: Er musste ins Zentrum dieser Stadt. Er hatte schon zu viel nachgedacht über seine Angst sowie seine Zweifel über genau diese Situation.
Kaum hatte er diesen Entschluss gefasst, sah er einen kleinen Trampelpfad, der am Abhang in die Tiefe führte. Mutig ging er darauf zu und folgte dem Pfad bergab. Es dauerte nicht länger als 30 Minuten, bis er das Tal erreicht hatte und noch einmal an die Stelle hochsehen konnte, von der er losgegangen war. Er atmete noch einmal tief durch, bevor er zielstrebig Richtung Stadt marschierte. „So, nun gehe ich in diese Stadt. Koste es, was es wolle!“
Ganz in Gedanken, was ihn wohl in der Stadt erwarten würde, bemerkte er nicht, dass er verfolgt und beobachtet wurde. Ein schmächtiger Mann in dunkler Kutte war dem Professor bereits gefolgt, seit er über die Brücke gegangen war. Der Verfolger hatte Narben im Gesicht und am Hals und einen gebückten Gang. Schleichend folgte er Claras und es schien, als ob er nur auf den richtigen Moment warten würde …
Er befand sich jetzt nur noch knapp 20 Meter hinter dem Professor und schnaufte schwer. Hinter einem Stein versteckt, beobachtete er, wie der Professor an einem Bachbett stehen blieb, und sich auf einen flachen Stein setzte, um sich auszuruhen. Hastig strich der Verfolger mit seinen rauen Händen Dreck und Schweiß von seiner tätowierten Stirn. Der Moment, auf den er gewartet hatte, war endlich gekommen.
Er zückte den rostigen Dolch und schlich sich lautlos an, kroch das letzte Stück hinter einem Busch vorbei. Sein Körper spannte sich an, als er hinter dem Busch hervorsprang und laut schreiend die letzten drei Schritte auf Claras zurannte. Mit erhobenem Dolch stürzte er sich krächzend auf den Professor, der sich vor Schreck zur Seite auf den Boden warf und geistesgegenwärtig einen Ast ergriff, der dort lag. Eine schwache Waffe, aber sie reichte aus, um den Angreifer zu überraschen.
Claras schlug den Ast gegen den Kopf des Angreifers, wo er zerbrach und der Feind ging zu Boden. Schnell schlug der Professor ihm zwei oder drei Fausthiebe ins Gesicht und setzte noch einen gezielten Schlag auf die bereits deformierte Nase. Das saß! Das Nasenbein des Kuttenträgers schob sich zu Seite und Blut schoss über Claras Faust und verteilte sich im Gesicht des Verfolgers. Rasch nahm der Professor dem verdutzten Angreifer den Dolch aus der Hand und drückte ihm diesen fest gegen die Kehle.
„Töte mich. Los töte mich“, lachte der Angreifer wie ein Verrückter los und starrte Claras aus seinen blutüberströmten Augen an.
„Du wolltest mich gerade erstechen, warum? Wer bist du?“, wollte der Professor wissen und war noch etwas außer Atem von der ungewohnten Kampfeinlage.
„Ich bin Azazel. Töte mich. Töte mich“, lachte der Verletzte hysterisch.
Claras konnte den üblen Kerl nicht einschätzen, aber er befand sich in einer fremden Welt und jemand wollte seinen Tod. Da durfte man nicht zimperlich sein. Also nahm er den Dolch von der Kehle des Fremden und stach ihn ihm in seine rechte Wade, damit er nicht mehr angreifen konnte.
Der Fremde ächzte vor Schmerz und lachte dann aber weiter. Währenddessen stand er vorsichtig auf und setzte sich neben den Professor auf den Stein. Dann tastete er vorsichtig an seiner zertrümmerten Nase herum. Der Professor konnte jedoch keine Rücksicht auf seinen Angreifer nehmen und bestürmte ihn mit seinen Fragen.
„Wer bist du? Was bist du? Warum wolltest du mich töten? Weißt du, wo wir sind?“
Der Mann mit der gebrochenen Nase sprach undeutlich, krächzend und stöhnend, aber immerhin antwortete er.
„Wir sind in der Dudael-Wüste vor Simbola. Der Stadt der Seligen. Im Portal des Nichts. Ich sagte schon, mein Name ist Azazel. Ich bin ein Nodens und ich bin der, dem die Sünden auferlegt worden sind. Ich bin der, der nichts passieren lässt.“
Claras sah sich um und konnte ihm nicht ganz folgen.
„Eine Wüste? Was ist mit dieser Stadt? Ist das Agartha? Von welchen Sünden sprichst du? Wen lässt du wohin passieren? Und was zum Teufel ist ein Nodens?“
Azazel starrte auf den Boden und murmelte einige wirre Sätze vor sich hin.
„So leer und so kahl. Warum nur und wann? Gehe den Weg am Rande des Baches entlang und zweige nicht ab nach rechts in Richtung Golgatha.“
„Was faselst du denn da? Kannst du das mal genauer erklären?“, brauste Claras auf.
„Die Zonen hier werden von den himmlischen Wesen regiert. Nur die Priester können die Tore durchschreiten, die an die Wüste der Leere grenzen. Gehst du durch, musst du durch das Wasser der Sphären. Bedenke, dass du ohne Wächter deinen Körper niemals wiederfinden wirst, wenn du aus dieser Dunkelheit zurückkehrst.“
Als Azazel den Satz beendet hatte, starrte er den Professor aus seinen schwarzen Augen plötzlich blutrünstig an, sodass dieser zurückzuckte. Der blutüberströmte Mann lachte wild, als er die Angst des Professors sah. Der Professor wich zwei Schritte zurück, als Azazel aufstand.
„Du Narr“, zischte er ihn an. „Nun geh endlich nach Simbola und erinnere dich an das Blut des Tempels. Wir werden uns wiedersehen.“
„Nun sag mir endlich, warum du mich töten wolltest!“, verlangte der Professor zu wissen.
„Geh den Weg, den ich dir erklärt habe, und weiche nicht davon ab. Denn wenn du abweichst und mir den Orgalez nicht zeigen kannst, werde ich zur Stelle sein und dir das allerdunkelste Reich zeigen, das es gibt. Und den Preis dafür werde ich dann ebenso von dir fordern!“
Azazel warf dem Professor noch einen bedrohlichen Blick zu und verschwand rasch hinter dem Gebüsch, von wo aus er zuvor den Angriff gestartet hatte. Der Professor war sich nicht ganz sicher, was Azazels Drohung zu bedeuten hatte. Er versuchte sich einen Reim auf das Gehörte zu machen, aber eigentlich verstand er nur Bahnhof.
„Ein Mann, dem Sünden auferlegt worden sind? Dudael-Wüste? Ein dunkles Reich? Einen Preis fordern ohne den Orgalez? Das Blut des Tempels? Und was war dieses Golgatha?“, grübelte Professor Claras, kam aber zu keinem Ergebnis.
Weil er nicht wusste, was er sonst hätte tun sollen, beschloss er, das surreale Erlebnis zu verdrängen und schlug den von Azazel beschriebenen Weg entlang des Baches ein. Dabei erinnerte er sich an den Preis, den er damals hatte zahlen müssen, als er den schwarzen Stein aus Agartha mitgebracht hatte. Aus der Welt, die sie damals in Mexiko unter den Pyramiden zu Forschungszwecken betreten hatten.
„Ist das hier ähnlich wie damals?“, fragte er sich. „Ist dies eine Warnung, die ich aber damals nicht erhalten habe?“, fragte er sich. Nachdenklich ging er neben dem Bachbett entlang, bis er nach wenigen Minuten die Abzweigung sah, die nach rechts wegführte.
„Ist das die, die Azazel gemeint hat?“, überlegte er und ging probeweise einige Schritte nach rechts. Ein seltsames Gefühl ließ ihn innehalten. Er hatte den Eindruck, dass ihn jemand beobachtete.
„Ich glaube, ich werde paranoid“, schimpfte er mit sich selbst. „Ich fühle mich tatsächlich hier in der menschenleeren Gegend beobachtet. Oder sollte ich meinem Gefühl trauen und es als Warnung ansehen?“
Vorsichtshalber entschied er sich dafür, auf dem Weg am Bach entlang zu bleiben. Er hatte schon mehr als genug Probleme und konnte nicht noch weitere Schwierigkeiten brauchen. Obwohl er nervös war, folgte er dem Bach, genau wie Azazel es ihm aufgetragen hatte.
Nach einer guten halben Stunde Fußmarsch durch Staub und Sand kam er an eine Brücke, die er zügig überquerte. Dann stand er vor einem goldenen Tor. Dem Eingang nach Simbola. Die Stadt der Seligen, wie der Mann sie genannt hatte. Als er langsam darauf zuging und für einen kurzen Moment innehielt, fasste ihn plötzlich eine Hand von hinten an die Schulter. Claras erschrak, drehte sich um und sah ein Lichtwesen.
Als das Wesen den Professor berührte, sah er Bilder, die keiner Antwort mehr bedurften. Er sah, dass er nur in diese Stadt gehen konnte, wenn er die Hürden bewältigen würde, die er eben vor seinem geistigen Auge gesehen hatte.
Claras erinnerte sich an die Aussage von Jürgen über die zu meisternden Hürden, um die Goldene Stadt im Untersberg zu passieren. Die von Jürgen damals beschrieben Hürden dienten ihm als „Zugangsberechtigung“ zur Goldenen Stadt:
1. Hürde – Die Innenschau. Hier wurde ihm gezeigt, dass es damit anfängt, nach innen zu sehen, um zu erkennen, wer man tatsächlich ist und was einen ausmacht.
2. Hürde – Sperre des Weges. Beim Erkennen der eigenen Identität und Aufgabe sowie den dunklen und hellen Seiten der einzelnen Persönlichkeit wird meist die dunkle Seite aufgerufen, um hervorzutreten und aufgelöst werden zu können. Hierbei sperrt man sich meist unbewusst vor der Heilung.
3. Hürde – Der Rückweg ins Bekannte. Bei der Spiegelung der einzelnen Themen aus den ersten beiden Hürden ist die Verlockung zu groß, den Rückweg anzutreten und nicht weiterzugehen in den Kampf der eigenen Schattenseiten.
4. Hürde – Altes loslassen und Liebe annehmen. Um neue Erkenntnisse annehmen zu können, bedarf es der Kunst, Altes loszulassen. Egal ob Wut, Groll, Trauer oder Schmerz in jeglicher Hinsicht.
5. Hürde – Rückschau in die Vergangenheit. Der Rückblick in die Vergangenheit nach dem Erlangen der fünften Stufe erweist sich oftmals als größte Herausforderung. Hier wird alles durchlebt und gefühlt, was ihr anderen und euch selbst angetan habt.
6. Hürde – Der Gipfelsieg. Habt ihr alle fünf Hürden gemeistert, könnt ihr nun all die Schattenseiten transformieren oder auflösen, sodass ihr neues Bewusstsein erlangt, für den Eintritt in die Goldene Stadt (deren Zweck ich in der Erklärung schon angegeben habe und auf den ich noch eingehen werde).
„War das das Geheimnis? War das die Lehre? Die orientalische Lehre der Abisheka, die ich bei den Freimaurern lernte? Waren das die Worte von Azazel?“, dachte er sich in jenem Augenblick. Im Zusammenhang mit seinem freimaurerischen Wissen wusste er, dass es die Schlüssel der Sefiroths waren, die ihm diesen Wesen eben zeigte, als es die Hand auf Claras Schultern legte.
„Wer bist du?“, fragte Claras mit demütiger Stimme. Das Wesen hob seine Hand und zeigte auf einen Himmel, der anders war, als ihn Claras kannte. Als Claras nach oben starrten, sah er plötzlich einen Lichtfunken, der immer größer wurde.
Plötzlich knallte es ohrenbetäubend und Claras wusste, was Azazel mit dem „Blut des Tempels“ gemeint hatte. Als das Lichtwesen ihn ansah, wusste er um die Vergangenheit eines tief erschütternden Rituals bei den Freimaurern …
Wut stieg in ihm empor und er krempelte sich das weiße Hemd über die Unterarme. Dann nahm er mit seiner linken Hand das Messer, das links von ihm auf dem Tisch lag, und setzte es an. Er starrte in die Kerzenflamme zu seiner Linken und wusste genau, was er jetzt zu tun hatte.
Seine Hände zitterten aus Angst und Respekt vor dem Unbekannten. Doch voller Wut und Euphorie, dem Zukünftigen nun entgegenzutreten, wurde das Messer immer tiefer in den Arm gedrückt. Blut kam noch keines, aber er fiel auf die Knie. Und er begann zu weinen, vergoss Tränen, die er so lange zurückgehalten hatte.
Dieser Schmerz, dieser Tod, dieses beinharte Schicksal, das ihm zuteilgeworden war. Die jahrelangen Kämpfe gegen genau diese eine Sache. Ohne Ausweg, ohne Licht in der Dunkelheit. Nur eine Chance, zu entkommen: Durch die Selbstgeißelung verbunden mit einem Dämon des Blutrituals, das er eben versuchte durchzuführen.
Jetzt war es soweit. Er wusste, wenn er das Messer jetzt noch ein bis zwei Millimeter tiefer drücken und das Messer nach links schieben würde, würde das Blut über seine Unterarme laufen und das Ritual wäre vollendet.
Zu den rhythmischen Hammerschlägen des Logenmeisters und der Aufseher, die bei diesem Ritual dabei waren, ließ er das Messer über den Arm gleiten, sodass der Lebenssaft aus seinem Unterarm herauspulsierte. Danach ließ er das Messer fallen und zerbrach an der Dunkelheit, die ihn hier genau an diesen Punkt gebracht hatte.
Nachdem er einige Minuten am Boden gekniet hatte, stand er auf und betrachtete die Kerze, die immer noch im dunklen Antlitz des Zentrums der Ritualstätte des Freimaurertempels loderte …
Claras erinnerte sich wieder an seine verdrängte, dunkle Zeit bei den Freimaurern. Die Anbetung des Saturns, der Materie und des Hexagramms. Die Zeit, in der er einem Zweck diente, den nicht einmal er zur Gänze verstand. Er dachte über seine vergangenen Lehren und das Wissen um so manche Dinge nach, die nur einem Adepten zu Teil wurden, der in den höchsten Kreisen der Freimauer eingeweiht wurde.
„Azazel. Ein alter Dämon aus den gnostischen Lehren und aus der Bibel. Ist nun der Zeitpunkt gekommen, an dem ich meinen Preis zahlen muss? Was ist mit diesem Orgalez? Und wer sind die Nodens?“
Als er vor den Toren Simbolas vor diesem Wesen stand, erkannte er auch den Zusammenhang mit Azazel. Es bedurfte keiner Worte. Claras sah und spürte es. Er sah die Wüste, in der er sich eben noch befunden hatte. Er sah auch Azazel wieder vor seinem inneren Auge.
Das Wesen von vorhin war verschwunden. Stattdessen sah er den dämonischen Anblick des keuchenden Gesichtes von diesem Azazel. Claras wollte fliehen. Panik stieg in ihm hoch und er fing an zu hyperventilieren.
Aber plötzlich fand er sich erneut in einer Umgebung wieder, die er nicht kannte. Er sah Giganten und den gesamten Besitz der Menschen. Diese Giganten verschlangen alle Besitztümer, fraßen sie regelrecht auf. Nach geraumer Zeit waren diese Besitztümer allesamt verschwunden und diese Giganten fraßen plötzlich die Menschen.
Ein Engel am Himmel, der in ein feuerrotes Gewand aus Feuer gekleidet und in Blut getränkt war, stieg auf den Erdboden herab zu den Giganten. Dieser Engel bändigte ihre Kraft und verwies sie der Erde. Er schickte sie hinab in ein Tal in der Wüste Dudael, wo er vorhin schon gewesen war. Verdammt in alle Ewigkeit, bis zum Tag des Jüngsten Gerichts sollten die Giganten und Azazel dort verweilen.
Als Claras, dieses Horrorschauspiel verfolgte, musste er erkennen, dass dieses eben Erlebte eine ferne Illusion einer abstrakten Realität gewesen sein musste. Er stand immer noch vor dieser Brücke und sah in die Wüste der Leere. Es war jedoch nichts mehr zu erkennen. War es ein Trugbild? War es nur in seinem Kopf?
Claras wussten in diesem Moment nicht, was er tun sollte. Gefangen in einer Welt, die er nicht kannte, verweilte er vor der Brücke zur verschlossenen Stadt Simbola, der Stadt der Seligen, die ganz real vor ihm lag. Doch er konnte nicht hinein, denn das Wesen war verschwunden und er hatte das Gefühl den Verstand zu verlieren und dem Tod nahe zu sein.
Dennoch raffte sich Claras raffte auf und ging in Richtung der Tore von Simbola. Er wusste, dass er nur dort hineinkäme, wenn er alle Schlüssel der Sefiroth bei sich hätte und alle aktiviert wären. Das gesamte Wissen, das die Heilung der Menschen und des Universums mit allen Daseinsformen, Methoden und Systemen umfasste.
Er wusste, dass er nun hier gefangen war, nicht nur in der Leere des Nichts, sondern auch in der seelischen Leere, die er empfand. Hier in der Wüste Dudael vor den Toren Simbolas, der Stadt der Seligen bei Golgatha. War dies nun sein Schicksal?
„Warum wollte Antonio bloß, dass ich hier herkomme? Der Graf sagte doch, wir kämen genau dort hin, wohin uns unsere Seele leitet?“
Je länger Claras über seine vergangenen Taten sowie die Freimaurer, das Blutritual und das dunkle Agartha nachdachte, desto schwindliger wurde ihm. Krampfhaft versuchte er, eine Verbindung dieser alten Ereignisse mit den aktuellen Erlebnissen zu finden. Schließlich wurde ihm schwarz vor Augen und er fiel zu Boden, wo er mit dem Kopf gegen einen Stein knallte.