Читать книгу Posttraumatische Belastungsstörungen - Mareike Augsburger - Страница 8

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1 Klinisches Bild und Kriterien der PTBS

Fallbeispiel

Frau B. saß auf dem Beifahrersitz. Bei der Autobahneinfahrt passierte es. Ein anderer Fahrer wollte vom Beschleunigungsstreifen auf die von ihm links gelegene Spur einfahren. Dabei übersah er das Auto, in dem Frau B. und ihre Freundin saßen. Seine linke Wagenseite streifte die rechte Front des Autos von Frau B.s Freundin. Metall und Glas splitterten grässlich. Überall war Blut. An mehr kann sich Frau B. nicht mehr erinnern. In ihrem nächsten wachen Moment befindet sie sich mit großen Schmerzen in einem Krankenhaus. Dieses darf sie nach einer Woche wieder verlassen. Doch die psychischen Beschwerden halten bis heute, Monate später, an: Frau B. wacht mehrmals in der Woche schweißgebadet von Alpträumen auf. Auto fahren kann sie nicht mehr, auch Bus fahren fällt ihr schwer. Dafür ist die Angst vor einem weiteren Unfall zu groß. Nähern sich Autos, erschrickt Frau B. schnell. Das quietschende Geräusch von Bremsen versetzt sie in Panik. Ihren Job musste sie aufgeben. Frau B. hat das Gefühl, seit diesem Unfall sei ihr Leben sei ruiniert.

Das Fallbeispiel beschreibt die psychischen Folgen eines Verkehrsunfalls. Frau B. beschreibt dabei augenscheinlich typische Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Doch zur leitliniengerechten Diagnosestellung und Feststellen der Therapieindikation muss das Zutreffen bestimmter Kriterien geprüft werden. Je nach verwendetem Diagnosesystem (International Classification of Diseases (ICD) oder Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disordes (DSM)) können sich die Kriterien unterscheiden. Im Folgenden werden deswegen die Symptome sowohl nach ICD-11 (World Health Organisation [WHO], 2018) und DSM-5 (American Psychiatric Association [APA], 2015) beschrieben.

1.1 Das traumatische Ereignis

Die PTBS (und die KPTBS, Kap. 2) gehören zu den wenigen psychischen Störungen, bei denen ein traumatisches Ereignis zwingend zur Diagnosestellung vorangegangen sein muss. Je nach Klassifikationssystem unterscheiden sich die Definitionen geringfügig:

• In der neuen ICD-11 wird das traumatische Ereignis oder eine Serie von Ereignissen als extrem bedrohlich oder furchtbar beschrieben (World Health Organisation 2018). Dadurch qualifizieren sich verschiedenste Situationen, die absichtlich nicht a-priori genauer festgelegt wurden.

• Das DSM-5 beschreibt sehr viel konkreter ein traumatisches Ereignis als »Konfrontation mit tatsächlichem oder drohendem Tod, ernsthafter Verletzung oder sexueller Gewalt« (A-Kriterium; American Psychiatric Association 2015, S. 369). Es wird weiter unterschieden zwischen:

1. Direkte Exposition

2. als Zeuge oder Zeugin miterlebte Ereignisse

3. Erfahren, dass das Ereignis einer nahestehenden Person zugestoßen ist

4. Beruflicher Konfrontation mit Details von Ereignissen

Beide Definitionen beinhalten damit eine große Spannweite potentiell traumatischer Erfahrungen. Es kann hilfreich sein, zwischen sogenannten man-made Traumata (z. B. Angriff, sexuelle Gewalt) und akzidentiellen Traumata (z. B. Verkehrsunfall, Naturkatastrophe) zu unterscheiden. Es wird ebenfalls zwischen Typ-I-Traumata und Typ-II-Traumata differenziert. Bei ersterem handelt es sich um ein unerwartetes singuläres Ereignis auftreten (z. B. Überfall), letzteres beschreibt mehrfach und wiederholt auftretende potentiell traumatische Erfahrungen (z. B. wiederholte sexuelle Gewalt) (vgl. Maercker und Augsburger 2019). Dies wird vor allem für die Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (KPTBS) relevant.

Merke

Bei vielen umgangssprachlich als »Traumata« bezeichneten Ereignissen (z. B. Trennung des Partners/der Partnerin; Ablehnung durch die Vorgesetzte) handelt es sich nach diesen Definitionen nicht um traumatische Ereignisse. Gleichwohl kann es sich für die betroffene Person um eine sehr belastende Erfahrung handeln, die gegebenenfalls eine psychotherapeutische Intervention erfordert. Doch für das Vorliegen eines traumatischen Ereignisses muss eine drohende oder tatsächliche Verletzung der psychischen und/oder physischen Integrität bestanden haben.

1.2 Symptomtrias: Wiedererleben, Vermeidung, Übererregung

Drei Hauptsymptomgruppen oder Symptomcluster, die als Reaktion auf das Überleben eines traumatischen Ereignisses auftreten, definieren das Störungsbild der PTBS ( Abb. 1.1): Wiedererleben, Vermeidung und Übererregung (bzw. gegenwärtige Bedrohung) (vgl. Augsburger und Maercker 2018a; Maercker und Augsburger 2019).


Abb. 1.1: Die drei Symptomgruppen der PTBS

Im Fallbeispiel sind diese drei Symptomgruppen klar zu erkennen: Frau B.s anhaltende Alpträume weisen auf eine Wiedererlebens-Symptomatik hin. Ihre Unfähigkeit, Tätigkeiten zu verrichten, die in unmittelbarer Nähe mit dem traumatischen Ereignis standen (Auto oder Bus fahren), sind Beispiele für Vermeidungsverhalten. Symptome der Übererregung manifestieren sich in übersteigerter Schreckhaftigkeit und Konzentrationsschwierigkeiten.

Wiedererleben

Die betroffene Person erlebt das traumatische Ereignis oder Aspekte davon auf unkontrollierbare Weise wieder. Dies kann in wachem Zustand sein oder im Schlaf stattfinden (z. B. Alpträume). Dabei erfolgt das Wiedererleben nicht nur visuell in Form lebhafter Bilder und Träume, sondern auch verschiedene sensorischen Systeme sind am Wiedererleben beteiligt: Gerüche, Geräusche, körperliche Empfindungen (z. B. Berührungen auf der Haut), physiologische Reaktionen (z. B. Schwitzen), all dies drängt sich dem oder der Betroffenen unkontrollierbar erneut auf, so wie es damals passiert ist. Ursprünglich nicht mit dem traumatischen Ereignis in Zusammenhang stehende Stimuli (sogenannte »Trigger« wie z. B. das Schlagen einer Autotür, klingeln an der Haustür) können dabei ein Wiedererleben auslösen.

• Nach ICD- 11 wird das Vorliegen lebhafter intrusiver Erinnerungen, Flachbacks oder Alpträumen gefordert, gefolgt von starken Emotionen (z. B. Angst, Hilflosigkeit) und physischen Empfindungen. Ebenfalls ist es möglich, dass Betroffene von den gleich-intensiven Gefühlen wie bei Ablauf des traumatischen Ereignisses überströmt werden. Dies bedeutet, leichte Erinnerungen an das Erlebte reichen nicht aus, es muss sich um intensive intrusive Wahrnehmungen »im Hier und Jetzt« handeln.

• Im DSM- 5 (B-Kriterium) muss das traumatische Ereignis persistent wiedererlebt werden. Dazu zählen (1) ungewollte aufwühlende Erinnerungen, (2) Alpträume, (3) Flashbacks sowie (4) emotionales Leid oder (5) physische Reaktivität, wenn Betroffene Erinnerungen an das traumatische Ereignis ausgesetzt werden. Es muss mindestens eins der Kriterien 1–4 erfüllt sein.

Vermeidung

Das unkontrollierte Aufdrängen der traumatischen Erfahrung ist für Betroffene sehr unangenehm. Aus diesem Grund versuchen sie, alle Möglichkeiten zu vermeiden, die Erinnerungen an die traumatische Situation auslösen könnten. In der Konsequenz vermeiden sie Situationen, Plätze, Tätigkeiten, Gespräche oder andere Menschen, die mit dem traumatischen Ereignis in Zusammenhang stehen bzw. als Trigger wirken können.

• ICD-11: Das Vermeiden von Gedanken, Erinnerungen an das Ereignis muss erkennbar sein und/oder das Vermeiden von Aktivitäten, Situationen oder Personen, die an das Ereignis erinnern.

• Im DSM- 5 (C-Kriterium) kann Vermeidung durch zwei Formen sichtbar sein: (1) Vermeidung traumabezogener Gedanken oder Gefühle oder (2) Vermeidung von Erinnerungen an das traumatische Ereignis. Mindestens ein Kriterium (1 oder 2) muss erfüllt sein.

Wahrnehmung einer gegenwärtigen Bedrohung (Übererregung)

Wenn ein Mensch Stress erlebt, löst dies eine Kaskade physiologischer Reaktionen aus (z. B. Kampf- und Fluchtreaktion bei Bedrohung). Bei einer PTBS bleibt der Körper in diesem anhaltenden Alarmzustand gefangen – es findet keine Regulation auf Normallevel mehr statt. Diese Symptomgruppe nennt sich Übererregung oder Hyperarousal – der Körper kann jederzeit auf eine vermeintlich erneut auftretende bedrohliche Situation reagieren. Die Folge sind erhöhte Schreckhaftigkeit und eine übermäßige Schreckreaktion (z. B. Zusammenzucken bei kleinen Geräuschen) sowie Begleiterscheinungen wie Schlafstörungen oder Konzentrationsschwierigkeiten.

• ICD-11: Diese Symptomgruppe wird Anhaltende Wahrnehmung einer erhöhten gegenwärtigen Bedrohung genannt, die sich durch Hypervigilanz oder eine überhöhte Schreckreaktion auf Stimuli zeigen kann (z. B. unerwartete Geräusche).

• Im DSM- 5 wird dieses Symptommuster als Übererregung oder gesteigerte Reaktivität (Kriterium E) formuliert. Es müssen mindestens zwei der folgenden Kriterien entweder nach dem traumatischen Ereignis begonnen oder sich verschlechtert haben: (1) Irritierbarkeit oder Aggression, (2) risikohaftes oder zerstörerisches Verhalten, (3) Hypervigilanz, (4) erhöhte Schreckreaktion, (5) Konzentrationsschwierigkeiten, (6) Schlafstörungen.

1.3 Zusätzliches D-Kriterium nach DSM-5

Im DSM-5 müssen zusätzliche Kriterien erfüllt sein, die nach ICD-11 eher dem Bereich KPTBS zuzuschreiben sind. Es handelt sich hierbei um die Symptomgruppe D Veränderungen in Gedanken und Gefühlen. Die Symptomgruppe beschreibt das Vorhandensein stark negativer Gedanken oder Gefühle, die nach dem Erleben des traumatischen Ereignisses begonnen oder sich danach intensiviert haben. Dazu gehören (1) Unfähigkeit, Kernaspekte des traumatischen Ereignisses zu erinnern, (2) übermäßig negative Gedanken und Annahmen über das Selbst oder die Welt, (3) überzogene Schuldzuschreibungen hinsichtlich der Verursachung des traumatischen Ereignisses, gegenüber einem selbst oder anderen Personen, (4) negativer Affekt, (5) vermindertes Interesse an Aktivitäten, (6) Gefühle der Isoliertheit, (7) Schwierigkeiten positive Gefühle zu empfinden. Es müssen zwei der Untergruppen 1–7 für eine Diagnose nach DSM-5 zutreffen (APA 2015).

1.4 Dauer der und Beeinträchtigung durch Symptome

Um zu verhindern, dass eine (normal auftretende) Belastungsreaktion fälschlicherweise als PTBS diagnostiziert wird oder nur geringfügig ausgeprägte Symptome pathologisiert werden, gibt es Kriterien für Schweregrad und Dauer der Symptome. In beiden Klassifikationssystemen sind ähnliche Kriterien zu finden: Zur Dauer der Symptome erfordert die ICD-11 ein Vorhandensein über mehrere Wochen, im DSM-5 kann eine Diagnose erst nach mindestens einem Monat seit Beginn der Symptome gestellt werden. Nach ICD-11 muss weiterhin eine funktionale Beeinträchtigung vorliegen (z. B. in persönlichen, familiären, sozialen Bereichen, bezüglich der Ausbildung oder des Jobs oder in anderen wichtigen Funktionsbereichen). Ähnlich formuliert das DSM-5 (Kriterium G): Die Symptome müssen zu funktioneller Beeinträchtigung (z. B. sozial oder beruflich) führen oder Leid hervorrufen (vgl. APA 2013; WHO 2018).

1.5 Unterformen der PTBS nach DSM-5

Im DSM-5 kann zwischen zwei Typen der PTBS differenziert werden (APA 2015):

Dissoziativer Subtyp

Es wird unterschieden, ob ein dissoziativer Subtyp vorliegt. Dissoziation wird definiert, wenn eines der folgenden Kriterien als Reaktion auf traumabezogene Stimuli auftritt:

• Depersonalisation: Empfindung, sich außerhalb des oder losgelöst vom eigenen Körper zu befinden (z. B. Gefühle, sich wie in einem Traum zu befinden oder dass dies nicht einem selbst passiert).

• Derealisation: Empfindungen von Unwirklichkeit, Distanz oder Verzerrung (z. B. Dinge sind nicht real).

Verzögerter Beginn

Abschließend wird im DSM-5 klassifiziert, ob der Beginn der Symptomatik verzögert war, d. h. die Kriterien für eine Diagnose traten mindestens sechs Monate nach Erleben des traumatischen Ereignisses auf. Dies gilt für das vollständige Kriterienset; einzelne Symptome können vorher bestanden haben.

Posttraumatische Belastungsstörungen

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