Читать книгу Sabine Meyer - Margarete Zander - Страница 10
TALENTSUCHE UND SELBSTZWEIFEL
ОглавлениеOhne Schwierigkeiten wechselte Sabine Meyer von der Hochschule in Stuttgart in die Klasse von Hans Deinzer an der Hochschule in Hannover. Wie die anderen Studienplatzbewerber spielte sie der Jury aus Hochschullehrern vor, doch es gab einen kleinen Unterschied, der aufmerken ließ, wie sich ihr heutiger Ehemann und Professor für Klarinette Reiner Wehle erinnert, der damals ebenfalls in der Klasse von Hans Deinzer studierte: Es waren sehr viele neugierige Besucher erschienen, um Sabine Meyer spielen zu hören.
Sie war inzwischen 17 Jahre alt, ihr Bruder Wolfgang 22. Die Prüfung war bestanden, sie konnte aufatmen. Diesen Weg hatte sie sich gewünscht, nun endlich konnte sie sich ganz auf die Klarinette konzentrieren. Die Belastungen und Plichten durch den täglichen Schulunterricht fielen endlich ganz weg. Sie lebte in der Wohngemeinschaft ihres Bruders, mit dem sie sich schon immer bestens verstanden hatte, und der von ihr verehrte Klarinettist und Lehrer Hans Deinzer genoss den Ruf, der beste Klarinettenlehrer bundesweit zu sein. Was das bedeutete, sollte sie nun selbst erfahren dürfen.
Als Hans Deinzer, damals Orchestermusiker des NDR Sinfonieorchesters, gefragt wurde, ob er die C4-Professur an der Musikhochschule in Hannover übernehmen wolle, zögerte er zunächst. Er fand diese Aufgabe reizvoll, war jedoch vor allem gerne Musiker.
Zu viele schlechte Erfahrungen in seinen Lehrjahren mit exzellenten Musikern, die schlechte Pädagogen waren, hatten ihn skeptisch werden lassen. Und so nahm er erst einmal nur einen befristeten Lehrauftrag an. Er wollte testen, wie gut ihm das Unterrichten gefiel und ob er dafür überhaupt geeignet sei. Die lange Liste seiner erfolgreichen Schüler ist heute sein schönstes Zeugnis. Hans Deinzer gelang es, die unterschiedlichsten Musikerpersönlichkeiten so aus der Reserve zu locken, dass sie ihren ganz eigenen Weg mit der Klarinette gingen. Dies hatte sicher damit zu tun, dass er selbst so viele verschiedene Rollen mit der Klarinette gefunden hatte. »Da habe ich so viel Glück gehabt – 32 Jahre lang!«
Auf die Frage nach seiner Unterrichtsmethode antwortet Hans Deinzer mit einer Anekdote: Eines Tages sei sein Nachfolger an der Musikhochschule zu ihm gekommen und habe ihn gebeten, ihm zu sagen, wie man gut unterrichtet. Da habe er geantwortet: »Wenn du es herausgefunden hast, sag es mir bitte!« – »Ich bin so unsicher«, entgegnete der versierte Klarinettenkollege. Und Hans Deinzer erwiderte: »Du kannst nichts Besseres tun, als unsicher zu sein. Das ist schon das Prinzip!« So kokett das auch klingen mag, das ist das ganze Geheimnis des Lehrers Hans Deinzer.
An dieser Stelle soll noch ein Kommilitone von Sabine Meyer aus der Deinzer-Klasse zu Wort kommen: Roland Diry. Er ist nach einer erfolgreichen Karriere als Gründungsmitglied des Ensemble Modern inzwischen Manager des Ensembles für zeitgenössische Musik. Diry machte am gleichen Tag die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule Hannover wie Sabine Meyer und bestand auch vier Jahre später am gleichen Tag wie sie die Abschlussprüfung. Natürlich hat er die Karriere der Klarinettistin besonders engagiert verfolgt. Roland Diry erinnert sich gut an die ersten Begegnungen mit der schüchternen Musikerin und stellt fest: »In ihrem musikalischen Ausdrucksvermögen und mit dem Repertoire, das sie spielte, war sie ihrem Alter um mindestens vier Jahre voraus.«
Roland Diry hatte Hans Deinzer 1974 zum ersten Mal bei den Darmstädter Ferienkursen für neue Musik gehört. Ihm gefiel die Offenheit und Neugierde des Profis für das Neue. Und so war es nicht verwunderlich, dass zahlreiche Komponisten Werke für den vielseitigen Klarinettisten geschrieben haben. Deinzers Spiel sollte auch bei Roland Diry das Feuer entfachen und ihm den Weg zum Profimusiker weisen. Roland Diry erinnert sich noch genau an diesen Moment bei einem der internationalen Ferienkurse der Jeunesses Musicales in Schloss Weikersheim: »Hans Deinzer hat dort mit dem Heutling-Quartett Mozart gespielt – und der halbe Saal hat geheult. Und ich hatte mich sozusagen in ihn ›verliebt‹, als Person, als Lehrer und auch als Künstler.«
Die Bläser an der Musikhochschule Hannover genossen damals einen besonders guten Ruf. »Das waren die goldenen Jahre der Holzbläser, aus diesen Klassen kamen die besten Schüler. Hans Deinzer hat das gelebt, was ihm wichtig ist, man konnte wirklich das Vorbild spüren. Und ein junger Mensch, der sich mit all seiner Energie dafür einsetzt, was ihm wichtig ist, kann das direkt entgegennehmen. Hans Deinzer hat schon damals nach Wegen gesucht, wie er seine Schüler öffnen konnte. Das war stets eines der wichtigsten Worte: öffnen.«
Wie stark der Einluss und die Aura von Hans Deinzer damals gewirkt haben, zeigt auch die Karriere von Sabine Meyers Ehemann Reiner Wehle: Nach dem Abitur 1974 entscheid er sich, den Wehrdienst im Heeresmusikkorps zu absolvieren. Dort bekam man eine solide Ausbildung auf seinem Instrument und durfte sich den Lehrer selber suchen. Eigentlich wollte er gern in Hamburg studieren, doch ein Freund, der Fagott in Hannover studierte, riet ihm, nach Hannover zu gehen in die Klasse von Hans Deinzer. Reiner Wehle fragte, ob er ihn für die Zeit des Wehrdienstes als Studenten annehme, auch wenn er danach Architektur studieren wolle. Hans Deinzer war einverstanden und »nach zwei Wochen war klar, dass ich Musik studieren würde«, erinnert sich Reiner Wehle. Es hatte ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Der Unterricht von Hans Deinzer, »das war etwas ganz anderes als dieses ›Töne spielen‹, was ich vorher gemacht hatte. Es war dieser ganzheitliche Ansatz des Musizierens, bei dem auch der Körper und die Psyche eine Rolle spielen. Und dieser Weg schien mir eine echte Herausforderung!« Nach dieser Pflichtzeit bei der Bundeswehr gab Reiner Wehle seinen Studienplatz für Architektur zurück und studierte ab 1975 offiziell Klarinette an der Musikhochschule Hannover in der Klasse von Hans Deinzer.
Wer war dieser außergewöhnlich attraktive, faszinierende Musiker? Hans Deinzer wurde 1934 in Nürnberg geboren. Seine Eltern wollten, dass er sein musikalisches Talent sinnvoll einsetzte und Musiklehrer würde, doch er hatte sich in den Kopf gesetzt, Musiker zu werden. Dass die Klarinette sein Instrument wurde, war Zufall – oder auch nicht.
Eines Tages entdeckte er unter dem Gerümpel in der Abstellkammer ein Akkordeon. Die Eltern spielten kein Instrument, aber irgendein Onkel, so erzählt man ihm, hatte Akkordeon gespielt, und so kam er nach dem Krieg als Jugendlicher auf die Idee, als Alleinunterhalter mit dem Akkordeon durch die Kneipen zu ziehen und Geld zu verdienen. Sein Vater fand, dass die Geige ein seriöseres Instrument sei, um sich eine Zukunft als Musiker aufzubauen, und versetzte seinen Fotoapparat, um ihm eine Geige zu kaufen. Sein musikalisches Talent sprach sich herum, andere Musiker wurden auf ihn aufmerksam. Eines Tages drückte ihm ein Trompeter, der mit einer Blaskapelle sein Geld verdiente, eine Klarinette in die Hand. Jener Herr Horst hatte aus seiner Zeit als Militärmusikmeister ein Sammelsurium an Instrumenten aus dem Krieg hinübergerettet und eine Ländlerkapelle gegründet. Man spielte bei Kirchweihfesten und anderen Geselligkeiten zum Tanz auf. Hans Deinzer spielte mit. Er bekam wenig Geld, mit dem Argument, man würde ihm ja kostenlos die Instrumente zur Verfügung stellen und ihn unterrichten. Von Unterricht konnte jedoch nicht die Rede sein: Es gab keine Noten, er musste die Stücke nach Gehör möglichst sofort nachspielen und für falsche Töne bekam er einen Tritt auf den Fuß.
Hans Deinzer gab sich alle Mühe, doch sein Spiel wurde schlechter und schlechter, der Ton kam bald regelrecht gequält aus dem Instrument heraus. Sein Lehrer, der ja Trompeter war, beschwerte sich eines Tages bei einem Kollegen, der Klarinette spielte, sein Schüler bekäme keinen vernünftigen Ton mehr aus seinem Instrument heraus, da sei wohl Hopfen und Malz verloren. Der Klarinettist fragte Hans Deinzer, wie lange er sein Klarinettenblatt schon spiele. »Was für ein Blatt?«, fragte Hans Deinzer erstaunt zurück – und es stellte sich heraus, dass er das Mundstück zwar immer sorgfältig mit Wasser abgespült, aber in den mehr als drei Monaten, in denen er das Instrument spielte, das Blatt nicht ein einziges Mal abgenommen, geschweige denn gewechselt hatte. Niemand hatte ihm gesagt, dass das Blatt auf dem Mundstück mit der Zeit ermüdet und sich abnutzt. Der erfahrene Kollege gab ihm ein neues Blatt und alles lief wieder wunderbar. »Wäre der nicht gekommen«, erklärt Hans Deinzer, »hätte ich aufgehört, Klarinette zu spielen.«
Gegen den Willen von Herrn Horst, der ihn in seiner Kapelle behalten wollte, und gegen den Wunsch der Eltern, die nicht so recht wussten, worauf das Studium hinauslaufen sollte, beschloss Hans Deinzer, Profimusiker zu werden. Er absolvierte die Aufnahmeprüfung am Konservatorium in Nürnberg und wurde angenommen. Nach der Prüfung fragte man ihn allerdings, warum er denn so laut spiele. »Ich kann noch viel lauter!«, war seine spontane Antwort. Es war dem Musikanten gar nicht aufgefallen, dass er auch in geschlossenen Räumen prinzipiell sehr laut spielte, weil er es von den Umzügen mit der Blaskapelle und den Auftritten auf den Festplätzen bei Dorffesten so gewohnt war.
Sein neuer Lehrer an der Hochschule war Klarinettist an der Nürnberger Oper. »Er war furchtbar«, sagt Hans Deinzer heute. Er brachte ihm zwar die technischen Grundlagen des Klarinettespiels bei, aber für das klassische Repertoire, für Brahms und Beethoven hatte er einfach keinen Sinn. Diese Musik klang bei ihm schrecklich langweilig, sodass Hans Deinzer dachte, das läge an den Komponisten. Solche Musik und diese alten Werke, so glaubte er damals, seien einfach nichts für ihn. Nach kaum zwei Jahren brach er sein Studium ab.
Sein musikalisches Glück fand der junge Musiker dann zunächst im Jazz. Hans Deinzer ist bis heute ein Fan der Szene und gerät ins Schwärmen, wenn er an die Zeit mit Musikern wie Albert Mangelsdorff und Attila Zoller und seine Auftritte in Clubs wie der Berliner »Badewanne« denkt. Irgendwann hörte er den Soloklarinettisten des Sinfonieorchesters des Bayerischen Rundfunks Rudolf Gall und wollte unbedingt Unterricht bei ihm nehmen. Doch der charismatische Musiker sah sich nicht in der Rolle des Lehrers und ersann einen Weg, den jungen Mann loszuwerden: Er stellte Hans Deinzer Aufgaben, die sehr (zu) schwierig waren. Mehrmals schickte er ihn mit einer extrem anspruchsvollen musikalischen Passage zum Üben nach Hause und sagte, er solle selbst die beste spieltechnische Lösung dafür finden. Doch Hans Deinzer ließ sich von dieser Herausforderung nicht abschrecken. Er war so begeistert von dem bewunderten Vorbild, dass es sein Üben inspirierte. Auf diese Weise bewältigte er die schwierigsten Aufgaben und fuhr bald regelmäßig, etwa alle drei Wochen, von Nürnberg nach München, um bei Rudolf Gall Unterricht zu nehmen, und er schwärmt noch heute, jede Minute habe der ihn mehr für die klassische Musik begeistert.
Mit 22 Jahren nahm Hans Deinzer eine Stelle bei den Nürnberger Sinfonikern an. Heute muss er lachen, wenn er daran denkt, wie schlecht er im Prinzip darauf vorbereitet war: »Da habe ich zum ersten Mal einen Dirigenten von vorne gesehen.« Die Stelle war schlecht bezahlt, er hatte sehr viele Dienste, aber das machte ihm nichts aus, weil er »diese wunderschönen aufregenden Sinfonien kennenlernte, Brahms, Beethoven, diese wunderbare Musik hab ich zum ersten Mal beim Spielen im Orchester gehört. Das fand ich wahnsinnig aufregend!« Vier Jahre blieb er in Nürnberg, dann bekam er eine Stelle als Klarinettist in Hamburg im NDR Sinfonieorchester. Chefdirigent war Hans Schmidt-Isserstedt, erster Klarinettist Jost Michaels. Elf Jahre blieb Hans Deinzer dem Orchester treu. Neben diesem festen Engagement war er sehr häufig als Solist eingeladen und spielte zahlreiche Uraufführungen. Nicht wenige Komponisten des 20. Jahrhunderts haben, angeregt von seinem lexiblen, farbigen und großen Ton, Klarinettenstücke und Konzerte für Hans Deinzer geschrieben, unter ihnen Pierre Boulez und Henri Pousseur und vor allem Bruno Maderna.
Im Laufe der Jahre hatte sich Hans Deinzer in Orchestern und den unterschiedlichsten Musikgruppen von Albert Mangelsdorff bis zum Collegium Aureum zahlreiche Methoden und Tricks von Lehrern und Kollegen abgeschaut, nicht nur von Klarinettisten. Aus einer Fülle von Erfahrungen konnte er so seinen Schülern im rechten Moment die entscheidenden hilfreichen Hinweise geben. Oft zitierte er dabei aus der Erinnerung Tipps von Rudolf Gall. Konsequent ließ er seine Studenten an einer individuellen Vorstellung von Musik arbeiten. Oberstes Ziel war die Entwicklung eines ganz persönlichen inneren Klanges. Und wenn er das Gefühl hatte, der Schüler oder die Schülerin hatte eine konkrete Vorstellung davon im inneren Gehör, dann forderte er sie auf: »Und nun schauen Sie mal, wie Sie dahinkommen!«
Auch wenn er selbst das nicht in Regeln und Merksätze fassen möchte: Bei näherer Betrachtung gab es im Unterricht von Hans Deinzer sehr wohl etwas, das man als seine Lehrmethode bezeichnen könnte. In Erinnerungen an den Unterricht von Sabine Meyer wird das deutlich.
Hans Deinzer erinnert sich, dass Sabine Meyer ihm schon als Kind vorgespielt und dabei einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte. Er habe gespürt: ›Da steckt etwas dahinter‹ Aber was war dieses ›Etwas‹, von dem er spricht? Er erklärt, es sei eine besondere Kraft da gewesen und ein starker Wille, etwas musikalisch zum Ausdruck zu bringen, das, was sie an einer musikalischen Idee begeisterte, den Hörern auch mitzuteilen. Ebenso stark, wie Hans Deinzer sich an die dünnen Beine und das ländlich wirkende, ›ungezähmte‹, fast wilde Äußere des Teenagers erinnert, erinnert er sich an die ungeheure Energie, die sie ausstrahlte, als sie ihm im Kursus in Weikersheim als kleine Schwester von Wolfgang Meyer und dann später als Jungstudentin in Stuttgart vorspielte. Dass dies keine ›normale‹ Studentin war, war ihm von Anfang an klar.
Sabine mit 16
»Bekannt aus Funk und Fernsehen«, stand auf den Plakaten zum Konzert am 14. August 1976 im großen Rathaussaal von Bad Königshofen, und das schon zwei Monate, bevor Sabine Meyer ihr Studium in Hannover offiziell begann. Als Gewinnerin zahlreicher Wettbewerbe von »Jugend musiziert« waren schon zahlreiche ihrer Auftritte aufgezeichnet worden.
Nun hatte Hans Deinzer sie als Studentin in Hannover angenommen und spürte eine besondere Verantwortung. Und bevor es mit dem Unterricht losging, gab es ein weiteres kleines Zwischenspiel.
Im Oktober 1976 trat die 17-jährige Klarinettistin in der ZDFShow der Starsängerin Anneliese Rothenberger auf. Die Fernsehredaktion hatte 120 Nachwuchsmusikerinnen und -musiker zu einem Vorspiel eingeladen, um aus ihnen 13 Talente für die Show auszuwählen. Sabine Meyer kam in die engere Auswahl und fuhr zu Proben nach Hamburg. Noch heute kann sie sich über den schlechten Klavierbegleiter aufregen, den man ihr bei den Kameraproben an die Seite gestellt hatte. Er spielte falsche Töne und schwankte im Tempo. Aus heutiger Sicht lässt sich nur vermuten, dass dieses Spiel zum Konzept der Fernsehleute gehörte, denn so konnte man vor der Sendung die Selbstsicherheit und das Nervenkostüm der jungen Musiker testen und herausfinden, wer einem Liveauftritt vor Kameras wirklich gewachsen sein würde. Schon lange, bevor die Talentsuche im Fernsehen populäre Showunterhaltungsdimensionen angenommen hatte, sagte Wolfgang Rademann, der Produzent der Anneliese-Rothenberger-Show: »Es kam auch auf Auftreten, Aussehen und eine gewisse Sicherheit an, die uns garantierte, dass nichts schief geht, wenn es ernst wird.« Und Sabine Meyer ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Impulsiv und überzeugend spielte sie Niccolö Paganinis »Karneval in Venedig«, den beliebten Gassenhauer, der auch durch den Text »Mein Hut, der hat drei Ecken« bekannt geworden ist. So bescheiden die Musikerin auf den ersten Blick wirkte, so sicher war ihr Auftritt. Schon damals hatte sie diese starke Bühnenpräsenz. Wenn sie die Bühne betritt, zieht sie alle Blicke magisch auf sich, und wenn sie zu spielen anfängt, erfüllt die Musik den ganzen Raum. Selbstbewusst legte sie ihr Können und ihre musikalische Fantasie in die Musik.
Das Studium war doch dann sicher ein Kinderspiel, mag man denken. Aber weitgefehlt.
Sabine Meyer steckte fest. Die Musikerin befand sich auf dem direkten Weg in eine existenzielle Krise. In ihre übergroße Freude über die neue, äußerlich überaus wohltuende Situation in Hannover mit Bruder und Lehrer mischte sich eine gehörige Portion Zweifel. In dem Moment, als sie die Bedingungen vorfand, nach denen sie sich gesehnt hatte, war sie an einem Punkt ihres Spiels angelangt, an dem sie nicht mehr wusste, ob sie wirklich eine Karriere als Klarinettistin machen würde: Das schnelle Staccato, das sie bei Otto Hermann unter immer stärker werdenden Leistungsdruck unablässig hatte üben müssen, stand plötzlich wie eine Wand vor ihr. Das war eine Hürde, die einfach zu groß für sie war, ein unüberwindliches Hindernis. Sie konnte ihre Zunge einfach nicht so schnell und locker bewegen, wie es nötig war. War das das Aus?
Alle Hoffnungen ruhten auf Hans Deinzer. Und was unternahm der? Scheinbar nichts. Er ließ die Studentin ein Jahr lang kein Staccato spielen! Wenn Sie gut spielte, lobte er sie, aber sie konnte das Lob nicht wirklich akzeptieren, weil sie auf ihren Mangel fokussiert war und konterte: Ja, aber ich kann kein Staccato spielen! Doch Deinzer machte unbeirrt weiter. Natürlich hatte er sich Gedanken gemacht. Aber er reagierte auf seine Weise, denn er sah die Lösung in einem ganz bestimmten Weg. Er war ein exzellenter Reiter und tat das, was man mit einem Pferd macht, das ein Hindernis scheut: Man schenkt ihm Vertrauen und lässt das Hindernis erst einmal aus. Basisarbeit nennt man das. So ließ er Sabine Meyer zunächst sehr intensiv einfache Töne spielen, ganz bewusst, Töne mit einem runden Körper, Töne, die sanft einschwingen und ebenso sanft ausklingen. »Aber ich kann kein schnelles Staccato spielen«, schimpfte Sabine Meyer. »Doch, du wirst sehen, du kannst!«, war seine Antwort, »später!« Hans Deinzer sah, dass sein Schützling blockiert war. Und Druck auszuüben, wäre der falsche Weg gewesen. »Es war vorauszusehen, dass das Staccato auf diese Weise nur fest und nagelig werden konnte«, sagt er. Lockerheit erreicht man durch Selbstvertrauen, und nur Lockerheit würde letztlich zum Ziel führen. Und so baute er Vertrauen auf, indem er an ganz anderen unterschiedlichen musikalischen und technischen Problemen mit ihr arbeitete.
Das war ein grundsätzlicher Perspektivwechsel. Im Mittelpunkt des Unterrichts von Otto Hermann hatten die Spieltechniken gestanden, vor allem die technische Geläufigkeit, nach dem Motto: »Ohne Fleiß kein Preis!« und »Übung macht den Meister!« Bei Hans Deinzer wurde die Technik stets mit einem inneren Sinn verbunden. Auch in seinem Unterricht mussten die Schüler manchmal wochen- oder monatelang die gleichen Tonleitern üben, aber es ging nicht nur um die schlafwandlerische technische Geläufigkeit, sondern um die Musik. Die Tonleitern wurden so lange sorgfältig geübt, bis man alle Töne mit dem gleichen Druck und der gleichen Farbe und in einem größtmöglichen Gleichmaß spielen konnte. Dabei galt es, immer wieder neue Klangvorstellungen zu entwickeln. Jede technische Übung wurde mit einem Gefühl verbunden, mit der Vision von einem Ton, mit Fantasie und Klanggefühl. Und mit diesen Übungen baute er langsam Vertrauen auf, zu ihm als Lehrer. Vor allem aber wuchs das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten seiner Studentin. Das war eine Art zu üben, die das Ziel ebenso im Auge hatte wie jeden kleinsten Schritt auf dem Weg dorthin.
Das Problem mit dem Staccato blieb. »Jeder Mensch kann seine Zunge sehr schnell bewegen«, erklärt Hans Deinzer im Rückblick sehr sachlich und fügt schmunzelnd hinzu: »Vielleicht nicht so schnell wie Sabine Meyer, aber schnell.« Und auf diese Tatsache hat er vertraut. Nach einem Jahr war Sabine Meyer in der Lage, sehr genau zuzuhören und technische Tricks, die er ihr zeigte umzusetzen. Sie hatte begonnen, durch Empathie zu lernen: durch intuitives Nachahmen, ohne große Worte. So kam irgendwann der Moment, an dem Hans Deinzer langsam begann, sich an die technische Blockade, an das Staccato heranzutasten. Er hat ihr eine Übung vorgespielt und sie hat sein Spiel imitiert. Dass das gelingt, gehört zu den zentralen Erfahrungen von Hans Deinzer und ist eine seiner Glaubenssätze für den guten Unterricht: »Einen Ton muss man fühlen, bevor man ihn spielt. Was auch immer da zwischen Hirn und Muskulatur passiert, der Musiker muss sich zugleich innerlich hörend und körperlich fühlend auf einen Ton einstellen.«
Die Blockade brach auf. Zuerst konnte Sabine Meyer das Staccato nur gemeinsam mit ihrem Lehrer im Unterricht spielen, dann ohne ihn und schließlich auch allein zu Hause. Heute sagt Hans Deinzer, dass nur wenige Klarinettisten ein so schnelles Staccato spielen können wie Sabine Meyer, und er ergänzt ein bisschen stolz: »Mit so einer Blockierung könnte man zum Psychiater gehen. Mit ihm würde man dann mental an diesem Thema arbeiten, aber ich denke, ein Instrumentallehrer hat da noch ganz andere Möglichkeiten.«
Bewundernswert findet Hans Deinzer den Weg, den Karl Meyer mit seiner Tochter gegangen ist. Er hatte ihr empfohlen, jeden Tag Etüden zu spielen und diese in andere Tonarten zu übersetzen. »Ich hätte das so nie mit meinen Kindern gemacht«, sagt Hans Deinzer, »das wäre mir zu streng gewesen, aber er hat es sehr gut gemacht.« Es war seine Methode und das Entscheidende daran ist: Die Kinder hatten Vertrauen zu ihm und machten das gerne mit. Sie liebten die Herausforderungen und wenn Sabine eine Tonleiter üben sollte, hat sie oft zwei geübt. Hans Deinzer hat viel mit dem Vater geredet und weiß: »Sabine war schon als Kind mit Leib und Seele Musikerin. Mir ging es ähnlich: Wenn ich von der Schule nach Hause kam, habe ich den Ranzen in die Ecke geworfen und geübt.« Und er konnte sich genau hineinversetzen in Sabine Meyer, denn ihm war es als Kind nicht anders gegangen. Was ihn zum Üben angestachelt hatte, war nicht mehr und nicht weniger als die Vorstellung, etwas immer besser machen zu können. Er hatte eine Vision vom idealen Klang der Klarinette und wollte nichts anderes, als diesem Ziel immer näher zu kommen. »Aber ist es denn nicht langweilig, immer nur Klarinette zu spielen?«, fragte ihn einmal ein Kollege. »Ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen, dass es das sein könnte«, antwortete Hans Deinzer und kann sich heute noch über diese Frage entrüsten.
Sabine Meyer hatte mit einem Tasteninstrument angefangen, auch das ist ein großer Vorteil für eine spätere Karriere als Profi. Etwas vom Klavierspielen zu verstehen hilft, sich eine Vorstellung von den Harmonien zu machen und seine Klangfantasie besser auszubilden. Wer das nicht tut, denkt Musik eindimensional, in einer Linie. Der Klavierspieler denkt horizontal und vertikal, er denkt den Ton in der Dichte und in der Tiefe und als einen Zusammenklang mehrerer Töne mit einer räumlichen Dimension.
Besonders schlimm ist es für Hans Deinzer, wenn seine Schülerinnen und Schüler wie zum Beweis dafür, dass ihr Ton »richtig« sei, ein Stimmgerät herausholten. Das bedeute, dass sie noch keine eigene Tonvorstellung entwickelt hätten. Das Gleiche gilt für den Glauben an das Metronom. Natürlich geben Komponisten häufig ein exaktes Tempo an und als Anhaltspunkt ist es sicher in Ordnung, es einmal zur Hand zu nehmen und zum Spielen schlagen zu lassen. Aber das richtige Tempo ist von vielen Faktoren abhängig, vor allem vom Raum. Präzision in Hinblick auf die Partitur ist eine Voraussetzung für das Spielen auf hohem Niveau, aber dann muss beim Spielen das Gefühl hinzukommen und alles Musik werden.
Im Klarinettespielen gibt es zahlreiche Parallelen zum Gesang. Rudolf Gall hat immer gesagt: »Wir haben eben nicht so eine schöne Stimme mitbekommen, also müssen wir mit der Klarinette singen.« Das mündet in die Aufforderung von Hans Deinzer: »Sing mit dem Ding!« Der Sänger moduliert den Ton allein schon dadurch, dass er unterschiedliche Worte formt und ihre Inhalte in den Tiefen ihrer psychologischen Deutungen zum Ausdruck bringt. Für dieses feinsinnige Modulieren muss der Klarinettist sensibel werden.
Die Technik war zunächst nicht Sabine Meyers Stärke. Ihr Bruder Wolfgang war als Student der technisch Bessere, kein Zweifel, er war ja auch fünf Jahre älter. Aber sein Klang war anders, er war nicht so geheimnisvoll, betörend. Während er die Schuld daran oft dem falschen Blatt zuschob, hat Sabine immer an sich selbst gezweifelt. Und den großen Bruder bewundert. Das ging eine Zeit lang gut, aber die unmittelbare Nähe der beiden war für die musikalische Entwicklung nicht nur förderlich. Kaum ein Jahr, nachdem Sabine Meyer als Studentin in Hannover angefangen hatte, war es Zeit für die nächste Veränderung.
Hans Deinzer beobachtete, dass Sabine Meyer nach dem Vorspielen in der Klasse nicht nur ihn fragend ansah, ob sie gut gespielt habe, sondern Bestätigung auch bei ihrem Bruder suchte. Das ließ darauf schließen, dass sie sich auch zu Hause beim Üben stets beim Bruder rückversicherte, und damit hatte er recht – in der besten Absicht, Sabine zu helfen, schlug er seiner Schwester Lösungswege für ihre technischen Problem vor. Das war nicht der Weg, den sie jetzt gehen sollte. Hans Deinzer empfahl den Geschwistern dringend, sich räumlich zu trennen. Und bei aller Sorge um das Wohl des Mädchens, das so alt war wie seine Tochter, legte er auch allergrößten Wert darauf, dass sie ihn nicht als Guru betrachtete. Sein Ziel: Er wollte, »dass sich das Mädchen aus dem Fränkischen in Preußen wohlfühlen konnte«.
Noch hatte sie nicht so recht Anschluss gefunden. Nach dem Unterricht ging sie meist direkt nach Hause, um zu üben. Hans Deinzer regte in der Klasse an, jemand solle sich mal um Sabine Meyer kümmern. »Das kann ich ja machen«, schlug Reiner Wehle vor. »Du nicht!« war die Antwort, die er damals nicht näher begründete und die heute noch bei dem Ehepaar für manchen Lacher sorgt. Gefunkt hat es bei einer Studentenparty, wo Sabine Meyer auf Reiner Wehle zuging. Beide erinnern sich gern an den heftigen Flirt. Die Liebesgeschichte begann, als sich die beiden dann ein paar Tage später im gleichen Ferienkursus im schwedischen Sveg trafen. Von da an waren sie ein Paar, fühlten sich aber noch nicht fest aneinander gebunden.
Doch ein Weg aus der selbst gewählten Isolation sollte sich bald finden: Hans Deinzer brachte Sabine Meyer mit der Pianistin Liese Klahn zusammen. Und das war ein Glücksgriff.
Die 1955 geborene Hannoveranerin war nach dem Unterricht bei der Pianistin Eliza Hansen in die Klasse von Karl-Heinz Kämmerling an der Musikhochschule Hannover aufgenommen worden. Ihr Ziel war es von Anfang an, Kammermusik zu spielen. Deshalb suchte sie immer wieder ihren Platz als Begleiterin von Bläsern und Streichern bei den Wettbewerben von »Jugend musiziert« und leitete später die Gruppe der Pianisten bei den Arbeitsphasen des Bundesjugendorchesters in Weikersheim. Sie wollte gute Musiker hören und dabei attraktive Kammermusikpartner für sich finden.
Reiner Wehle als Student in Hannover
Die Einladung von Hans Deinzer empfand die Studentin Liese Klahn als Kompliment. Sie erkannte darin eine gute Gelegenheit, nicht nur mit einer begabten Klarinettistin, sondern auch mit dem charismatischen Lehrer zu arbeiten. »Für mich war er einfach toll. Heute kann ich sagen: Er war einer meiner großen Lehrmeister auf dem Weg zur Kammermusikerin.« Liese Klahn bewunderte den Umgang von Hans Deinzer mit seinen Schülern. »Er hatte so eine besondere Art, sie zu beschützen und gleichzeitig alles von ihnen zu fordern«, schwärmt sie, »das war nie übertriebener Ehrgeiz oder ein ›Du musst‹.« Auf die Frage nach seiner persönlichen Methode erzählt sie: »Hans Deinzer malte den Schülern stets ein ungeheuer verlockendes musikalisches Ergebnis aus, und das wollten sie dann erreichen.
Liese Klahn hatte Sabine Meyer schon einige Male gehört und bestaunt, besonders, wenn sie in Hochschulkonzerten gemeinsam mit ihrem Bruder auftrat. »Ich erinnere mich noch, wie die beiden Mendelssohn spielten, das war so unglaublich harmonisch, es klang wie aus einer Quelle. Die beiden kannten sich einfach so gut und waren perfekt aufeinander eingespielt.«
Für sich als Pianistin empfand sie vor allem den gemeinsamen Atem mit den Bläsern als etwas ganz Besonderes. »Klarinette und Klavier sind einfach eine fantastische Kombination«, fährt sie fort. »Sie klingen viel schöner zusammen als zum Beispiel Geige und Klavier. Die Frage war stets: Wo hört der Klang der Klarinette auf und wo fängt der Klang des Klaviers an, diesen Übergang darf man einfach nicht hören. An diesen Überschneidungen im Klang haben wir immer gefeilt.«
Liese Klahn und Sabine Meyer verstanden sich auf Anhieb. Was die beiden Musikerinnen verband, war ihre ungeheure Neugier auf Musik. Liese Klahn, die vier Jahre Ältere, erinnert sich, dass sie die Kollegin bewunderte: »Man merkte, da steckte ganz viel Kraft dahinter. Sabine war wie ein Naturkind. Wenn sie sich ans Klavier setzte oder später im Trio die Geige nahm und sagte: ›Lass mich mal‹, dann habe ich immer gestaunt. Sie konnte das ja alles.« Das Musik machen war auch Liese Klahn nie von außen aufgedrängt worden. Der Antrieb kam von innen, aus einer unbändigen Lust daran.
»Wir hatten einen ungeheuren Drive«, erinnert sich Liese Klahn lachend. Die beiden Musikerinnen mit »so ein bisschen einer Zwillingsausstrahlung« waren nicht zu bremsen. »Wir waren Anfang zwanzig, das ist das Alter, in dem muss es passieren, da muss man glauben ›Niemand spielt so schön wie ich‹, und auch wenn man ein Konzert mal schlecht gespielt hatte, es ging weiter, man wollte vorankommen. Man wollte einfach Profimusiker sein.«
Und genau mit diesem charmanten Willen zum Entdecken und Erobern überzeugten die jungen, mädchenhaft wirkenden Musikerinnen das Publikum »Noch fern aller Routine«, wie die Presse schrieb: »Mit freudigem Elan in flotten Rhythmen und mit impressionistischen Stimmungsbildern begeisterten die Ausführenden mit einer ganzen Palette reizvoller Klangwirkungen, reizvoll auch im Zwiegespräch der Geige und Klarinette.« (Wiesbadener Kurier, 7. 11. 1980) Und im Bremer »Weser-Kurier« war über ein Kon zert der beiden zu lesen: »Wie sehr Sabine Meyer bereits über den Wechsel von Klangfarben und tonliche Reife (wie Flatterzunge oder Echoton) verfügt, konnte sie weiter an den insgesamt pointiert getroffenen Miniaturen der Vier Stücke op. 5 von Alban Berg zeigen, in denen Liese Klahn ebenfalls zu charakteristischen Tonnuancen fand.« (Weser-Kurier 28. 9. 1978)
Zu ihrem Repertoire gehörten unter anderem: Bohuslav Martinu, Sonatina für Klarinette und Klavier, Gioachino Rossini, Introduktion, Thema und Variationen für Klarinette und Klavier, Johannes Brahms, Sonate op. 120 Nr. 2.
Gemeinsam mit der Geigerin Susanne Rabenschlag fanden Liese Klahn und Sabine Meyer zu einem Trio zusammen. Liese Klahn erinnert sich, dass sie damals unglaublich gern und viel miteinander gelacht haben. Besonders, wenn wieder mal die ›halbseidenen‹ Stücke des Franzosen Darius Milhaud oder süßliche Romantik von Peter Tschaikowsky auf dem Programm standen. Während die Geigerin und die Pianistin das Lachen hinter dem ›Vorhang‹ ihrer Haare verstecken konnten, musste Sabine tapfer die Fassung bewahren und sich hüten, die Mundwinkel zu verziehen.
Liese Klahn erzählt mit Begeisterung von den unterschiedlichsten Projekten, die die beiden damals verfolgten. Zunächst bekamen sie dabei professionelle Unterstützung: Für die Preisträger von »Jugend musiziert« wurde eine Reihe von 50 bis 60 Konzerten organisiert, die »Konzerte junger Künstler«. Der Deutsche Musikrat gab Veranstaltern eine Liste mit den Gewinnern der Wettbewerbe, mit der Bitte, sie in ihre Konzerte einzuladen. Angesprochen wurden Veranstalter aller Art, solche, die nur wenige Konzerte in kleinen Sälen organisierten bis hin zu den großen, renommierten Konzertreihen.
1979 wurden die Musikerinnen selbst aktiv. »Ich weiß noch gut, wie wir an diesem Tisch im Kloster Mariensee saßen und eifrig Briefe schrieben«, erzählt Liese Klahn. Sie nutzten die persönlichen Kontakte, die entstanden waren, und handelten nach dem Motto: »Jetzt schreiben wir mal selbst an die Veranstalter. Wäre doch ge lacht, wenn die uns nicht wiederhaben wollten.« Die Rechnung ging auf. Die meisten reagierten schnell mit Einladungen. Ihr Engagement, das spürte man in diesen persönlichen Briefen, hatte nichts Verbissenes, es war schlicht getrieben von der Lust, ein Programm, das ihnen am Herzen lag, das sie liebten, vor Publikum zu spielen. Sie wollten die eigene Begeisterung für die Musik mit anderen teilen und den Applaus hören. »Das Talent wollte sich zeigen«, sagt Liese Klahn und ergänzt: »Der Pianist Alfred Brendel hat etwas ganz Kluges gesagt: Man braucht Können, man braucht Fleiß, aber man braucht auch die Gelegenheit, es zeigen zu können.«
»Es gibt ja viele dünnlüssige Musiker heutzutage«, klagt Liese Klahn, die neben ihrer Kammermusikkarriere eine gefragte Professorin ist. »Viele Kinder haben ganz viel gezeigt bekommen, nur: Sie können und wollen das gar nicht selbst ausfüllen.« Kritisch blickt Liese Klahn auf die ständig steigende Anzahl an Wettbewerben, die zum großen Geschäft geworden sind: »Ich finde, diese Überförderung von Halbtalenten ist heute ein großes Problem!« Ihr Tipp an ehrgeizige Eltern: »Man darf jungen Menschen nicht zum Musikstudium zuraten. Entweder sie machen das von sich aus oder gar nicht.« Und ergänzt nachdenklich: »Eigentlich sollte man ihnen eher abraten!«
Damit spricht Liese Klahn einen Aspekt an, der sie mit Sabine Meyer verbindet: Auch sie selbst war von zu Hause aus nicht mit übertriebenem Ehrgeiz in eine Rolle gedrängt worden. Lieses Vater war Maler (als Glasmaler wurde er berühmt), ihre Mutter Musikpädagogin. Beide ließen ihre Tochter unbedrängt nach ihrem eigenen Weg suchen.
Liese Klahn ging nach Salzburg, um am Mozarteum einen Aufbaustudiengang Kammermusik bei Erika Frieser zu besuchen und ergänzte ihre Studien durch Meisterkurse bei Wilhelm Kempff, Gustav Leonhard und Nikolaus Harnoncourt. Der Eroberungsdrang schien grenzenlos.
In Salzburg gründeten die beiden jungen Frauen gemeinsam mit Erich Höbarth vom Concentus Musicus Wien das Wiener Brahms-Trio. Der Geiger Erich Höbarth, geboren 1956 in Wien, war Mitglied des Musikerkreises, der sich um den Cellisten, Dirigenten und Klangforscher Nikolaus Harnoncourt gebildet hatte und nach historischen Quellen suchte. Im Trio mit Sabine Meyer und Liese Klahn spielte er eine moderne Geige, aber natürlich brachte er all die Erfahrungen aus dem Quellenstudium in das Trio ein. Zu ihrem Repertoire gehörten: Mozart, Sonate B-Dur KV 454, Béla Bartök, »Contrasts« für Klarinette, Violine und Klavier, Claude Debussy, »Premiere Rhapsodie« für Klarinette und Klavier (1910), Alban Berg, Adagio 2. Satz aus dem Kammerkonzert für Violine, Klarinette und Klavier, Robert Schumann, Fantasiestücke op. 73 für Klarinette und Klavier (1849), Darius Milhaud, Suite für Violine, Klarinette und Klavier.
Sabine Meyer und die Pianistin Liese Klahn
Über all die gemeinsamen Jahre hat Liese Klahn an Sabine Meyer einige Wesenszüge ganz besonders bewundert: ihre Verlässlichkeit und ihre Treue. «Sie hat nie ein Konzert an einem kleinen Ort in einer wenig bedeutenden Reihe für ein attraktiveres Angebot, das später kam, abgesagt.« Die Konzerte waren eben meist auf der Basis eines zwischenmenschlichen guten Kontakts vereinbart. Und das ist eine wesentliche Art von Sabine Meyer, mit anderen Menschen umzugehen: Die Kommunikation beruht auf einer Basis von Vertrauen.
Schließlich griffen die beiden Freundinnen nach den Sternen und gründeten ein eigenes kleines Festival, ein Pfingstfestival in Schloss Gartow. Persönliche Kontakte zur Familie der Schlossbesitzer hatten die beiden ermutigt. Liese Klahn staunt heute selbst über die Energie, die dieses Vorhaben belügelte: »Und dann kam die Idee in diesem Schloss bei den Freunden der Familie Bernstorff in Gartow im östlichsten Zipfel Niedersachsens bei Gorleben. Wir sahen dieses tolle Schloss, und da haben wir gesagt, wir wollen hier was ganz Großes machen, wir wollen ein musikalisches Pfingsten gestalten. Dazu luden wir natürlich Erich Höbarth mit seinem Wiener Streichsextett ein, das damals entstand. Wir waren ganz jung und ganz unerschrocken.« Auf dem Programm standen unter anderem Bartóks Klarinettentrio, Strauss' Capriccio und Beethovens Erzherzog- und Gassenhauertrio. Es gab akribische Zeitpläne, damit auch alle Stücke vor der Aufführung gemeinsam gut geprobt werden konnten. »Das haben wir da einfach ausprobiert«, erzählt Liese Klahn, die heute eigene Festivals in Weimar veranstaltet. Bestens vorbereiten und lexibel bleiben, das war schon damals der Schlüssel zum Gelingen.
In den Jahren 1981 und 1982 war Sabine Meyer aktiv dabei. Dann trennten sich die Wege allmählich, weil Sabine Meyer über die Plattenfirma und die Konzertdirektion Schmid immer häufiger in einem internationalen Netzwerk von Konzertveranstaltern engagiert wurde. Freundinnen sind die Klarinettistin und die Pianistin bis heute geblieben, und mit Blick auf die steile internationale Karriere von Sabine Meyer, die sich damals anbahnte, sagt Liese Klahn bewundernd: »Sabine ist es gelungen, aus dieser Situation heraus die nächste Raketenstufe zu zünden.«