Читать книгу Sabine Meyer - Margarete Zander - Страница 8
DORFMUSIKANTEN
Оглавление»Nein, schau mal, die liegen ja immer noch hier!«, ruft Sabine Meyer verzückt, als sie die alten Pfennigmünzen auf dem Orgeltisch entdeckt. »Die hat mein Vater da hingelegt. Für jede Strophe eines Liedes schiebt man eine Münze zur Seite und weiß dann immer, wie viele Strophen man noch spielen muss.« Auf den Spuren ihrer Kindheit führt der Weg in die Marienkirche in Crailsheim-Onolzheim. In der dortigen evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde war der Vater als Organist angestellt. Und mit ihm hat die ganze Familie das Gemeindeleben begleitet. Die Festtage wurden wunderbar musikalisch ausgestaltet, wobei die Kinder schon früh verschiedene Dienste übernahmen, besonders, wenn der Vater in der Woche unterrichten musste oder am Samstagabend bis spät abends mit seiner Kapelle zum Tanz aufgespielt hatte.
Der Klang der Orgel ist dem Kirchenraum überraschend gut angepasst. Es ist ein Instrument, an dem verschiedene Orgelbauer mitgewirkt haben, mit dem sich aber niemand ein Denkmal setzen wollte. Schnell ahnt man: Diese reich und farbig klingende Orgel hat die Klangvorstellungen von Sabine Meyer wesentlich geprägt. Eine Orgel ist also verantwortlich für den farbenreichen, flexiblen Ton, der Sabine Meyers Spiel charakterisiert, für seine Lebendigkeit, für die starke Resonanz, die er beim Hörer auslösen kann. Während andere Klarinettisten von der Blocklöte oder vom Klavier zum Blasinstrument finden, wurden ihre Klangbilder von einem Instrument geprägt, das eine unendliche Farbpalette aufweist und dessen Atem nie versiegt.
Kindheit in Crailsheim-Onolzheim
Die tiefsten Register sind ein Acht-Fuß-Flötbass und ein 16-Fuß-Subbass. Das macht den Klang erdig und warm. In ihren hohen Registern bis zum 2 2/3 und 1 3/5 tel Sesquialtera kann man die Töne jubilieren lassen. Und die Orgel verfügt über weitere Register, die den Tönen einen Körper geben, der ätherisch wirkt, als seien sie nicht von dieser Welt. Man vermutet, dass das später mehrfach überarbeitete Instrument 1863 ursprünglich mit zehn Registern auf zwei Manualen und Pedal gebaut wurde, entweder von den Gebrüdern Link aus Giengen oder von der Orgelbauerfamilie Schäfer aus Göppingen.
Die Orgel wirkt feierlich, aber nicht unnahbar, eher wie ein Freund, der einem in guten und schlechten Zeiten zur Seite steht. Es ist keines dieser erhabenen Instrumente, die Königswürde ausstrahlen und dabei überwältigen und einschüchtern. Diese hier hat einen schlichten, warmen Klang, der sich wundersam im Kirchenraum ausdehnt und den Zuhörer umarmt. Die Luft, die durch die Pfeifen geblasen wird, verbindet sich mit dem Atem der Menschen. Die Register der Orgel ahmen vor allem Blasinstrumente nach. Wo heute in einer Größe von 7,14 x 8,50 Meter eine grellbunte Altarwand mit dem Titel »Auferstehung« des Karlsruher Künstlers Thomas Gatzemeier die Wand ausfüllt, gab es bis 2002 eine schlichte weiße Wand mit einer hölzernen, kunstvoll durch Schnitzereien verzierten Kanzel, von der gepredigt wurde. Die Gemeinde saß im Kirchenraum und auf den beiden Seitenemporen, der Spieltisch der Orgel stand auf der hinteren Empore.
Etwa seit ihrem elften Lebensjahr spielte Sabine Meyer regelmäßig auf diesem Instrument. Wenn sie den Vater beim sonntäglichen Frühgottesdienst vertrat, holte sie sich beim Pfarrer am Vorabend die Nummern der Kirchenlieder für den nächsten Tag und übte.
Geriet ihr das instrumentale Vorspiel zu lang, rügte der Pfarrer sie später, ein Gottesdienst sei doch kein Konzert, sie möge sich bitte kurz fassen. Also konzentrierte sie sich ganz auf ein schönes, den Gesang der Gemeinde begleitendes Musizieren. Bald spürte sie, wie sie nicht nur das Tempo beeinlussen konnte. Auch die Art, wie die Gläubigen sangen, war wesentlich von ihrem Spiel abhängig. Nahm sie zu laute Register, wurde der Gesang kläglich und nur einige wenige Stimmen taten sich solistisch hervor, meist unrühmlich. War die Orgelbegleitung zu leise, wurde der Gesang dünn, unsicher, schleppend. Am meisten litt dann die Organistin. Aus der Tiefe des Herzens heraus sollte das alles klingen. War nicht der Gesang die intensivste Form des Gottes-Dienstes? Half nicht der Gesang, die Seele zu trösten?
Sabine Meyer spielte Gottesdienste für die gesamte Gemeinde, für Kinder, bei Hochzeiten und Beerdigungen. Dabei entwickelte sie ein Gefühl für das Geheimnisvolle der Musik, die das Leben in allen Stimmungslagen begleitet und das auszudrücken vermag, was der Mensch mit Worten nicht sagen kann. Mehr als Worte t röstet die Musik. Und mehr als Worte kann sie das grenzenlose tiefe Vertrauen der Menschen in ihr Schicksal zum Ausdruck bringen.
Sabine Meyer spürte schon als Jugendliche, dass sie mit dem Orgelspiel etwas im Innersten der Menschen zum Schwingen bringen konnte. An dieser Orgel in der kleinen, von außen eher unauffälligen Marienkirche ließen sich all die Klangfarben zaubern. An ihr konnte sie die subtilsten Gefühls-Register ziehen.
»Und hier liegen noch die alten Notenbücher, aus denen wir gespielt haben«, freut sich Sabine Meyer. Sie setzt sich hin, spielt ein paar Takte. Die alte Faszination ist sofort wieder da. Die Routine ist verschwunden, aber die Musikerin spielt keinen einzigen Ton einfach nur mal eben so runter. Jeder Ton wird artikuliert. Es ist wie bei einem Schauspieler, der nach langer Zeit wieder auf der Bühne steht, auf der er seine erste große Rolle gespielt hat. Er spult auch nicht einfach den Text einer Rolle ab, nur um zu zeigen, dass er ihn noch auswendig weiß. Nein, er gestaltet. Und Sabine Meyer ist gleich wieder mitten in der Welt der Musik. Ein Lächeln zeigt sich auf ihrem Gesicht beim Eintauchen in die Welt ihrer schönen Jugenderinnerungen.
Sabine Meyer wurde am 30. März 1959 in Crailsheim-Onolzheim als zweites Kind von Karl und Ella Meyer geboren. Ihr Bruder Wolfgang Meyer, der ebenfalls ein erfolgreicher Klarinettist ist, kam am 13. August 1954 zur Welt.
»Der Vater war glücklich«, erinnert sich Ella Meyer, »als er feststellte, dass die Kinder musikalisch sind.« Er spielte den beiden etwas am Klavier vor und die Kinder sangen es nach. Für Karl Meyer war die Musik sein Leben. Er hatte sich seine Karriere zwar anders vorgestellt, aber unter den besonderen Lebensumständen, die vom Zweiten Weltkrieg mitgeprägt worden waren, hat er das Beste daraus gemacht. Er wurde am 4. Dezember 1920 in Crailsheim geboren. Sein Vater arbeitete bei der Bahnpost und spielte in seiner Freizeit auf der Klarinette Tanzmusik in einem Trio. Karl bekam Klavier- und Klarinettenunterricht und wollte Pianist werden. Studiert hat er an der Musikhochschule in Stuttgart. Weil ihm aber das Risiko, als freier Pianist zu arbeiten, zu gewagt erschien und er nicht mit Sicherheit wusste, wo er im internationalen Vergleich mit den Profis stand, ging er auf Nummer sicher und machte eine Ausbildung zum staatlich geprüften Musiklehrer für Klavier. Im Nebenfach belegte er Klarinette. In den Wirren des Zweiten Weltkriegs war es unmöglich, das Studium ordentlich abzuschließen. Karl Meyer fand zunächst eine Stelle am Theater in Weimar, als Korrepetitor (Klavierbegleiter) in der Ballettabteilung, und spielte abends bei Festen zum Tanz auf. »Er hat mal gewettet«, erinnert sich Wolfgang Meyer, »er könne zehn bis zwölf Stunden Unterhaltungsmusik spielen, ohne dabei ein Stück zu wiederholen.« Die Wette hat er haushoch gewonnen. Zu seinem Repertoire gehörten Hits aus Operetten, Polkas, Walzer.
1953 lernte er Ella Kießling kennen. Die Tochter des Bürgermeisters und Bäckers von Crailsheim-Onolzheim war im Gegensatz zu ihren beiden älteren Schwestern schon weit herumgekommen. Sie hatte in der Schweiz als Haushälterin gearbeitet. Im Zweiten Weltkrieg war sie in französische Gefangenschaft geraten und bei einem Gefangenentransport vom Wagen gesprungen, um sich zu Fuß zurück in ihre Heimat durchzuschlagen. In der Schweiz hatte sie eine Stelle in einem reichen Haushalt angenommen. Und weil sie wenig zu tun hatte, das Haus aber nicht verlassen durfte, begann sie, Klavier zu spielen. Sie bekam sogar einige Stunden Unterricht. Auch Karl Meyer sollte ihr später ein paar Stunden geben, doch bald fand sie keine Zeit mehr für dieses Hobby. Sie heirateten, bekamen 1954 ihren ersten Sohn Wolfgang und fünf Jahre später Tochter Sabine.
Ella Meyer engagierte sich in der evangelischen Pfarrgemeinde. Sie kümmerte sich um ältere Gemeindemitglieder und baute eine Frauen- und eine Kindergruppe auf. Karl Meyer wurde Organist an der Marienkirche. Und er begann zu unterrichten. Zunächst die Instrumente, die er selbst am besten beherrschte: Klavier und Klarinette. Aber in der ländlichen Umgebung wollte man vor allem die Instrumente spielen, mit denen man das Dorfleben und die häuslichen Festen mitgestalten konnte: Akkordeon, Blockflöte, Mundharmonika, Gitarre, Schlagzeug und Saxofon. Karl Meyer hatte sich schnell die erforderlichen Kenntnisse angeeignet und das gewünschte Repertoire aufgebaut. Den Klavierunterricht gab er bei sich zu Hause. Die anderen Instrumente unterrichtete er in den örtlichen Musikschulen der Region und den umliegenden Dörfern. Die Eltern brachten die Kinder in den größeren Bauernhöfen zusammen, wo sie in kleinen Gruppen gemeinsam Musikstunden bekamen.
Das Elternhaus in Crailsheim-Onolzheim – mehrere Generationen lebten unter einem Dach
Die Bigband von Karl Meyer (hier an der Klarinette)
Und weil die Dorfbewohner nicht so häufig in die Stadt kamen, wo sie sich Instrumente und Noten hätten besorgen können, eröffnete Karl Meyer bald neben dem Haus einen kleinen Musikalienhandel. Gemeinsam mit seiner Frau Ella machte er diesen Laden zu einem lorierenden Mittelpunkt aller musikalischen Angelegenheiten im weiten Umkreis.
Der Spaß an der Unterhaltungsmusik hat Karl Meyer nie losgelassen. Er gründete eine Band, Unisono, in der er elektronische Orgel, Klarinette und Saxofon spielte. Die Band trat regelmäßig im Offizierskasino der amerikanische Kaserne McKee Barracks in Crailsheim auf. Die Amerikaner ließen sich von zu Hause Schallplatten mit den neuesten Hits schicken und gaben sie Karl Meyer zum Nachspielen. Wolfgang Meyer erinnert sich noch gut, wie der Vater nächtelang die Hits von Glenn Miller und Benny Goodman abhörte, um die Noten aufzuschreiben und für seine Band zu arrangieren. Und wenn die Melodien zum Heraushören zu schnell gespielt waren, überspielte er die Musik auf ein Tonband und ließ das Band langsamer ablaufen, um die Stelle ganz genau zu kopieren.
Beim Musizieren zu Hause in Crailsheim-Onolzheim – im Hintergrund das Tonbandgerät
Um den Auftritten einen professionellen Rahmen zu geben, ließ er holzverkleidete Stehpulte für die Noten bauen, so wie man sie auf den Fotos der amerikanischen Bigbands sehen konnte. Auf den Frontstützen prangte in großen Lettern der Name der Band, auf der Rückseite der Pulte gab es Ablagen für Noten und für die Getränke. Die amerikanischen Soldaten bezahlten die Musiker zunächst in Naturalien: Sie bekamen Gutscheine für den verhältnismäßig reich bestückten amerikanischen Supermarkt auf dem Gelände der Kaserne, in dem man damals noch seltene Luxusartikel wie Schokoladeneis, Kaffee und Zigaretten kaufen konnte. Der Kasino- und Kasernenbereich war streng von der Umgebung abgeriegelt, aber zum Sommerfest öffnete man die Tore und da wurden dann die Familien der Musiker mit eingeladen. Wolfgang Meyer erinnert sich, dass er damals zum ersten Mal mit großer Begeisterung Chicken Wings gegessen hat und Sabine Meyer gerät bei dem Gedanken an das amerikanische Schokoladeneis noch heute ins Schwärmen.
Zu Hause hörten die Kinder den Vater eher selten die amerikanische Bigband-Musik spielen. Sie erlebten ihn als Klavierlehrer, sahen die Schüler, die wartend vor der Tür saßen und hörten sie durch die Tür spielen.
Das erste Instrument, das Sabine Meyer lernte, war das Akkordeon. Auf einem Foto sieht man die Dreijährige auf dem Rasen hinter dem Haus vor einer riesigen Hauswand mit einem Akkordeon vor dem Bauch. Auch wenn es sich offensichtlich um ein kleines Instrument handelte, ein rotes, wie Wolfgang Meyer sich erinnert (was man auf dem Schwarz-Weiß-Foto nicht erkennen kann), wirkt es doch ungeheuer groß. Der Eindruck ist vergleichbar mit dem, den man bei Schulanfängern hat, die zum ersten Mal ihren Schulranzen tragen. Die Kinder selbst sind stolz darauf, aber als Erwachsener fragt man sich besorgt, ob sie diesem ›Monstrum‹ wirklich schon gewachsen sind.
Sabine und Wolfgang
Sabine Meyer hatte ein Ziel: Sie wollte gern wie die anderen Kinder mit ihrem Vater gemeinsam Musik machen und in dessen Mundharmonika- und Akkordeonorchester Karl Meyer mitspielen und beim Dorffest auftreten, wie sie es im nahegelegenen Gasthof »Rose« erlebt hatte. Von Anfang an ging es also nicht darum, als Einzelkämpfer gute Leistungen auf einem Instrument zu erbringen, um Papa und Mama eine Freude zu machen, sondern vor allem um die Freude am Miteinander mit anderen. Auf diese Weise war Sabine Meyer schon sehr früh in einen Rhythmus eingebunden, der dem Leben eine sanfte, aber klare Struktur gab: Jeden Tag wurde geübt, einmal in der Woche fuhr man zum Unterricht in der Gruppe, ein oder zwei Mal im Jahr gab das Orchester ein Konzert.
Das Knopfakkordeon ist ein sehr geeignetes Instrument für Kinder. Man kann schnell kleine Lieder spielen und es klingt immer relativ harmonisch, anders als zum Beispiel bei einer Block lötengruppe, in der durch das unkontrollierte kindliche Pusten schnell unsaubere Klänge entstehen. Und Karl Meyer wusste seine Schüler zu motivieren, unterstützte sie, das Dorleben mitzugestalten. Er arbeitete mit seinen Schülern stets in Gruppen und setzte klare Ziele auf einen Auftritt hin, ob im dörflichen Kreis, auf dem Tanzboden oder in der Musikschule. Ohne dass Karl Meyer ein spezielles pädagogisches Konzept verfolgte, wusste er den Schwierigkeitsgrad der Übungen für den Einzelnen langsam und systematisch zu steigern. Der Umstand, dass jeder Schüler gleich in einer Gruppe mitspielt, mit anderen Anfängern, aber auch mit vielen, die schon weiter sind, trägt einiges dazu bei, dass die Musik von Beginn an schon recht gut klingt. Die Fehler des Einzelnen fallen nicht so ins Gewicht, und das gemeinsame Spielen fördert den Spaß am Musikmachen.
Nicht unwichtig für die spätere Klarinettistin Sabine Meyer war auch, dass das Akkordeonspielen die Hände unabhängig voneinander trainiert: Während die rechte Hand die Melodie auf Tasten spielt, drückt man mit der linken die Knöpfe für die Begleitung. Und noch eine Eigenheit kommt dem Bläser zugute: Das Akkordeon gehört zu den Aerophonen, zu den Instrumenten, die durch Luftzufuhr zum Klingen gebracht werden. Durch Aufziehen und Zudrücken des Balges wird Luft durch die Stimmstöcke gedrückt und bringt die Zungen zum Schwingen, die dann je nach Größe einen unterschiedlich hohen Ton erzeugen. Ein wirklich lebendiges, freudiges Spiel, das zum Tanzen auffordert oder zum (inneren) Mitsingen einlädt, entsteht nur durch einen organisch mitgehenden Atem. Und der entsteht ganz nah am Körper durch Ziehen und Drücken des Korpus mit den Armen.
Bei der Auswahl des Repertoires zeigte sich Karl Meyer einmal mehr als ungeheuer vielseitiger Musikliebhaber in seinem Element: Er suchte Stücke aus, die seine Schüler kannten, die sie innerlich mitsingen konnten und einfach gern mochten – alles gute Tricks, um die Musikalität einer Aufführung zu fördern. Niemand möchte ein Stück, das viele mitsingen können, schlecht aufführen, jeder legt sein ganzes Gefühl hinein, seine ganze Fantasie. Karl Meyer fand für sein Akkordeonorchester eine Mischung aus dem beliebten Standardrepertoire wie dem »Schneewalzer« und der Ouvertüre zur Operette »Die Fledermaus« von Johann Strauss sowie aktuellen Schlagern und Hits, die die Kinder aus dem Radio oder Fernsehen kannten. Und alle waren stolz darauf, diese Musik in den Konzerten ihren Eltern und Verwandten vorspielen zu können.
Man muss kein Rechenkünstler sein, um zu erkennen, dass die Tage von Vater Meyer als Musiker, Lehrer und Musikalienhändler reich gefüllt waren. So war es nur natürlich, dass er schon bald einige Akkordeongruppen mit jüngeren Schülern seiner Tochter anvertraute. Sabine Meyer spielte mit den Kleinen die Stücke, die der Vater ihr auftrug, und schrieb ihnen in ihre Aufgabenheftchen, was sie bis zur nächsten Unterrichtsstunde zu üben hatten. Karl Meyer plegte eine Methode, die heutzutage kluge Bücher zum Selbstmanagement jedem empfehlen, der große Ziele erreichen möchte: die Einteilung des Weges in überschaubare kleine Einheiten, die zu bewältigen sind. Hinter all dem stand die Erkenntnis: Das konsequente, sinnvolle und von Erfolgen gekrönte tägliche Verfolgen und Erreichen kleiner Ziele führt schließlich zum großen Ziel. Und sollte man das vielleicht zu hoch gesteckte Ziel nicht sofort erreichen, weiß man schnell, an welcher Stelle des Lernprozesses man wieder ansetzen kann. Karl Meyer hat diese Methode nicht erfunden, er ist diesen Weg aber ohne Kompromisse gegangen. Er war ein Vorbild an Disziplin, würde man heute sagen, aber so, wie er sie vorlebte, wirkte das auf die Kinder als etwas Normales, ein Arbeitsrhythmus, der sich auf ganz natürliche Weise in das Leben einfügt und es mit prägt.
Karl Meyer unterrichtete zeitweise 150 bis 200 Schüler in verschiedenen Gruppen in der Jugendmusikschule und in umliegenden Dörfern. Seinen Jugendtraum wollte er an seine Kinder weitergeben: Es war ihm nie gelungen, Konzertpianist zu werden – hätte eines seiner Kinder das Talent dazu? Wolfgang Meyer bekam seinen ersten Klavierunterricht, und Sabine wollte ihm unbedingt auf die sem Weg folgen. War das schon musikalischer Ehrgeiz? Es war eher das Phänomen, das man beobachtet, wenn kleine Geschwister mit den älteren schon früh lesen und schreiben lernen, ganz spielerisch. Sabine Meyer liebte und bewunderte den großen Bruder, und so versuchte sie nachzuahmen, was er tat. Mit sechs Jahren bekam Sabine Meyer selbst regelmäßig Klavierunterricht, vom Vater.
Von der Klarinette war damals noch keine Rede. Diese trat über einen Umweg in das Leben der Kinder: Karl Meyer war einer der Lehrer für die Bläser der Stadtkapelle Crailsheim. Und zu diesem Musikverbund gehörten eine Hauptkapelle, eine Bigband und ein Jugendzug. Dieser Jugendzug, in dem die jungen Musiker wie eine Pfadfindergruppe mit gelben Kutten und schwarzen Kordeln einheitlich gekleidet waren, wurde 1964 eingeladen, ein Konzert in der französischen Partnerstadt von Crailsheim, in Pamiers am Rande der Pyrenäen, zu geben. Und nicht nur das: Auf dem Weg dorthin sollten die Kinder einen Tag in Paris verbringen.
Der damals zehnjährige Wolfgang Meyer war fasziniert, Paris, die große weite Welt sehen, er wollte unbedingt mitfahren. Aber für ein Klavier oder ein Akkordeon gab es keinen Platz im Jugendzug. Es war März, im August sollte die Reise stattfinden. Karl Meyer sagte, bei den Trompeten und den Es-Klarinetten sei noch ein Platz frei. Der Junge war wild entschlossen, bis zum Sommer so gut Klarinette spielen zu können, dass er mitfahren durfte. Karl Meyer reagierte pragmatisch: Er gab seinem Sohn eine Klarinette, eine Marschgabel und Noten – und Wolfgang Meyer übte. Sein Ehrgeiz war groß und das Talent offensichtlich auch, denn schon bald konnte er die Melodien fehlerfrei und musikalisch überzeugend vorspielen. Sein Traum wurde wahr: Er durfte als ordentliches Mitglied des Jugendzugs der Stadtkapelle Crailsheim mit nach Frankreich fahren. Dieser Moment sollte für Wolfgang Meyer der Start zu seiner großen erfolgreichen Karriere als Klarinettist werden.
Auch für Sabine suchte der Vater bald ein zweites Instrument neben dem Klavier aus. Sein Bruder war Geiger, er lebte in Berlin und spielte im Orchester der Staatskapelle. Vielleicht wollte Karl Meyer an eine Familientradition anknüpfen und schlug deshalb vor, dass seine Tochter ein Streichinstrument spielte. Wichtig war ihm auf jeden Fall, dass sie in einem Orchester mitspielen konnte. Und so lernte Sabine Meyer das Geigespielen, um schon sehr früh mit ihrem Instrument Mitglied im Schülerorchester der Jugendmusikschule Crailsheim zu werden. Eine wirklich innige Beziehung habe sie zur Geige nie entwickelt, sagt sie heute. Musiker aus ihrem früheren Umkreis können das nicht nachvollziehen, denn Musikalität bewies sie einfach auf jedem Instrument, das sie in die Hand nahm. Und tatsächlich bekam Sabine Meyer im Alter von zehn Jahren beim Wettbewerb »Jugend musiziert« sowohl für ihr Geigenspiel als auch im Fach Klavier erste Preise. Einmal in der Woche fuhr sie nach Crailsheim, wo sie Unterricht bei Horst Karcher bekam und im Orchester der Musikschule spielte. Selbstverständlich hat Sabine Meyer auch die Geige immer ernst genommen, halbe Sachen gab es bei ihr in der Musik nicht (anders als in der Schule, die sie nie so ernst genommen hat). Mit Horst Karcher hatte sie Glück. Er war ein solider Geigenlehrer, der Freude zu vermitteln und die richtigen Stücke auszuwählen wusste. »Es war stressfrei«, sagt sie heute, und das ist ein großes Kompliment der inzwischen sehr erfahrenen Pädagogin. Zum Abschied von der Musikschule Crailsheim führte sie zusammen mit dem Geigenlehrer das Doppelkonzert von Johann Sebastian Bach auf. Das ist ihre schönste Erinnerung an dieses Kapitel ihrer musikalischen Ausbildung.
Lange hat sie sich gefragt, warum ihr Vater sie mit Nachdruck dazu anhielt, weiter Geigenunterricht in Crailsheim zu nehmen, als sie längst als Jungstudentin im Fach Klarinette an der Musikhochschule in Stuttgart aktiv war. Verstanden hat sie es nicht, doch sie erwies sich als brave Tochter. Sie liebte ihren Vater und wollte ihn nicht enttäuschen.
Dass diese vermeintliche Sturheit des Vaters eine sehr kluge Haltung war, erklärte ihr später ihr Lehrer Hans Deinzer. Er war begeistert davon, dass Sabine Meyer so lange die Geige als zweites Instrument spielte. Denn anhand des Geigenspiels, so erklärt er, lassen sich viele technische Details anschaulich zeigen und sich dann auf das übertragen, was beim Klarinettespielen im Rachenraum innen, also unsichtbar abläuft. Man kann auf der Geige demonstrieren, wie unterschiedlich man den Bogen führen oder mit dem Finger die Saiten spielen kann und dieses so erworbene anschauliche Vokabular, das man im wahrsten Sinne durch Begreifen erarbeitet hat, lässt sich für das Spielen auf der Klarinette nutzen. Man bekommt eine bessere Vorstellung für die Zusammenhänge zwischen Zunge und Gaumen und Druck, also für die wesentlichen Grundlagen beim Erzeugen der Töne.
Warum sie die Geige nicht so gern mochte, kann Sabine Meyer nicht erklären. Sie hat sich nie wohl gefühlt mit dem Ton, »der Klang der Geige fand keine wirkliche Resonanz in meinem Körper«, beschreibt sie ihre Empfindung. Wie anders war das bei der Klarinette! Schon wenn sie ihren Bruder Wolfgang spielen hörte, spürte sie einen unerklärlichen Zauber.
Sabine Meyer war acht Jahre alt, als sie zum ersten Mal eine Klarinette in die Hand nahm. Heute kann man sagen: Es war »Liebe auf den ersten Griff«. Vom ersten Moment an fühlte sich das Spielen auf dem Blasinstrument für sie ungeheuer leicht an. Das schwarze Holz lag angenehm warm in den Händen. Die Klarinette, so erinnert sie sich, war von Anfang an einfach ihr Freund. Da gab es kein Kratzen, keinen Widerstand, der Ton entstand so leicht wie beim Singen. Das Instrument lud sie geradezu ein, aus dem Bauch heraus zu spielen, ihre Gefühle und Stimmungen in die Musik hineinzulegen, und die floss auf diese Weise gleichsam durch ihren Körper.
Karl Meyer erkannte die musikalische Begabung seiner Tochter und registrierte ihre schnellen technischen Fortschritte auf der Klarinette mit einem gewissen Stolz. Er entwickelte ein Ritual: Jeden Abend machte er mit seinen Kindern Musik. Wenn er mit dem Unterrichten seiner vielen Schüler fertig war und bevor er dann wieder zum Spielen mit seiner Band aus dem Haus ging, nahm er sich Zeit für Wolfgang und Sabine. Diese oft nur kurzen Begegnungen wurden zu wundersamen kleinen Musikinseln im Tagesablauf. Karl Meyer setzte sich ans Klavier und spielte gemeinsam mit ihnen vierhändig, begleitete sie, wenn sie Geige oder Klarinette spielten oder hörte ihnen einfach zu. Oft improvisierte er eine hübsch klingende Begleitung zu den Stücken, die sie spielten. Er gab ihnen den einen oder anderen Tipp zum Üben, aber am wichtigsten war ihm, dass sie selbst hörten, was zu verbessern war, und einen Weg fanden, das zu erreichen. Von einem strengen Tonfall oder harten Worten war keine Rede. Das gemeinsame Musizieren hatte immer eine freundliche Note.
Doch Dorfbewohner erinnern sich, dass Karl Meyer den Ruf eines strengen Lehrers hatte. Sabine Meyer weiß auch, warum: »Streng war er nur, wenn er merkte, dass jemand nicht gut geübt hatte. Wenn er spürte: Der könnte das besser, war aber einfach zu faul.«
Irgendwie fühlt man sich an die Familie Bach erinnert. Da war jeder Bach ein Musiker und das Üben und Musizieren gehörte zum täglichen Leben wie das Schreiben, Lesen und Rechnen. Und in der gemeinsamen Freizeit belohnte man sich, indem man gemeinsam mit den Kindern und deren Freunden Musik machte.
Zu den schönsten Erinnerungen von Sabine Meyer an die Zeit mit ihrem Vater gehört, dass sie ab und zu sonntags zum Picknick in den Wald fuhren. Man hatte leckere Brote und Wurst dabei – und die Klarinetten. Karl Meyer spielte gemeinsam mit seinen beiden Kindern zwischen den Bäumen, im Hintergrund rauschten die Blätter und sangen die Vögel. Es erscheint einem Außenstehenden vielleicht eher merkwürdig, denn der Wald besitzt ja keinen Resonanzraum, in dem sich der Ton entfalten kann, keine Akustik, die ihn relektiert und trägt. Dieses Spielen in der freien Natur entsprach aber einem Lebensgefühl, dem Wunsch, einen Einklang mit der Natur zu spüren.
Karl Meyer beobachtete begeistert, wie schnell seine Kinder im Vergleich zu anderen Fortschritte machten. Und weil er eine objektive Beurteilung für das Niveau seiner Kinder suchte, meldete er sie zu den Wettbewerben von »Jugend musiziert« an. Ein neuer Rhythmus begann.
In diesem Wettbewerb für Laien lädt der Deutsche Musikrat Kinder und Jugendliche ein, vor einer Jury aus Fachleuten vorzuspielen und um die Rolle der Besten zu wetteifern. Es beginnt auf regionaler Ebene, die Gewinner setzen den Vergleich auf Landesund Bundesebene fort. Karl Meyer war ein kluger Coach – wie man heute sagen würde. Sein tägliches Musizieren mit seinen eigenen Kindern bekam nun mehr Systematik und strengere Regeln. Er hielt sie an, täglich Tonleitern zu üben, technische Geläufigkeit zu trainieren, jedoch niemals ohne einen musikalischen Tonfall. Wenn er Sabine und Wolfgang am Klavier begleitete, spielte er zum Beispiel ein Stück einfach ›gnadenlos‹ durch, egal, ob sie einen Fehler gemacht hatten oder im Tempo mitkamen. Das war anstrengend, stärkte aber auf Dauer das Nervenkostüm der jungen Musiker und schulte ihre Konzentration. Insgesamt erwies sich das als eine sehr gute Methode bei der Entwicklung einer professionellen Haltung, denn man lernt, sich bei einer Aufführung nicht von Fehlern irritieren zu lassen.
Bei den Wettbewerben war Karl Meyer mit dabei und blieb gelassen. Sein Ziel war es nicht, seine Kinder um jeden Preis auf dem Siegertreppchen zu sehen. Er wünschte sich vor allem eine Orientierung: Die Kinder selbst sollten erkennen, wo sie im Vergleich mit anderen standen. Sabine Meyer hat seine Anwesenheit als sehr angenehm empfunden. »Klarinettistisch konnte er da nicht mehr viel sagen«, erzählt sie, »aber er hat dafür gesorgt, dass man gut durch den Tag kam zwischen all den ehrgeizigen Müttern und den Spannungen hinter den Kulissen. Natürlich hatte man beim Wettbewerb Lampenfieber. Aber ich konnte immer ganz gut mit Nervosität umgehen, sodass sich das nicht negativ aufs Spielen ausgewirkt hat.«
Nach dem Wettbewerb war vor dem nächsten Wettbewerb. Die Auswahl des Repertoires wurde in immer größerem Umfang von den Anforderungen der Wettbewerbe bestimmt. Überall bestaunte man Sabine Meyers – gemessen an ihrem Alter – überragende Technik und ihre ungewöhnlich intensive Musikalität, ihre Reife. Was hier zum Vorschein kam, war ein Ausnahmetalent mit einer verblüffenden Unerschrockenheit, die aus einer natürlichen Sicherheit im Umgang mit der Musik resultierte. Bei diesen Auftritten vor einer strengen Fachjury und Publikum aus Kollegen und Freunden trat eine hochbegabte junge Musikerin auf, die schon ihre eigene Auffassung von der Musik präsentierte, der Musik die Erfüllung ihrer Fantasie war. Allen war auch klar, dass sie nicht von einem überehrgeizigen Vater auf Erfolg getrimmt worden war. Jeder spürte, dass der Wunsch, etwas musikalisch zum Ausdruck zu bringen, nicht künstlich antrainiert war, sondern ihrem Wesen entsprach. Sie besaß von Anfang an diesen besonderen inneren Willen, etwas zu erreichen und mitzuteilen, eine Motivation, die man auch von guten Sportlern kennt und die man nicht künstlich erzeugen kann. Schon 1969 in Heidelberg und 1971 in Bielefeld bekam sie im Bundeswettbewerb erste Preise.
Doch so wichtig das war und ist, im Prinzip steht Sabine Meyer Wettbewerben grundsätzlich skeptisch gegenüber. Die Bedingungen haben sich dramatisch geändert, sagt sie: »Es geht nur noch um Punkte und darum, wer die meisten Punkte bekommt. Heutzutage weiß auch noch der Schlechteste, dass er der Schlechteste war. Ich finde, das sollte bei Kindern nicht sein. Es kann einen ersten, zweiten und dritten Preis geben, aber niemand sollte anhand der genauen Punktezahl per Aushang am schwarzen Brett erfahren, dass er der Schlechteste gewesen ist. Diese öffentlichen Listen fördern ein furchtbares Konkurrenzdenken.«
Karriere, davon ist Sabine Meyer vollkommen überzeugt, könne man auch machen, ohne je einen Wettbewerb zu gewinnen!
1971 meldete Karl Meyer die zwölfjährige Sabine zu einer Probenphase beim Bundesjugendorchester an. Sie wurde als bis dahin jüngste Teilnehmerin seit der Gründung des Orchesters 1969 zugelassen, obwohl das Eintrittsalter normalerweise bei 14 Jahren liegt. Vielleicht hat man hier eine Ausnahme gemacht, weil Sabine Meyers Bruder schon Mitglied des Orchesters war und man sie damit in bester Obhut bei den Übephasen in Jugendherbergen und auf den anschließenden Konzertreisen wusste. Wolfgang Meyer galt als Wunderkind auf der Klarinette, seitdem er als Fünfzehnjähriger Igor Strawinskys »Drei Stücke für Klarinette solo« mit großer Überzeugungskraft und höchst musikalisch aufgeführt hatte, Musik, die damals noch bei vielen Klarinettisten als fast unspielbar galt. Und man hatte von Sabine Meyers Talent gehört. Auf dem Anmeldeformular zur Arbeit mit dem Bundesjugendorchester wird gefragt, ob man ein Musikstudium beabsichtige. Vater Meyer gibt an: »ev. ja« – diese Formulierung spricht für seine Bescheidenheit, von der die Kinder immer wieder erzählen: Auch wenn Karl Meyer nie daran gezweifelt hat, dass seine Kinder eine Karriere als Musiker machen, so hat er nie im Hinblick darauf einen übertriebenen Ehrgeiz oder überstolze Eitelkeit an den Tag gelegt. Und wer weiß schon, wie sich das Talent einer Elfjährigen entwickelt und ob sich das Leben nicht eventuell andere Wege sucht.
Die erste Arbeitsphase des Bundesjugendorchesters wurde von Volker Wangenheim geleitet. Er war damals Generalmusikdirektor des Orchesters der Beethovenhalle Bonn, des heutigen Beethoven Orchesters Bonn. Auf dem Programm standen die 1. Sinfonie von Brahms, Mozarts Klavierkonzert KV 453 (Solist war Pierre-Laurent Aimard) und die Sinfonie für Blasinstrumente von Igor Strawinsky. Ein anspruchsvolles Repertoire, technisch und musikalisch. In zahlreichen Arbeitsphasen lernte Sabine Meyer so das große Orchesterrepertoire kennen. Mit professionellen Kolleginnen und Kollegen, unter professionellen Bedingungen und doch in einer Umgebung, die ihren kindlich-jugendlichen Wünschen nach viel gemeinsamer Zeit mit Freundinnen und Freunden entgegenkam und schon damals Abenteuer bereithielt, die anderen in dem Alter unglaublich erschienen.
So wurde beispielsweise das Konzert des Bundesjugendorchesters im Athenäum in Bukarest sogar im rumänischen Fernsehen übertragen. Es galt als ein besonderer Meilenstein im Dialog zwischen Westdeutschland und Rumänien; der deutsche Botschafter sowie Staatssekretär Nicoloiu und zahlreiche politisch und kultu rell einlussreiche Persönlichkeiten waren im Publikum. Zum Abschluss der Tournee spielte das Orchester in einem Freilichttheater eines großen Jugendlagers in Costinesti am Schwarzen Meer. Noch heute bewahrt Sabine Meyer die Andenken auf, die sie damals von ihren Gasteltern geschenkt bekam: eine landestypische Tunika in Schwarz-Weiß mit schwarzen Troddeln und Untersetzer für Gläser.
Zwischen 1971 und 1974 verbrachte Sabine Meyer ihre Ferien in solchen Probephasen mit dem Bundesjugendorchester. Die Leitung hatte jeweils ein professioneller Dirigent und am Ende gab es eine Tournee. Die jungen Musiker liebten es. »Während meine Freunde aus der Schule noch auf dem Sportplatz bolzten«, erinnert sich Wolfgang Meyer stolz, »war ich mit 14 Jahren schon acht Wochen mit dem Orchester in Amerika.«
»Man hatte auch einfach eine gute Zeit zusammen«, ergänzt Sabine Meyer. »Ich erinnere mich gern an die gemeinsamen Ausfüge und die Feiern. Es bilden sich ja auch immer gewisse Cliquen. Über die Jahre kennt man sich immer besser, weil man sich drei Mal im Jahr für zehn oder mehr Tage traf.«
Während Sabine Meyer im Bundesjugendorchester internationale Konzertluft schnupperte und bei zahlreichen offiziellen Anlässen mit dem Orchester gefeiert wurde, veränderte sich ihr Leben von Grund auf. Inzwischen bekam sie regelmäßig Orgelunterricht in der Kirche in Crailsheim. Häufig nahm sie die Klarinette dorthin mit zum Üben, weil der Ton durch den Kirchenraum so schön getragen wurde und sie ganz in Klang eintauchen konnte. Doch der häusliche Rahmen und die Kreisstadt Crailsheim sollten ihr bald zu eng werden. Ein Konzert anlässlich einer Gesellenfreisprechungsfeier, das Karl Meyer leitete, war vielleicht auch für sie eine Art Anstoß, die Lehrjahre in der Heimat abzuschließen und sich auf Wanderschaft zu begeben. Zum Abschied spielte sie, von ihrem Vater am Klavier begleitet in der Kreishandwerkerschaft Crailsheim einen Satz aus Vivaldis Violinkonzert, arrangiert für Geige und Klavier. Wieder einmal hatte Karl Meyer ein geschicktes Händchen bei der Auswahl des Programms bewiesen: Die Musik von Vivaldi war dem festlichen Anlass adäquate, feierliche Klassik und gleichzeitig ein Stück bester Unterhaltungsmusik. Erste Pressestimmen wurden laut. Im »Hohenloher Tageblatt« bewunderte man die »Sicherheit und Einfühlungsgabe« der jungen Geigerin.
Das war 1972. Sabine Meyer besuchte die Realschule in Crailsheim, doch Karl Meyer war sich inzwischen sicher, dass es für seine Tochter wichtiger sei, ihr Talent als Musikerin konsequent weiter zu entwickeln als die schulischen Plichten zu erfüllen. Aber er versuchte vergebens, eine Ausnahmeregelung zu erwirken und sie vom schulischen Unterricht befreien zu lassen.
Sabine Meyer wusste, was sie wollte: wie ihr Bruder Wolfgang an der Stuttgarter Musikhochschule Klarinette studieren. Es war zwar keine Welt voll reiner Harmonie, die er ihr ausmalte, aber im Moment schien ihr kaum ein Preis zu hoch, um ihren Wunsch zu erfüllen und endlich genügend Zeit für die Klarinette zu haben. Dann – so war sie sich sicher – würde sie den strengen Unterricht bei Otto Hermann schon verkraften. Schließlich war der Professor erster Klarinettist im Stuttgarter Opernorchester und ein anerkannter Lehrer. Sie bestand die Aufnahmeprüfung und wurde als Jungstudentin zugelassen.
Zunächst sollte Sabine Meyer einmal pro Woche in Stuttgart Unterricht bekommen. Die 13-Jährige war glücklich und schreckte vor den äußeren Umständen nicht zurück. Die Fahrt mit dem Zug von Crailsheim-Onolzheim nach Stuttgart dauerte damals 2 Stunden und 15 Minuten. Wolfgang Meyer, der die Strecke selbst jahrelang regelmäßig gefahren war, erinnert sich gern an diese Zeit. Mit großer Leidenschaft erzählt er, wie er nach dem Unterricht aus der Schule direkt zum Bahnhof ging und ihn der Vater dort mit einem Paket mit Broten und Getränken und seiner Klarinette erwartete. Bis heute liebt Wolfgang Meyer das Bahnfahren. Er kannte alle Verbindungen und Fahrtzeiten auswendig. Und er weiß noch genau: 48-mal hielt der Zug zwischen Crailsheim und Stuttgart, die Strecke führte noch über Schwäbisch Hall. Später gab es eine andere Linie und da roch er manchmal ein wenig den Duft der großen weiten Welt, wenn er in Crailsheim in den Zug stieg, denn dieser Zug fuhr von Stuttgart aus nach Prag weiter. Auch im eigentlichen Sinne war es ein bestimmter Geruch, der diese Fahrt begleitete, denn die Züge, die die Grenzen überquerten, mussten damals besonders desinfiziert werden. Im Sommer, wenn Wolfgang Meyer wegen der Hitze die Fenster öffnete, mischte sich dieses exotische ›Parfum‹ mit dem Qualm der Dampflokomotive und noch heute rümpft er die Nase, wenn er daran denkt, dass er nicht selten den ganzen Tag diesen rußigen Geruch mit sich trug.
Auch Sabine Meyer liebt das Fahren mit dem Zug. Als sie sich regelmäßig auf den Weg nach Stuttgart machte, fuhren auf der Strecke keine Damplokomotiven mehr und es gab auch nicht mehr so viele Haltestellen. Sie erlebte die Fahrten als eine produktive Zeit, die sie gut für sich nutzen konnte. Auf der Hinfahrt nach Stuttgart machte sie ihre Hausaufgaben und auf der Rückfahrt abends suchte sie nach einem leeren Abteil am Ende des Zuges, um Klarinette zu spielen. Die Schaffner kannten sie schon und grüßten freundlich.
Sabine Meyer war glücklich, an der Musikhochschule Stuttgart studieren zu dürfen. Ihr Wunsch wuchs, später einmal in einem AOrchester, also in einem Orchester der ersten Liga zu spielen. Der Vater hatte ihr die Grundlagen vermittelt, nun wollte sie mehr. Die Warnung ihres Bruders bestätigte sich jedoch: Otto Hermann, zwar durch und durch Klarinettist, war kein begnadeter Pädagoge. Und sein Herz schlug für die Oper. Meist spielte er im Unterricht die Stücke mit seinen Schülern durch, die abends in der Oper auf dem Programm standen. Pünktlich auf die Minute musste Sabine Meyer mit der Klarinette in der Hand vor seiner Tür stehen und anklopfen. Eine Weile ging alles gut. Die Studentin übte leißig und machte Fortschritte. Doch dann spürte sie, wie sie von Mal zu Mal mehr Herzklopfen bekam, wenn sie vor dieser Tür zum Unterrichtsraum stand. Sie hatte Angst. Nicht, weil sie nicht genug geübt hatte, fürs Üben brauchte sie keine Ermahnung, sondern weil sie wusste, wie streng Otto Hermann ihre Fehler kommentieren würde. Oft war dicke Luft – im wahrsten Sinne des Wortes. Denn ihr Lehrer rauchte ununterbrochen Zigaretten. Zuerst musste sie ihm die Etüden vorspielen. Es ging um Tempo und Geläufigkeit. Allmählich wuchsen ihre Schwierigkeiten mit dem Staccato. Otto Hermann ließ sie wieder und wieder dieselben Stellen spielen. Sabine verkrampfte zunehmend und je mehr der Lehrer schimpfte, desto härter wurde ihre Zunge. Nichts ging mehr. Otto Hermann meinte, sie müsse eben noch mehr üben. Aber wie? – das konnte er ihr nicht sagen. Auf ihre Fragen nach technischen Hilfsmitteln oder Tricks bekam sie keine Antwort. Sie müsse das selber herausfinden, meinte er lakonisch. War das eine pädagogisch sinnvolle Methode? Ihr späterer Lehrer Hans Deinzer und auch Sabine Meyer, die heute selbst mit großer Leidenschaft unterrichtet, sehen das skeptisch. Vertrauen sei das A und O.
Nicht ein einziges Mal hat Otto Hermann seine Studentin eingeladen, eine Oper zu besuchen, wo er mitspielte, das Lehrer-Schüler-Verhältnis blieb kühl und äußerst distanziert. Sabine Meyer fühlte sich unter Druck, sie absolvierte die Übungen noch intensiver in der Hoffnung, dass es schon besser würde. Insgeheim aber wuchs die Verzweilung und die Sehnsucht nach etwas anderem, nach einem Unterricht, von dem ihr Bruder erzählte. Wolfgang Meyer studierte seit 1972 in Hannover bei Hans Deinzer. Was sie von ihm hörte, machte sie neugierig. Seitdem sie Hans Deinzer in einer Arbeitsphase des Bundesjugendorchesters in Weikersheim kennengelernt hatte, war sie überzeugt: Ein Klarinettenton konnte einen Menschen verzaubern.
Hans Deinzer hatte einen farbigen, körperlich bewegenden Ton, der sich in jede Stimmungslage versetzen konnte, und er hatte sich aus den Fesseln der Tradition befreit, spielte viele Uraufführungen und Jazz. Er verkörperte das, was man sich als junger Klarinettist wünscht: Freiheit und Gefühl.
Nachdem sie einen Ferienkursus bei Hans Deinzer besucht hatte, kam es im Unterricht bei Otto Hermann zu einem Eklat. Deinzer hatte in seinem Workshop die Unterschiede zwischen einem gewickelten Blatt und einer Metallschelle dargelegt. Traditionell wickelt man das Blatt mit einer Schnur am Mundstück der Klarinette fest, doch Hans Deinzer hatte nichts dagegen, es mit einer guten Schraube festzuklemmen. In der nächsten Unterrichtsstunde in Stuttgart wagte Sabine Meyer, mit einer Blattschraube zu erscheinen. Otto Hermann riss ihr das Instrument aus der Hand: »Das kommt überhaupt nicht in Frage! So was hat hier nichts zu suchen!«, schrie er, zerrte die Klammer vom Mundstück und pfefferte sie wütend in die Ecke. Das Scheppern wirkte wie Donnerhall. Die 15-Jährige war schockiert und enttäuscht. Sie wusste: Sie war zurück in der Welt der starren alten Regeln und Vorschriften.
Sabine Meyers Programm an der Musikhochschule wurde immer umfangreicher. Die Fächer Klavier, Tonsatz, Musikgeschichte, Rhythmik, Instrumentenkunde, Psychologie, Pädagogik, Chor und Orchester waren zu belegen. Wenn Sie es zeitlich nicht mehr schaffte, nach Hause zu fahren, übernachtete sie beim Cousin des Vaters, der als Geiger im Orchester spielte. Doch das war keine Dauerlösung. Der Vater sprach beim Direktor der Waldorfschule in Stuttgart vor und stieß auf Verständnis. Dort wurde sie aufgenommen und konnte bei einer Familie wohnen, deren Tochter in dieselbe Klasse ging.
Die Schule lag direkt neben der Musikhochschule. Der Direktor und die Lehrer reagierten mit Nachsicht, wenn die schulischen Leistungen hinter den Erwartungen zurückblieben. Man war stolz, eine so begabte Musikerin als Schülerin zu haben, und unterstützte sie. In der Waldorfschule in Stuttgart fühlte sich der Teenager bald zu Hause. Dort kannte sie jeden Winkel und nutzte jede freie Minute zum Üben, sowohl Klarinette als auch – immer noch – Geige. Noch heute schwärmt Sabine Meyer von der guten Akustik und Ausstrahlung der Konzertsäle in der Schule. Ihre eigenen Kinder schickte sie daher ebenfalls auf eine Waldorfschule.
Die Jungstudentin war verplichtet, im Hochschulorchester mitzuspielen. Mit ihm gab sie zahlreiche Konzerte in der näheren Umgebung und konzertierte unter anderem in Salzburg. Außerdem spielte sie gemeinsam mit anderen Bläsern der Hochschule in einem Bläseroktett. Ihr Leben war erfüllt von Musik, es entstanden erste Rundfunkaufnahmen. Seit 1973 trat Sabine Meyer regelmäßig in Konzerten auf. Viele Auftritte knüpften dabei an die Wettbewerbe von »Jugend musiziert« an, wie die Triokonzerte mit Gabriele (Horn) und Ulrike (Oboe) Symalla.
Am 9. Mai 1974 spielte Sabine Meyer in Winnenden zum ersten Mal öffentlich das Werk, das zu ihrem Markenzeichen werden sollte: Mozarts Klarinettenkonzert KV 622. Mit ihrer virtuosen, einfühlsamen Interpretation sollte diese Komposition endlich Anerkennung als eines der schönsten Konzerte von Wolfgang Amadeus Mozart erfahren und das Werk wie sein Soloinstrument, die Klarinette, im internationalen Konzertleben verankern.
Sabine Meyer genoss die Anerkennung, die sie erhielt. Sie leistete regelrecht Überzeugungsarbeit für die Klarinette, die Ende der Siebziger-, Anfang der Achtzigerjahre weder als Soloinstrument noch in der Kammermusik ein starkes eigenes Profil besaß. Doch für sie selbst bahnte sich eine Krise an, die sie vor sich selbst nicht mehr verbergen konnte: Sie machte keine Fortschritte mehr. Der Lehrer bestand auf den Staccato-Übungen und je mehr er sie drängte, umso weniger klappte es.
Wolfgang Meyer wurde unruhig. Er bat Hans Deinzer, sich des Problems anzunehmen. Der unterhielt sich beim nächsten Besuch in Stuttgart mit Sabine Meyer und rief danach den Vater an: Er sei bereit, den Unterricht zu übernehmen, Sabine Meyer brauche mehr familiären Halt und einen etwas anderen Unterricht, der ihr wieder Selbstvertrauen geben würde.