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Jasmina

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Nachdenklich kaute die zwölfjährige Jasmina an ihrem roten Bleistift und starrte auf die Seite des Arbeitsheftes, das heute mal wieder keine Anstalten machte, die gestellten Hausaufgaben anzuzeigen. Ihre Beine wippten unter dem Tisch, eine blonde Strähne ihres seidigen Haares hatte sich aus der roten Haarklemme gelöst und kitzelte ihre Stirn.

»Jasmina, wie weit bist du mit den Aufgaben?« schallte die Stimme von Mutter Diana aus der anliegenden Küche. »Beeil dich. Wir haben gleich noch einen Termin mit Tim beim Ergotherapeuten und du hast heute Ballett-Unterricht. Es wird Zeit.«

Das Mädchen schlug das Arbeitsheft zu und strich die Haarsträhne aus dem traurigen Gesicht.

In ihren blauen Augen blinkten Tränen und ihre Nase kribbelte unangenehm, als sie mit gesenktem Kopf die Küche betrat. »Ich weiß nicht, wie die Aufgaben gehen. Kannst du mir nicht helfen?«

Diana strich den neuen XXL-Pullover glatt, der ihre mollige Figur ein wenig schlanker wirken ließ. Dann streifte sie die nagelneuen Stiefel, die weit über ihre Knie ragten, an. »Dazu fehlt mir die Zeit. Das weißt du doch. Wir müssen los. Dass du auch nie deine Hausaufgaben anständig erledigen kannst.«

Genervt zog sie Jasmina hinter sich her, während sie zu Tim, der im oberen Stockwerk sein Zimmer hatte, hinaufrief: »Tim, es geht los. Komm bitte ans Auto, wir treffen uns dort.«

Der fünfzehnjährige Tim hüpfte die Treppe hinab und lief den beiden nach. »Bin schon da.«

Er flegelte sich auf den Beifahrersitz und ließ die Blase seines Kaugummis platzen. Als er sich nach endlosen nervenaufreibenden Minuten endlich angeschnallt hatte, konnte es losgehen. In rasantem Tempo fuhr Diana zur Goethestraße. Dort hielt sie an, ließ den schlanken Jungen vor Marlene Driemanns Praxis für Ergotherapie aussteigen und raste mit einem »bis später«, weiter zum Ballettstudio. Hier wurde Jasmina bereits von der netten Frau Braumann und den sechs anderen Mädchen der Tanzgruppe erwartet.

»Ich hole dich gegen sechs Uhr wieder ab. Stell dich nicht zu dumm an. Bald habt ihr den Auftritt. Dann will ich dich glänzen sehen.«

Diana zupfte Jasminas kurzen Faltenrock in Form, bevor sie rasend schnell das Studio verließ, um die notwendigen Einkäufe zu bewältigen.

Jasmina betrachtete sich im großen Spiegel des Tanzsaals. Ihre stämmigen Beine wirkten in dem kurzen Rock noch praller als sonst. Sie fühlte sich unförmig und viel zu dick. Leise seufzend beobachtete sie die dreizehnjährige Annabell, die mit ihrer schlanken Figur und den schmalen Füßen wunderschön aussah. Auch die anderen Mädchen sahen gut aus, als sie sich gelenkig im Kreis drehten und auf den Zehenspitzen wunderbare Pirouetten drehten. Jasmina war kein sportlicher Typ. Zumindest nicht, wenn es ums Tanzen ging. Sie liebte das Ballett nicht. Viel lieber hätte sie mit den Jungs ihrer Klasse Fußball gespielt. Das erlaubte Diana aber leider nicht. Sie bestand auf dem Ballettunterricht und zwängte ihre Tochter in rosafarbene Röcke und weiße Ballett-Schuhe.

Frau Braumann lächelte Jasmina zu. »Du kannst deine Übungen an der Stange machen. Die Pirouetten-Drehung ist für dich zu schwer."

Die drahtige Frau wandte sich der restlichen Gruppe zu. Auch sie konnte nicht begreifen, warum Jasminas Mutter darauf bestand, das untalentierte Mädchen den Anstrengungen des Ballettunterrichtes auszusetzen.

Jasmina hatte das Training an der Stange beendet. Eine Weile sah sie den Tänzerinnen zu, die elfengleich durch den riesigen Saal glitten. Leise schlüpfte sie durch die mit wunderschönen Ornamenten geschmückte Tür. Staunend ging sie die edle, sanft glänzende und wundersam riechende Treppe hinauf, wagte sich in die oben liegenden Säle und betrachtete die wertvollen Bilder, Teppiche und Spiegel, die an den hohen Wänden befestigt waren. Im Diamantsaal zog sie der große, fast die gesamte Wand ausfüllende Vorhang magisch an. Sein silberner Glanz und der feine Stoff schienen ihr ein freundliches Willkommen zuzurufen. Flüsternde Stimmen nannten Jasminas Namen. Metallene Pailletten und blinkende Steine aus weißem Kristall saugten sich in ihren Augen fest. Jasmina stockte der Atem. Sie wollte gehen. Fortlaufen vor diesem geheimnisvollen Wandbehang, der ihr Herz unnatürlich pochen und ihren Atem stocken ließ. Sie fühlte, wie die Angst sich in jeder Zelle ihres Körpers ausbreitete. Am liebsten wäre sie nach unten gelaufen. Auf die Straße, weit weg von diesem Haus. Doch das ging nicht. Ihre Arme und Beine waren schwer wie Blei. Wie hypnotisiert blieb sie stehen. Die Schwere in den Gliedern ließ nach. Jasmina fühlte, wie ihre Arme sich streckten. Magisch näherten sich ihre zitternden Hände dem silbernen Vorhang. Als Jasmina ihn berührte, war sie völlig umgeben von den flüsternden, sanften Stimmen. Zugleich weich und doch kräftig und sicher wurde sie umarmt und durch den sich urplötzlich teilenden Store hinübergezogen.

Der silberne Vorhang

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