Читать книгу Stehaufmännchen - Die Kraft zu leben - Margarithe W. Mann - Страница 4
Kinderjahre
ОглавлениеViele Leser von Euch werden mich gleich zu Beginn meiner Aufzeichnungen für verrückt erklären, wenn ich diese damit beginne zu behaupten: Ich kann mich an die ersten Stunden meines weltlichen Daseins erinnern. Dennoch ist es so, vielleicht kommt daher meine Überzeugung, dass nicht alles zu Ende ist, wenn wir alle irgendwann einmal gehen müssen. Wir wissen zwar, wann unser irdisches Dasein beginnt und auch wo, aber wie lang unser Weg sein wird, wie er beschaffen ist, - wo, wie und wann er eines Tages endet, kann niemand beim Start ins Leben sagen, ... und das ist sicherlich auch gut so. Aber dort, wo alle weltlichen Wege enden, da werden wir uns wiedersehen, ... und alles wird von vorn beginnen.
Für so manchen klingt es wohl unglaubwürdig und nahezu abstrus, wenn ich sage, dass ich mich erinnere, aus der Dunkelheit kommend, mich von jetzt auf gleich in einem grellen gleißenden Licht wiedergefunden zu haben. Plötzlich ist alles kalt, nachdem es bis noch vor einem Moment schön warm gewesen ist. Natürlich kenne ich noch nicht die Begriffe dunkel und hell, oder kalt und warm, aber dennoch merke ich, dass dieser Wechsel von einem Extrem in das andere sehr unangenehm und irgendwie anstrengend ist. Durch diesen großen Raum, in dem es mich stark blendet, so dass ich meine Augen richtig zukneifen muss, sehe ich zwei graue, schmale Gebilde schweben. Wie in einem undurchsichtigen Schleier gleiten sie durch das Zimmer. Gleichzeitig vermeine ich eine leise, aber dennoch sehr helle Stimme zu vernehmen, die offensichtlich von einem dieser, na sagen wir Art Geist oder Gespenst zu kommen scheint. In einem flüsternden Ton sagt das eine verschleierte Etwas zu dem anderen so etwas ähnliches wie: „Ich gehe hier hinein“. Kurz darauf kann ich durch meine Augenschlitze erkennen, wenn auch nur schemenhaft, dass irgendetwas hochgerissen wird. Unmittelbar danach höre ich einen grellen Schrei, ... also meine Ohren scheinen sofort gut zu funktionieren, denn er durchdringt mich regelrecht, während ich selber noch so eine Art Atemnot habe. Da ereilt mich plötzlich das gleiche Schicksal, ich merke, wie ich recht unsanft durch die Luft gewirbelt werde und mir gleichzeitig jemand auf mein Hinterteil schlägt, bis ich ebenfalls nicht anders kann, als mir schreiend Luft zu verschaffen. Mir ist kalt, meine Unterlippe zittert, während ich einen Kopfstand in der Luft ohne Netz zu absolvieren scheine. Am verkehrten Ende hält mich jemand fest. Irgendwann später erkenne ich, dass das andere Ende auch zu mir gehört und es meine Füße sind. Endlich ist die Prozedur vorbei, ich werde in Tücher gehüllt und ich höre auf zu zittern, ... oh, ... was ist das?, es duftet warm und angenehm, … also riechen kann ich auch, ... und das äußerst gut sogar, ... meine Mutter, ... ach ist das schön, ... so könnte es bleiben, ... .
Viele Gesichter beugen sich mit einem Male über mich, die ich aber wie kurz zuvor die grauen Schleier nur äußerst schemenhaft wahrnehmen kann. Es ist der Tag meiner Geburt, der 3. April 1953 und ich werde Margarete getauft. Aber so lange ich denken kann, ruft man mich mein ganzes Leben lang Meggy, sicher weil das nicht so umständlich ist, wie der eigentliche Name. Der andere Schrei muss demzufolge der Seele gehören, die ebenfalls an diesem Tag das Licht der Welt erblickt hat. - Ich denke, dass dieses, in einen Schleier gehüllte Unbekannte die Seele ist, die jedem Menschen bei der Geburt zuteil wird.
An meine Babyzeit kann ich mich natürlich nicht im Einzelnen erinnern, es sind kurze, verschiedene, zum Teil abgerissene Bilder. Wenn ich zurück an diese Zeit denke, sehe ich immer wieder viele verschwommene Gesichter, die sich zu mir über mein Bettchen oder den Kinderwagen beugen und die, wie sich es später herausstellt meinen Eltern und Großeltern gehören. Allerdings meine ich, das Bild meines Vaters am deutlichsten wahrnehmen zu können. Die nächsten Erinnerungen, die Bruchstückweise und lückenhaft auftauchen, sind aus einer Zeit, in der ich bereits laufen kann. So zum Beispiel, dass ich Nasenbluten habe, ich bin gestolpert und mit der Nase gegen einen Schrank gesteuert. Meine Tante Lena, die Schwester meiner Mutter hebt mich auf, stellt mich auf einen Stuhl und bemüht sich um mich, während meine Mutter mich ein Stückchen von sich wegschiebt und von irgendwoher ein nasses Tuch bringt und mir recht unangenehm im Gesicht herum fummelt, so dass ich wohl oder übel zappeln und schreien muss.
Sehr gut weiß ich noch, dass ich mit meinen Eltern eine Zeit in Lescha, auch in Thüringen liegend, gewohnt habe, etwa ein Jahr nach meiner Geburt in Seelstein sind wir dorthin gezogen. Wir wohnen zuerst in der sogenannten Dienststelle meiner Mutter, sie arbeitet hier im Labor und mein Großvater, der Arzt ist, hat in diesem Haus seine Praxis. Die Gedanken an Lescha verbinden sich oft mit Erinnerungen an sehr viel Schnee. Ich bin etwa drei Jahre alt, es ist Winter, kalt und sehr dunkel, als ich noch mit meinen Eltern auf der Straße bin. Mein Papa fällt andauernd hin und schimpft, er droht mit seinen Fäusten zu einem Haus hin: „Na wartet nur, ... Euch zeig ich es noch!“, meine Mutter kann ihn nicht dazu bewegen aufzuhören. Er bleibt immerfort stehen und ich schiebe ihn am Hintern. „ … Geh` jetzt weiter Papa“, sage ich zu ihm, aber oft rutscht er dann weg und sitzt vor mir auf der Straße. Heute weiß ich, dass der Geburtstag meines Opas gefeiert wurde und mein Vater hatte wohl ein wenig über den Durst getrunken und sich Luft über den damaligen Bürgermeister verschafft. Es bleibt das erste und einzige Mal in meinem Leben, dass ich meinen Vater so gesehen habe, nie wieder geschieht etwas ähnliches. Mein Vater war immer ein sehr ruhiger, korrekter und bescheidener Mann, sein ganzes Leben hindurch.
Ich sehe mich im Sportaufsatz des Kinderwagens sitzen, ich mag nicht gern gefahren werden, ich schiebe meine Karre lieber selber, ... mit Hilfe meiner Mutter. Ich erinnere mich an Schneematschwetter, als ich wiedermal aus meinem Wagen heraus möchte, auf mein Quengeln sagt meine Mutter: „Wenn Du jetzt laufen willst, dann musst Du das aber auch bis nach Hause tun, es ist nass und Du kannst dann nicht mehr zurück in Deinen Wagen wenn Du keine Lust mehr zum Laufen hast“. Sie puhlt mich aus meinen Sachen, ich laufe vor ihr her und halte mich mit beiden Händen an meiner Sportkarre fest. Meine Mama stolpert ein paarmal und stöhnt oft dabei, ... sicher geht es ihr nicht schnell genug.
Meine Großeltern wohnen in Seelstein, es sind die Eltern meiner Frau Mutter. Ich bin als kleines Mädchen sehr gern und viel bei ihnen. Besonders toll finde ich meinen Opa, er befasst sich sehr oft mit mir und später auch mit meinem Bruder, er spielt mit uns, trotz seiner knappen Freizeit, die ihm als Herr Dr. übrig bleibt, er ist nämlich Medizinalrat und Lungentuberkulosearzt. Als ich wiedermal unter der Obhut meiner Großeltern bin, so etwa drei bis vier Jahre bin ich alt, bekommen meine Oma und Opa einen Fernseher. Aus meiner kindlichen Perspektive ein riesiger Kasten mit einem kleinen Bild vorne. Ein für meine Begriffe sehr großer Mann schraubt daran herum, bis ein paar schnell laufende Menschen darauf zu sehen sind. Sie spielen Fußball, wie man mir sagt, es ist das erste was ich im Fernsehen zu sehen bekomme, trotzdem ist mein Interesse für Fußball bis zum heutigen Tag mangelhaft geblieben. Meine Oma sagt: „Schau mal, Meggy, wie die Manneln umeinander springen, alle hinter einem einzigen Ball her, sollen sie doch jedem eines geben, dann brauchen sie nicht so arg zu laufen“.
Wunderbar finde ich es, dass es in der Küche meiner Großeltern immer ein richtiges echtes, lebendiges Huhn gibt, es ist braun und dick und hat ein Nest in der Küche, ... toll was?. Und zwar da wo man abwäscht ist dieses Nest, es gibt noch keine modernen Spülen so wie heute, ... oder gar Geschirrspüler. Zwei gusseiserne Becken hängen an der Wand, darunter ist nichts, man sieht nur die Leitungen. Mein Opa hat einen Kasten um diese Abwäsche bauen lassen, mit zwei Türen, in diesem Kasten sitzt die Glucke und soll aus den Eiern, die meine Großmutter dort hineingelegt hat Küken machen, wenn man so die Gedanken eines Kindes formulieren kann. Meine Oma schimpft, wenn ich die Türen zu oft auf und zu mache, aber ich muss doch sehen, was die Glucke den ganzen Tag da macht. Meine Oma meint, ich sie störe sie nur, wenn ich dauernd hineinsehe. Aber ich, ich könnte mich stundenlang damit aufhalten und immer, wenn meine Oma aus der Küche geht, nutze ich die Gelegenheit um die Türen wieder aufzumachen. Erst wenn das Huhn, wie ich meine aus Dummheit, weil es mich verrät, indem es wieder anfängt laut zu gackern, und meine Omi in Sichtweite kommt, dann schließe ich den Kasten schnell wieder und bemühe mich, durch die Luftlöcher an den Seiten des Schrankes etwas zu erkennen.
Ich liebe es sehr mit meinem Großvater abends, wenn es dunkel wird die Straßen entlang zu spazieren und den Laternenmann zu beobachten, wenn er mit einem langen Stock die Lichter der Stadt anzündet. Zu der Zeit geht noch kein Licht von selbst an, sicher umständlich, aber besonders für ein Kind unheimlich faszinierend, ... jeden Tag auf` s neue. Mein Opa ist ein großer kräftiger Mann, ich muss beim Laufen meinen Arm richtig weit hoch heben, damit er mich an die Hand fassen kann. Lächelnd schaut er auf mich herab. „Na, Puppilein, es wird Zeit, ... ich glaube wir gehen jetzt nach Hause“. Ich sage: „Ach, Ooopa, noch ein bisschen, ... bitte, ... ich kann doch sowieso noch nicht schlafen ...“. „Na ja, gut, noch ein ganz kleines Stückchen, ... aber dann wartet die Oma auf uns“.
Wenn sich mein Opa ausruht, sitzt er immer in seinem großen Sessel, ich soll ihm dann oftmals den Rücken kratzen, er lobt mich immer wie gut ich es mache. Meine Oma dagegen hat eine ganz andere Methode, wenn sie der Juckreiz plagt nimmt sie das große Küchenmesser. Es kommt mir richtig unheimlich vor, wenn sie sich damit über ihren Rücken fährt. Das Messer existiert noch ganz lange, auch noch nach vielen Jahren als meine Omi schon lange tot ist.
Ich habe immer „gekocht“ für meinen Opa, eine grausige Mischung aus rohen Erbsen, Linsen, Bohnen, Reis und Grieß, - und was soll ich sagen?, er hat es auch noch gegessen, ... zum totalen Unverständnis meiner Oma. Wenn sie dann vor Entsetzen aufschreit: „Um Gottes Willen, das kann man doch nicht essen“, meint mein Großvater nur: „Lass `nur, nein, nein, das schmeckt sehr gut, mein Puppilein“.
Zu dieser Zeit haben Oma und Opa einen kleinen Garten, dort sind wir alle an den Sommerwochenenden, wenn es das Wetter zulässt, auch meine Eltern sind dann mit dabei. Ich erinnere mich gut an diese kleine grüne Holzhütte die dort im Garten steht. Davor sind gelbe Kletterrosen und neben dem Häuschen ist ziemlich weit links eine große Tanne, daneben steht eine uralte Regentonne. Es gibt einen Sandkasten, in dem mein Großvater sehr oft mit mir Kuchen bäckt, meine Oma ruft dann immer: „Na, willst Du den Sand denn nicht auch noch essen?“. Eine Schaukel habe ich auch, sie ist hinter dem grünen Häuschen, manchmal höre ich noch heute meine Großmama rufen: „Ich bitte Dich herzlich Kind, nicht so hoch und so schnell, Du wirst fallen!“. Wenn ich auf ihr Flehen nicht nachlasse, sondern erst recht noch einmal Schwung nehme, dann trompetet sie nach meiner Mutter: „Ha, Heide, sag` ihr doch bloß, sie soll nicht so wild sein!“, sie hält sich beide Hände vor ihr Gesicht und jammert laut: „Ach, ich kann das gar nicht sehen!“.
Dann kommt die Zeit, in der ich oft mit den Eltern nach den Wochenenden zurück nach Lescha fahren muss, ich soll in den Kindergarten gehen. Das gefällt mir ja nun überhaupt gar nicht, das finde ich nicht gut, ich gehe äußerst ungern in den Kindergarten, um nicht zu sagen: ich finde es schrecklich. Die einzige, die ich dort ein klitze kleines bisschen mag, das ist die Tante Mietzi. Ihren richtigen Namen weiß ich heute nicht mehr, nur dass sie immer eine bunte Strickjacke trug und den nach Ansicht meiner Eltern notwendigen Kindergartenaufenthalt etwas erträglich gemacht hat. Während der Zeit dieses nicht zu umgehenden „Leidensweges“ Kindergarten, bekomme ich nun ein Brüderchen, Hagen, geboren am 21. April 1957. Ich erinnere mich an ein kleines, ganz fürchterlich schreiendes Bündel das meine Mutter eines Tages mit nach Hause bringt. Zu meinem Entsetzen liegt es auch noch in meinem Bettchen, ich beuge mich über die Gitterstäbe und schaue in das vor Geschrei puterrote Gesicht, als mein Papa zur Tür hereinkommt. Er legt seine Hand auf meinen Kopf und sagt: „Na, komm`, Du bist jetzt die Große, ich zeige Dir wo Dein Bett ist, Du schläfst jetzt woanders, Du hast nun ein großes Bett in einem eigenen Zimmer“. Oh, es erfüllt mich mit Stolz, weil mein Papa Große zu mir sagt, trotzdem luge ich noch ein wenig unsicher auf dieses Bündel, das noch immer schreit bis meine Mama hereinkommt, es regelrecht hoch lupft und mit ihm das Zimmer verlässt. Später soll ich wissen, dass man umgeräumt hat, mein ehemaliges Bettchen im Schlafzimmer meiner Eltern bleibt durch die sogenannte besagte „Neubelegung“ wo es ist und ich habe von fort an ein größeres Bett in einem anderen eigenen Zimmer. An dieses Zimmer selbst kann ich mich nicht mehr erinnern, aber sehr wohl an den Garten hinter dem Haus, wo oft der Kinderwagen mit dem Bündel steht. Wie gesagt, weiß ich die Gegebenheiten der Räumlichkeiten in dieser Dienststellenwohnung nicht mehr, nur eben die Begebenheit mit meinem Bettchen, dass es plötzlich besetzt war und ein anderes für mich bereit stand. Es war sehr unverhofft für mich gewesen, weil ich von der Schwangerschaft meiner Mutter nichts mitbekommen hatte.
Ich bin vielleicht fünf Jahre alt, als wir von der Dienststelle zum Bahnsteg umziehen, ebenfalls in Lescha. Diese Wohnung habe ich noch fast bildlich in Erinnerung. Das Wohnhaus steht ziemlich weit oben auf einem Berg, ein sehr schmaler Steig führt hinauf. Meine Eltern müssen sich sehr plagen, um die vielen Kohlen, mit denen zu der Zeit geheizt wird nach oben zu schleppen. Auch ich habe so einen Buckelkorb und dackele mit ein oder zwei Kohlen darin unermüdlich mit. Wir wohnen in diesem Haus ganz unten, im ersten Stock wohnt eine Familie mit einem kleinen Mädchen, Sylke heißt sie. In der zweiten Etage wohnt eine Familie mit einem Sohn der Ronny heißt. Beide erweisen sich schon bald als recht gute Spielkameraden. Wenn man diesen langen Steig erklommen hat, führt eine Steintreppe mit etwa sechs Stufen zu einer Eingangstür mit Vorbau. Gleich, wenn man hereinkommt ist linke die Toilette, dann kommt noch eine Tür, die in eine große Diele führt. Von eben dieser Diele aus gelangt man links in das Kinderzimmer und in die Wohnstube. Beide Räume sind mit einer Schiebetür verbunden und haben einen Erker. Geradeaus des Einganges ist eine Veranda, zudem ist hier eine Treppe, die hoch zu der Familie Sylkes, Gräser heißen sie führt. Geht man weiter findet man Familie Heimstedt, also Ronny. Von hier oben bis zu uns unten gibt es ein tolles Treppengeländer, von dem man fast durchgehend bis zu uns prima herunterrutschen kann. Wenn man ankommt wird die Fahrt durch einen großen Holzknauf ruckartig abgebremst, das gibt jedes mal einen richtigen „Rumps“, was besonders meinen Vater des öfteren nervt. Einmal kommt er aus der Küche, die sich vom Eingang her rechts befindet herausgeschossen, das „Gerumpse“ ist ihm zu viel geworden. Er bleibt aber irgendwie an der Tür hängen und stolpert, seine Brille fällt dabei zu Boden weil er sich an der Tür auch noch den Kopf stößt. Natürlich lachen wir, er rennt uns ein Stück hinterher und schimpft, schnell nehmen wir Reißaus und geloben Besserung, ... bis zum nächsten Male. Die Küchentür hat eine Glasscheibe, in der Küche selber ist links der Kohle - Gas - Herd, daneben steht der Küchenschrank. Geradezu kommt man in den Keller. In der Küchenmitte steht ein großer Tisch, an dem die Sylke sehr oft unser Gast ist, denn bei uns isst sie alles, was auf den Tisch kommt, nur bei sich zu Hause nicht, sogar die Brotrinde isst sie bei uns mit. „Ich möchte bitte auch was …“, sagt sie immer und schaut mal eben gerade mit großer Mühe über den Rand des Tisches. In der Küche baden wir auch, es gibt kein Badezimmer, aber eine Zinkbadewanne, in die das warme Wasser eingefüllt werden muss. Im Anschluss an die Badeprozedur muss es wieder heraus geschöpft werden. Zu dieser Zeit wird die Wäsche noch mühevoll im Waschhaus, das ist ebenfalls im Keller, mit der Rumpel gewaschen, nachdem sie im Kessel eingeweicht und gekocht wird. Zu diesem Zweck wird das Badewasser zum Einweichen besonders schmutziger Wäsche noch verwendet . Obwohl wir nur an den Wochenenden baden sind wir zu dieser Zeit nicht verdreckt. Ebenfalls wird in diesen Jahren die Wäsche im Sommer noch gebleicht, d. h. sie wird auf der großen Wiese hinter dem Haus ausgebreitet und jedes mal wenn sie getrocknet ist, erneut mit Wasser aus einer Gießkanne begossen, dann muss sie wieder trocknen, der Vorgang wird mehrmals wiederholt, das nennt man bleichen. Wir Kinder finden das total überflüssig und halten es für keinen guten Einfall der Erwachsenen, weil die Wäsche beim Spielen für uns immer im Weg herumliegt und deshalb kommt es vor, dass wir beim Herumtoben darauf treten und dann sehen müssen, wie wir die Fußabdrücke wieder wegbekommen. Wir gießen dann solange Wasser darüber bis unsere schwarzen Fußspuren weg sind, für meine Mutter ist es dann immer unerklärlich, warum ein Teil der Wäsche trocken ist und der andere nicht.
Wir spielen viel mit den Kindern in unserem Haus, aber eigentlich sind wir eine ganze Meute, es sind immer Nachbarkinder in der Nähe. Wenn Sylkes Papa von der Arbeit kommt, gehen wir oft mit zu ihr hinauf, dann wird Kissenschlacht gemacht, aber so intensiv wird getobt, dass bei uns in der Wohnung alle Lampen wackeln. Bei uns im Kinderzimmer spielen wir natürlich auch, mein Bruder hüpft besonders gern herum und mimt den Skispringer. Er stellt sich auf einen Stuhl und springt von da aus in sein Bett. Einmal verfehlt er das Ziel und landet mit der Stirn auf seiner Bettkante und hat ein Loch im Kopf, also müssen wir ihn ins Krankenhaus bringen und den „Schaden“ nähen lassen.
Ganz witzig ist in Bezug auf Krankenhaus eine Serie von Blinddarmoperationen. Zuerst muss ich operiert werden, kurze Zeit später mein Bruder Hagen, wieder kurz darauf die Sylke, - und alle liegen wir im gleichen Krankenhaus, im gleichen Zimmer und im gleichen Bett. -
Wir haben eine Speisekammer in der viele Lebensmittel aufbewahrt werden, ähnlich wie im Keller, nicht alle Leute haben in diesen Jahren schon einen Kühlschrank, wie es bei uns ist, kann ich nicht mehr sagen, nur, dass ich als Kind sehe, dass in der Kammer auch die Butterdose steht. Eines Morgens als es schnell gehen muss lässt meine Mutter diese Dose fallen, sie ist aus Glas und springt dabei in Tausend Scherben. Weil es eben schon so spät ist, lässt sie die Scherben erst mal liegen, mein Papa denkt ich habe sie heruntergeworfen, ich werde ausgeschimpft, mein Papa sagt: „Ich ziehe Dir den Hosenboden stramm wenn Du schwindelst, wenn man etwas ausgefressen hat, muss man ehrlich sein und es auch zugeben“. Aber ich kann doch nicht zugeben was ich gar nicht getan habe, ich sage das immer wieder , aber er glaubt mir nicht bis meine Mama nach Hause kommt und alles aufklärt. Seit dem ich sage ich immer: Ich habe noch etwas gut, wenn es etwas auf den Hosenboden geben soll, obwohl ich ja um das eigentliche „Strammziehen“ herumgekommen bin, die Unschuld konnte zum Glück durch meine Mutter in letzter Minute bewiesen werden. Einmal bin ich dann doch noch fast zum „Strammziehen“ besagten Hosenbodens gekommen, weil ich aus dem Geldbeutel meiner Mutter eine Mark genommen habe, ich esse für mein Leben gerne Kokosflocken und habe mir dafür welche gekauft. Die ganze Aufregung um die Kokosflocken und die geklaute Mark sind so schlimm, ... ein Ereignis, es ist unvergessen bis heute, man sagt mir: „Du bist ein Dieb und Du kämst ins Gefängnis wenn Du groß wärst“. Oh, das ist mit großer Angst verbunden, weil ich denke, dass man nun wartet bis ich groß bin, - und dann muss ich ins Gefängnis, eben weil ich gestohlen habe. Es beschäftigt mich sehr lange, bis ich denke, nun spricht niemand mehr von der Mark und den Kokosflocken und ich hoffe, es ist vergessen ist und ich muss nicht ins Gefängnis.
Mein Papa mag es überhaupt nicht, wenn wir nicht folgen oder gar bei Tisch herumzappeln und lachen. Dann müssen wir unsere Teller nehmen und in der Diele essen, dort ist neben dem Treppenaufgang eine Sitzecke. Meistens muss mein Bruder Hagen dort essen, das findet die Sylke von oben stark und fragt: „Was machst Du da?“, sie holt schnell ihren Teller und gesellt sich dazu.
In Lescha komme ich auch zur Schule, ich erinnere mich genau an meinen ersten Lehrer, er ist ein kleiner, älterer, … für meine damaligen Begriffe uralter Mann mit einem langen grünen Lodenmantel und einer grauen Baskenmütze. Ich finde ihn sehr nett, Lehrer Meister heißt er. Viele Spaziergänge macht er mit uns Kindern, zeigt uns Blumen und Tiere, er übermittelt uns damit ein Allgemeinwissen, wir nehmen es gern mit auf unseren weiteren Weg. Wir haben Hefte, Bücher und Stifte, aber in der Schule üben wir rechnen und schreiben auf der Schiefertafel, so kann man schnell mit dem nassen Schwämmchen alles wieder wegwischen, wenn etwas falsch ist, weil wir mit Kreide auf unsere Tafeln schreiben.
Leider können heutzutage viele Kinder, besonders wenn sie in der Großstadt wohnen, nicht einmal eine Ziege von einem Schaf unterscheiden. Man bekommt sogar als Antwort auf die Frage wie denn eine Kuh aussieht, „Na, lila ...“, gesagt.
Seltsamerweise kann ich mich an meine eigene Schuleinführung selbst gar nicht erinnern.
Wie schon gesagt ist ein Gedanke, der mich mit Lescha verbindet und immer vorne ansteht, wenn man es so bezeichnen will, die Erinnerung an den vielen Schnee , den wir im Winter haben. Außer der Sache, dass wir sehr viel rodeln gehen haben wir von frühster Kindheit an Skier, kaum dass wir richtig laufen können. Aber früh übt sich und schon sehr bald können wir gut damit umgehen. Zum Schlitten fahren brauchen wir gar nicht weit von zu Hause wegzugehen, ganz toll ist das Rodeln im sogenannten Gründel. Wenn man oben von dem einen Berg mit genügend Schwung hinunterfährt, kann man auf der gegenüberliegenden Seite wieder ein ganzes Ende hinauffahren und umgekehrt. Oft vergessen wir dabei die Zeit, wir fahren noch mit Taschenlampen weiter wenn es anfängt dunkel zu werden, es vergrößert den Spaß um ein vielfaches. Irgendwann kommen wir klitschnass und mit Eis verkrustet nach Hause, wo man schon fast dabei ist, wegen uns eine Fahndung auszulösen, unverständlich für uns Kinder. Wo sollen wir denn schon sein?, ... beim Schlitten fahren natürlich. Das Rodeln macht besonderen Spaß in der steilen Bretzenecke. Diese hat ihren Namen nach dem Fleischer, der eben an dieser Ecke sein Geschäft hat. Die Zwillinge Reiner und Erich gehen mit mir in eine Klasse. Manchmal haben sie ganz viele Würstchen mit in der Schule und geben mir davon ab, als Gegenleistung für die Quitten, die ich für ihre Eltern aus dem Garten mitbringe, sie scheinen sehr begehrt zu sein. Meine Mutter wundert sich immer, weil es dauernd immer weniger Quitten sind, die im Schlafzimmer bei uns auf dem Schrank liegen. Obwohl ich noch ein Kind bin während der Leschaer Zeit, weiß ich noch heute ganz genau, wie lecker die Wurst schmeckt, die Reiner und Erichs Eltern herstellen. Man kennt heute sehr oft fast nur noch die so ziemlich überall gleich schmeckende, fast immer zu salzige eingeschweißte Wurst.
Lustig finde ich den Dialekt in Lescha, es ist schon fast ein eigener in dieser Gegend. „Von der Wurscht noch a Radla?“, fragt der Fleischer und meint, ob man von der Wurst, die vor einem liegt noch 100 Gramm haben möchte. Die Omas verabreden sich, um in den Wald zu gehen , sie wollen Preiselbeeren sammeln und sagen dazu: „Jo, Jo, … gamma in die Häberla“. Ich bin als Vorschulkind viel bei den Großeltern und werde angehalten hochdeutsch zu sprechen, zudem ist der Seelsteiner Dialekt nicht so heftig, obwohl es auch in Thüringen liegt und nur etwa 40 km von Lescha entfernt ist. In der Schule habe ich durch meine bisherige Spracherziehung einen großen Vorteil und bin Klassenbeste im Fach Deutsch, die anderen Mitschüler schreiben oft alles so wie sie es sprechen und nicht selten tauchen im Aufsatz die Worte: Mene Henschich auf, übersetzt: Meine Handschuhe, oder man sagt und schreibt: die Wurscht vom Flescher. Sogar meine Eltern brauchen zu Anfang so etwas wie ein Wörterbuch für die Leschaer Sprache. Die Brezenecke ist, um wieder darauf zurückzukommen ein steiler Weg ohne Bürgersteig, auf der einen Seite wohnen Leute und auf der anderen ist ein Zaun, wenn man über ihn hinweg schaut kann man das Gründel sehen. Alle Fußgänger, egal ob Mutti, Vati, Oma oder Opa rennen mit ihren Einkaufstaschen beiseite wenn wir immer lauthals schreiend „Bahn frei!, Kartoffelbrei“ mit dem Schlitten angesaust kommen. Manche Leute retten sich schnell in den nächstbesten Hauseingang, andere hangeln sich am Zaun entlang, aber keiner sagt zu uns ein böses Wort, auch nicht, wenn alle paar Minuten jemand von einem Rodler zur Seite gejagt wird. Heute?, - einfach undenkbar.- Weiterhin erinnere ich mich an riesige Figuren aus Schnee, die auf großen Schneesockeln gebaut werden und überall in der Stadt zu finden sind. Besonders am Abend sieht es wunderschön aus, weil sie dann auch noch mit Lampen angestrahlt werden. Einen besonderen Eindruck macht mir ein riesiger Elefant am Bahnhof von Lescha. Übrigens sind alle Figuren, meist sind es Tiere oder Glasbläser, in Originalgröße erbaut, es muss schon ein toller Künstler sein der so etwas kann. Schade, dass es das heute nicht mehr gibt. Um noch einen Augenblick beim Leschaer Winter zu bleiben, sind die erlebten Weihnachtsfeste mit den Eltern eine unvergessene Freude und haben einen bleibenden Eindruck hinterlassen. An Heilig Abend geht unser Papa immer mit uns und dem Schlitten oder auch den Skiern los, bis auf den Berg der dem unsrigen, wo eben unser Wohnhaus steht, genau gegenüber liegt. Wenn der Weihnachtsmann gekommen ist, macht die Mama mit der Taschenlampe Lichtzeichen am Fenster. Das heißt, alles ist fertig und wir können kommen. Nach der Bescherung gibt es Karpfen blau mit Apfelsahnemeerrettich und Butterkartoffeln, - lecker !. Bei mir gibt es diesen traditionellen Weihnachtskarpfen noch immer jedes Jahr, wie es zu Zeiten meiner Großmutter überliefert wurde. Wir fahren viel zwischen Lescha und Seelstein hin und her, nicht nur im Sommer wenn schönes Wetter ist und wir in den Garten gehen können , sondern eben auch im Winter. Manchmal müssen wir bei viel Schnee aus dem Fenster klettern, die Haustür muss erst freigeschaufelt werden und so gut wie immer ist an der Garage, die in der Stadt ist, das gleiche Hindernis und wir Kinder helfen mit unseren Schippen eifrig mit. Am Sonntag, wenn es von Seelstein zurück nach Lescha geht, ist es im Winter oft glatt und wir bleiben am Tannender Berg hängen. Das passiert aber meist nur, wenn das Auto vor uns liegengeblieben ist und mein Papa deswegen anhalten muss. Es dauert dann lange, bis wir wieder vorwärts kommen, wir helfen mit, alte Decken unter die Räder zu packen.-
Der Zusammenhalt unserer Kindermeute ist im Gegensatz zu Heute noch etwas wert. Wenn wir von zu Hause den Auftrag bekommen, im Konsum, so nennt man zu der Zeit kleine Verkaufsstellen, einzukaufen, trifft man fast immer auf Freunde mit gleicher Aufgabe, meist kleinere Dinge, wie zum Beispiel Milch holen. Als ich noch Kind bin, gibt es keine Milchflaschen oder gar Tüten, die Milch und auch die Sahne kauft man noch lose, das heißt, die Verkäuferin füllt aus einer großen Kanne so viel in unsere kleinen Blechkannen ab, wie wir Geld dafür mitbekommen haben und verschließt dann das Gefäß mit dem dazugehörigen Deckel. Aber kaum sind wir auf der Straße, nehmen wir den Deckel ab und beginnen mit unserem Wettkampf, mit dem schleudern der Milchkanne. Die Kanne wird mit einem Arm ganz schnell im Kreis geschlenkert, dabei darf keine Milch verschweppern. Ich weiß noch zu gut, dass dem kleinen Fritz einmal die ganze Milchkanne samt Inhalt aus der Hand fliegt und im Dreck landet. Der stimmt natürlich sofort ein mächtiges Geheul an, es ist kaum noch Milch in der Kanne verblieben, sie ist logischer Weise ausgelaufen, statt dessen ist Dreckwasser aus der Pfütze mit dabei, ... aber wir sind Freunde und jeder von uns gibt ihm etwas aus seiner Kanne ab, egal ob nun auch noch mit oder ohne Dreck und auch ganz egal ob in seiner Kanne auch noch Dreck ist oder nicht. Zu Hause sage ich auf den fragenden Blick meiner Mutter: „Mutti, es gab heute nicht mehr soviel Milch, weil sie schon gleich alle ist“. Meine Mama betrachtet sich den verbliebenen Inhalt der Kanne, aber sie sagt nichts. Heute ist mir klar, dass sie es wohl eher nicht geglaubt hat. -
Nach Heilig Abend fahren wir mit den Eltern natürlich auch nach Seelstein zu Oma und Opa, es riecht immer schon im Hausflur nach Kuchen und in der Diele steht ein riesengroßer Weihnachtsbaum, neunzig Kerzen brennen darauf, wie man mir in späteren Jahren berichtet. Neunzig echte Kerzen, ... und nicht ein einziges Mal brennt der Baum an, der Onkel Justus, der Bruder meiner Oma muss immer achtgeben dass nichts passiert und läuft dauernd um den Baum herum. Meine Oma wartet schon auf uns und mein Opa spielt mit uns das Spiel „Räuberwald“ bis es heißt: Kaffee trinken. Wir Kinder haben kein Sitzfleisch und unser Opa lässt sich nicht lange bitten, das tolle Spiel mit großem Jubelgeschrei fortzusetzen. Meine Großmutter schüttelt dazu nur mit dem Kopf und hält sich bald darauf die Ohren zu. Zum Räuberwaldspiel werden die Dielenstühle so aufgestellt, dass sie mit Fantasie als Auto fungieren können. Mein Großvater ist meist der Taxifahrer, mein Bruder Hagen der Räuber und ich der Beifahrer. Mein Bruder muss uns dann überfallen, ausrauben und fesseln. Das alles geht immer mit viel Lärm vor sich, aber wir Kinder finden das einmalig. Fast noch besser gefällt uns das Spiel „Musikkapelle“, mit zwei Stürzen, ( so nennt man auch Topfdeckel ), pro „Mann“ geht es im Gänsemarsch durch die ganze Wohnung. Die Topfdeckel werden natürlich dabei heftig aneinander geschlagen, es ergibt für uns Kinder ein herrliches Getöse. Meine Oma ist bereits verzweifelt, meine Eltern dürfen nichts sagen, sie sind bei solchen Angelegenheiten, die der Opa mit uns vollführt entmündigt, er aber amüsiert sich königlich. Mittendrin sind auch noch die Hunde, zu der Zeit ein Dackel und ein Chow - Chow, sie heißt Arta und der Dackel Knirps. Es ist der zweite Dackel an den ich mich erinnere, ein brauner Langhaardackel. Ich weiß noch, dass der erste Dackel, den ich mit knapp zwei Jahren im Hof meiner Großeltern immer gebürstet habe ein schwarz - brauner Kurzhaardackel war, zu dem ich immer Seppel, ... mein Goldschatzerle gesagt haben soll. Die Arta und der Knirps vertragen sich nicht so gut, es muss Obacht gegeben werden damit sie nicht zusammengeraten, auch das ist die Aufgabe von Onkel Justus. Überhaupt ist die Beziehung zwischen Onkel Justus und der Arta ein Ding für sich. Die Arta sitzt immer neben meinem Großvater, wenn er sich im Sessel ausruht und knurrt sofort, wenn der Onkel Justus in der Tür erscheint, auch wenn er es gut meint und eine leere Bierflasche von meinem Opa mitnehmen will. Der Onkel Justus darf nur in Artas Nähe kommen, wenn er ihr Futter geben oder mit ihr Gassi gehen möchte. Alle sagen, die Arta mag den Justus nicht, weil er ihr bestimmt einmal etwas Böses getan hat, er mag Tiere nicht besonders und sie hat es nicht vergessen oder merkt seine Abneigung, denn ich darf auch mit ihr spielen und mein Bruder auch. - Die Arta hat auch einmal Babys, mein Papa ist ärgerlich, es sind keine „echten“ Kinder, aber mit echt oder unecht kann ich in dem Alter noch nichts anfangen. Ein Hundebaby von Arta ist noch recht lange bei uns, es heißt Ursus und sieht ganz kuschelig aus. Eines Tages komme ich aus der Schule und Ursus ist weg. Man beschwindelt mich auch noch, indem man zu mir sagt, der Ursus ist zur Hundeschule. Ich finde dann doch die Wahrheit heraus, er ist verkauft worden, ich finde das voll gemein, ich bin schwer enttäuscht, es ist doch egal, ob echt oder nicht, - oder?, außerdem hat mein Papa damals bei dem „Butterdosenfall“ gesagt, dass man nicht schwindeln darf, also bitte,...! - Auch der Knirps bekommt eines Tages vier Babys, es sind zwei Langhaar und zwei Kurzhaardackel, nun verstehe ich als Kind halt gar nichts mehr, die sind doch nun echt, wie man sagte und werden trotzdem verkauft.-
Mein Opa kauft ein Pony und löst bei uns natürlich damit große Freude aus, es heißt Peter und ist schwarz - weiß gescheckt. Einmal hat sich das Pferdchen über den Kuchen hergemacht, den meine Oma gebacken hat und den es zum Kaffee geben soll. Ich sehe das für uns Kinder äußerst amüsante Ereignis von damals noch ganz genau vor mir: Der Tisch in der Sitzecke hinter dem kleinen grünen Gartenhäuschen ist bereits für die bevorstehende Kaffeezeit gedeckt, meine Großmama bringt den Kuchen, stellt ihn auf den Tisch und ruft uns „Kommt bitte Kaffeetrinken“, ich sitze auf meiner Schaukel und sehe, dass meine Oma noch einmal in die Laube zurückgeht, sie hat bestimmt etwas vergessen. Plötzlich ist der Peter da, schnieft auf dem Tisch herum und macht sich im gleichen Augenblick über die Torte her. Ich kann nur noch: „Oooooommaaaa, ... der Peter frisst den Kuchen auf!“, schreien. Nun kommen alle aus verschiedenen Richtungen herbei gestiebt, meine Oma schlägt vor Schreck und Entsetzen die Hände über ihrem Kopf zusammen, wie sie es jedes mal tut wenn sie glaubt in einer ausweglosen Situation zu sein, ihr verzweifelter Hilferuf lässt meinen Großvater in schallendes Gelächter ausbrechen. Durch den ganzen Lärm erschrocken buckelt das Pferdchen, dreht sich um und schlägt nach hinten aus. Mein Papa, der gerade um die Ecke kommt lässt geistesgegenwärtig die Harke fallen um den Tisch im letzten Moment festzuhalten, der schon verdächtig schwankt, wackelt und droht, mit samt dem Geschirr und der verunstalteten Torte, ähnlich wie im „Zappelphilipp“ den Abgang zu machen. Mein Opa lacht noch immer herzlich aus vollem Halse, ich kann es noch heute deutlich hören, während meine Oma sich nicht wieder einkriegen kann und noch immer händeringend hilflos kreischt: „Oh, jesses Maria, ... der wird noch alles umreißen!“. Sie sagt immer jesses Maria wenn sie verzweifelt ist und meint damit Jesus Maria, eine Redewendung, an die sie manchmal noch das Wort Josef setzt und wie gesagt alles ihrer Ansicht nach dramatische unterstreicht, indem sie die Hände über ihrem Kopf zusammenschlägt. Nachdem sich alle beruhigt haben, stellt man fest, dass noch genug köstliche Torte für alle da ist. Mein Opa ärgert zu gerne meine Oma, spaßig gemeint natürlich und setzt gern noch einen drauf, indem er zu uns Kindern sagt: „So, ... nun wollen wir alle einmal unanständig essen“, das ist für meinen Bruder und mich verständlicher Weise eine Aufforderung allerhöchster Güte und jedes mal das Erlebnis pur, ... unvergessen für alle Zeit. Meine Oma setzt bereits eine süß säuerliche Mine auf, meine Eltern schauen etwas ratlos in die Runde und mein Opa fängt an, eben unanständig zu essen und kommentiert das Ganze ausführlich: „Soooo, jetzt schmatzen wir so laut es geht und schlürfen dazu richtig laut beim trinken, ... und wenn wir fertig sind, dann lecken wir noch den Teller ab, einmal links herum und dann rechts herum,... und dann alles noch einmal von vorn ...“. Einfach herrlich ist das für uns. „Du bringst den Kindern schöne Sachen bei!“, flötet meine Oma bereits am Rande ihrer Verzweiflung angekommen und gestikuliert mit ihren Armen, um, wie ich es beschrieben habe, der Angelegenheit genügend Ausdruck zu verleihen. Noch immer lacht mein Großvater über die vermeintlichen Sorgen und Befürchtungen meiner Eltern und der Oma hinsichtlich unserer guten Erziehung und freut sich, dass wir Kinder so einen Spaß dabei haben. Mein Opa weiß genau, dass er solche Späße anbringen kann, weil wir Kinder wiederum ganz genau wissen, dass man so etwas nicht macht wenn wir in der Gaststätte sind oder wenn Besuch da ist. - Übrigens ist meine Großmutter eine fantastische Köchin, bestimmt kann meine Mutter deshalb auch so gut kochen und backen. Sicher habe ich später etwas davon abgeschaut, denn bis heute kommen diesbezüglich keine Beschwerden. Wiederum bin ich bemüht, meinen Kindern, besonders den Mädchen etwas davon mit auf den Weg zu geben, sie sollten nicht aus dem Haus gehen, bevor sie ein paar wichtige und generelle Grundbegriffe betreffs Küche, Haushalt und Krankenpflege auf den Weg mitnehmen können. Natürlich ist es nicht falsch, wenn auch ein Junge sich ein wenig zu helfen weiß, das mal eben kurz am Rande.
Einmal, als wir von Lescha kommen hat meine Oma Bratenschmalz gemacht, es ist so lecker, dass ich drei Scheiben Brot damit verdrücke. Als ich noch mehr davon verlange sagt sie: „Um Gottes Willen Kind, ich gönne es Dir ja, aber Dir wird schlecht davon werden“. Wie an meinen Opa, der der beste Großvater der Welt ist, kann ich mich an das Aussehen meiner Oma auch genau erinnern. Sie ist eine kleine Frau, trägt immer einen dunklen Rock, dicke schwarze oder graue Strümpfe, ebenfalls eine dunkle Schürze, die hinten zusammengebunden wird. So ist es wohl zu meiner Kinderzeit, ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass meine Großmutter ein helles oder gar buntes Kleid trägt, von Hosen ganz zu schweigen. - Wenn ich bei meiner Oma bin und ein Gewitter kommt, gehe ich immer eine Treppe tiefer. In der Wohnung im Parterre lebt ein alter Mann, dem ich dann immer Gesellschaft leisten möchte, manchmal besuche ich ihn auch wenn kein Gewitter ist, ... einfach so, er freut sich immer, wenn ich komme. Einmal bin ich auch bei ihm und sage, dass ich gleich wieder komme, ich möchte gern eine Tasse Milch trinken, aber die hat der Opa nicht zu Hause, also gehe ich zu meiner Oma in die Küche und frage nach Milch, weil ich Durst habe. Sie ist wohl ein wenig ärgerlich, weil ich so lange bei dem Opa da unten bin und sagt: „Wenn Du so lange weg bist, kannst Du Dir auch dort etwas zu trinken geben lassen“. Weil ich aber auf Milch bestehe und es von meiner Oma abgelehnt wird sage ich: „Na, gut, wenn Du mir nichts geben willst, dann fahre ich zu meiner Mama nach Lescha“. Als meine Großmutter daraufhin meint: „Gut, dann musst Du eben fahren“, gehe ich und packe meinen kleinen roten Koffer mit den weißen Punkten und gehe wirklich aus dem Haus. Als meine Oma mitbekommt, dass ich mich tatsächlich auf den Weg gemacht habe, bin ich bereits auf dem Bürgersteig ganz weit unten angelangt, als meine Oma mich einholt, mich ein wenig unsanft an die Hand nimmt und zurückzerrt. Sie stöhnt auf, als ich meine, sie habe doch gesagt, dass ich fahren soll.
In die kleine Verkaufsstelle in unserer Straße gehe ich auch hin und wieder, meist mit meiner Oma, es gibt wie gesagt noch keine abgepackten Lebensmittel, alles kauft man lose. In einer Schublade entdecke ich Trockenpflaumen, ich esse sie sehr gern, weil sie so süß und lecker sind. Ich nehme mir eine heraus, … da fällt mir urplötzlich das Drama mit den Kokosflocken ein und dass man ins Gefängnis kommt, wenn man etwas stiehlt, also schmeiße ich sie lieber wieder zurück.
Irgendwann zu Beginn der sechziger Jahre sprechen alle Erwachsenen vom Bau einer Mauer, aber als Kind kann ich damit nichts anfangen, ich weiß nicht was das ist und was es damit auf sich hat. Ein Kind beschäftigt sich mit den für ihn erst mal wichtigen Dingen. So auch mit der Tatsache, dass wir plötzlich nicht mehr in den Garten mit dem kleinen grünen Häuschen gehen können, weil alles weg ist, wie man uns sagt, ... ohne dass wir es zu der Zeit begreifen können. Später dann wissen wir den Grund ohne ihn zu verstehen: Die Stadt Seelstein will dort Häuser bauen, aber meine Frage, warum man denn die Häuser nicht woanders bauen kann bleibt offen, weil sie niemand beantworten kann und nur für uns das fremde Wort Enteignung übrig bleibt. - Heute stehen da, wo der kleine Garten gewesen ist Einfamilienhäuser, ... von der kleinen Treppe, die hinauf in das Gärtchen führte, bleibt nur noch die Erinnerung an eine schöne Zeit zurück. Nun kauft mein Opa einen neuen Garten, er liegt direkt am Wald, der „Steiger“ , wird er genannt. Wir wohnen immer noch in Lescha und haben meiner Schätzung nach das Jahr 1962. Nun geht es von Lescha kommend an den Wochenenden immer dorthin, wir Kinder gewöhnen uns schnell daran und finden auch hier im Garten Beschäftigung, er ist zudem viel , viel größer als das Gärtchen und außerdem können wir uns viel im Wald herumtreiben. Mein Opa lässt auch hier im neuen Garten ein Häuschen bauen, ein größeres als im kleinen Garten der Stadt. -
1963 bekomme ich von meinem Opa zum 10. Geburtstag Möbel für mein Zimmer geschenkt, es sind Anbauschränke, die ich auch noch nach meiner Kinderzeit sehr, sehr lange habe. Ich besitze sie sogar noch, als ich selber schon Kinder habe, sie haben etliche Umzüge überlebt. Mit den Möbeln die es heutzutage gibt ist das kaum noch möglich, sie zerfallen in ihre Einzelteile kaum dass man sie zweimal aufgebaut hat. - Bald darauf, im Juni 1963 stirbt mein lieber Großvater an einer Lungenentzündung, meine Mama sagt, dass er bei schlechten Wetter im Garten nach den Bauarbeiten des Häuschens schauen musste und deshalb nun krank geworden ist. Er erlebt die Schuleinführung meines Bruders Hagen und die Fertigstellung des Gartenhäuschens am Steiger nicht mehr. Die letzte Erinnerung, die ich an meinen Opa habe ist die, dass er in seinem grauen Sessel sitzt, vor dem Stubenfenster, welches zur Straße zeigt. Ich komme herein ins Zimmer, er sagt: „Schön, dass Du mich besuchst, mein liebes Puppilein“, und er gibt mir Geld für ein Eis. In diesem Moment sehe ich aus dem Fenster zur gegenüber liegenden Straßenseite, zu dem Haus wo ich sehr oft die naturkundlichen Sammlungen des Emil Wens besuche. Wenn das kleine Museum geöffnet ist, steht ein ausgestopfter Affe, ein Schimpanse vor dessen Tür. Ich bin sehr oft dort, obwohl ich ein wenig Angst vor dem Affen habe, so bis ich etwa fünf Jahre alt bin, dann habe ich keine Angst mehr und gehe auch allein dorthin, ich sehe mir besonders gern die bunten Schmetterlinge an. Nach dem Tod meines Großvaters bin ich nie wieder dort gewesen.-
Kurze Zeit später ziehen wir von Lescha nach Seelstein zurück, die Wohnung in Seelstein in der Mondtalstraße 72 ist nun für meine Oma und den Onkel Justus zu groß. Mein Papa muss noch ein Jahr in Lescha bleiben, das hängt mit seiner Arbeit als stellvertretender Bürgermeister zusammen. Wir haben das Jahr 1964, mein Bruder geht auch zur Schule, aber an seine Schuleinführung kann ich mich auch nicht mehr erinnern, wie eben an meine auch nicht. Wir müssen nun, weil wir umgezogen sind die Schule wechseln. Ich finde das ganz schön doof, dass ich meine Freunde in Lescha verlassen und mir in Seelstein neue Kameraden suchen muss. Mein Bruder Hagen tut sich in Bezug auf neue Freunde finden nicht so schwer. Ich erinnere mich gut an den ersten Schultag in meiner neuen Klasse. Wir haben eine sehr nette Klassenlehrerin, eine zierliche, dunkelhaarige kleine Frau, ... Frau Heyn. Ihr Mann ist an der selben Schule und Sportlehrer. Nach einer Weile gewöhne ich mich an die Neuheiten, die so ein Umzug mit sich bringt und finde eine Freundin, wir befreunden uns, als wir mit der Klasse einen Ausflug nach Lescha unternehmen. Wir kommen ins Gespräch, weil ich mich in Lescha auskenne und als Fremdenführer fungieren kann. Wir essen Eis und kaufen noch Andenken, ich für Mama und Hagen und Gisela für ihre Mama. Plötzlich merke ich, dass ich mein ganzes Geld, was mir die Mama auf den Weg mitgegeben hat ausgegeben habe und nicht bedenke, dass ich noch Busgeld für die Rückfahrt brauche. Gisela ist auch Pleite, Gott sei Dank, … mein Papa ist noch in Lescha, ich gehe ins Rathaus und frage nach ihm. Eine Frau sagt: „Dein Vati ist gerade in einer Versammlung und da kann man nicht stören“. Was nun?, ich erzähle ihr von meinem Unglück, sie lächelt mich an und meint : „Na, warte mal einen Augenblick, ich gehe mal schauen, vielleicht kann ich etwas machen“. Sie steuert auf eine große Tür zu, Sitzungssaal steht darauf, sie klopft leise, öffnet sie dann zaghaft und spricht leise jemanden an, ich kann es nicht sehen. Dann dreht sie sich in der Tür um und winkt mir zu. Ich gehe hinein, murmelnde Geräusche verstummen, ich gehe auf meinen Papa zu und flüstere ihm mein Missgeschick zu. Ich weiß, dass sich mein Vater im Dienst und erst recht in Versammlungen nicht gerne stören lässt, meine Mama darf ihn auch nur anrufen oder stören wenn es wirklich ganz doll wichtig ist. Mein Papa bleibt ruhig wie immer, kramt seine Geldbörse hervor und gibt mir das Geld für den Bus und, ... noch eine Mark mehr. Ich fühle das stille Gelächter der Sitzungsanwesenden im Rücken. Als ich hinausgehe und die Tür schließe, drehe ich mich nochmal um, mein Papa nickt mir zu und blinzelt über seinen Brillenrand hinaus.
Etwa ein Jahr später kommt auch mein Vater zu uns nach Seelstein und nimmt seine Arbeit im Seelsteiner Schloss auf, in der Abteilung Verkehrswesen und Straßenbau. Dazu gehört auch die Einteilung des Winterdienstes, nicht selten schlägt er sich selber so manche Nacht um die Ohren , ist dann mit den Räumfahrzeugen unterwegs.
Kurze Zeit später wird meine Oma krank, bekommt Diabetes, meine Mutti muss sie immer spritzen. Das Pferdchen Peter ist im Sommer am Steiger und im Winter hat es einen Stellplatz in einem andern Stall, aber es dauert nicht mehr lange und es muss verkauft werden, der Onkel Justus kommt einfach nicht mit dem kleinen Pony zurecht. Meine Eltern haben dafür zu wenig Zeit und wir Kinder können es noch nicht allein. Der Onkel Justus mag wohl keine Tiere, wie man mal wieder feststellt, deshalb wird er mit dem Peter nicht fertig, er zerrt an ihm herum und wundert sich, wenn er einen Tritt bekommt und hochkant auf den Misthaufen fliegt. Dann flucht er, wird böse und macht alles noch schlimmer. Wir Kinder sind sehr traurig, dass unser Freund fort gegeben wird, wenn der Opa noch leben würde, wäre es sicher nicht so weit gekommen.
Überhaupt habe ich den Onkel Justus als einen eigenartigen, oft sogar bösartigen, kleinen , dünnen alten Mann im Gedächtnis. Dementsprechend ist natürlich unser Verhalten als Kinder ihm gegenüber. Er schimpft viel auf uns, nimmt unser Spielzeug weg, bringt es in sein Zimmer und versteckt es unter seinem Bett. Einmal schleichen wir uns in sein Zimmer, wir wollen unsere Sachen zurückholen, plötzlich hören wir ihn kommen, ich verstecke mich in einer Zimmerecke und Hagen kriecht unter sein Bett. Mein Onkel führt Selbstgespräche, er entdeckt uns schließlich weil wir darüber lachen müssen. Justus nimmt den Besen, er versucht damit Hagen unter dem Bett hervor zu holen, aber mein Bruder hält den Besen fest, mein Onkel hüpft vor Wut wie das Rumpelstielzchen im Märchen auf und nieder und flucht dabei, so dass wir noch mehr lachen müssen. In einem günstigen Moment können wir mit unserer zurückeroberten Beute flüchten. - Oft, wenn der Onkel Justus in den Hof geht um die Asche aus den Öfen in die dafür vorgesehenen Tonnen zu schütten, binden wir Stofftiere an eine lange Leine. Vom Küchenfenster aus lassen wir sie dann auf dem Rücken oder seinem Kopf tanzen. Das soll unsere Rache für das versteckte Spielzeug sein, wir freuen uns, wenn diese Revanche angekommen ist. Er droht uns dann mit der Faust, schimpft uns eine verfluchte Bande und macht Anstalten, uns nachzurennen, aber bis er die Treppen oben ist, sind wir schon längst mit unseren Rollschuhen außer Reichweite. Am besten geht das Rollschuhlaufen hinter unserem Wohnhaus, dort sind die Garagen und alles ist mit Betonplatten ausgelegt. Fast immer sind die Kinder aus der gesamten Nachbarschaft da, alle so ziemlich in einem Alter. Ein Mädchen muss immer auf ihren viel jüngeren, noch kleinen Bruder, kann man sagen, aufpassen, der nun wirklich noch zu klein ist, um mit uns mithalten zu können. Sie ist genervt und muss ihn überall mitschleppen. Wir wollen ihr helfen, sie läuft mit uns und der ganzen Meute einfach weg, wir lassen den Kleinen einfach stehen, denken uns nichts dabei, der rennt natürlich hinter uns her und schreit, als ob es ihm ans Leben ginge. Alles rennt und es kommt was kommen muss, er stolpert und fällt der Länge nach hin. Er hört zunächst auf zu brüllen, steht auf und droht hinter uns her. Erst beim Anblick seiner aufgeschrammten Knie fängt er wieder an zu heulen und ruft: „ … Hilfe!, Hilfe es kommt Blut!, es kommt Blut!“. - Seltsamerweise ist bei allen Kindern etwas besonders schlimm, wo Blut zu sehen ist. Jedenfalls bleibt uns nichts anderes übrig, als die unbequeme Last wieder weiter mit uns zu führen. -
1965 wird meine Oma operiert, sie hat Krebs, ihr Zustand verschlechtert sich sehr schnell, sie liegt sehr viel im Bett. Meine Mutter ist voll mit ihrer Pflege beschäftigt, sie ist zudem den ganzen Tag auf Arbeit, im Krankenhauslabor, es gibt sehr viel zu tun für sie, der Garten und wir Kinder sind auch noch da. Zu allem Überfluss macht der Onkel Justus auch nur das, was er nicht soll. Es fängt damit an, das er immer Unmengen an Lebensmitteln einkauft und das was gar nicht gebraucht wird. Meiner Mutter bleibt nichts anderes übrig, als ihm das Geld abgezählt mitzugeben, ich höre sie so manches mal sagen: „Du, Justus, das geht so nicht, das können wir uns nicht leisten, Du musst schon nur das bringen, was ich Dir sage“.
Bald kann meine Großmutter überhaupt nicht mehr aufstehen und geht schließlich im Januar 1966 ganz von uns, - damit geht auch mein erster Lebensabschnitt zu Ende, ... die Oma und Opazeit.
Ich bin fast 13 Jahre alt, die Kinderzeit geht langsam vorbei, ich gehe einem Alter entgegen, wo man manchmal nicht so recht weiß, ob man Fisch oder Fleisch ist. Jedenfalls habe ich die Zeit, in der es für mich Oma und Opa gibt als sehr schön und unbeschwert in Erinnerung. Schade, dass man als Kind diesen Abschnitt nicht so bewusst durchlebt, sondern erst im Laufe der späteren Jahre und des Lebens überhaupt, alle damit verbundenen Dinge und Erlebnisse aufarbeitet. Wenn man so wie ich es nicht anders kennt, als dass es toll ist, so prima Großeltern zu haben, dann schätzt man das erst viel später, eben weil es selbstverständlich ist.
Leider weiß ich von den Großeltern väterlicherseits nicht allzu viel zu sagen. Die Eltern meines Papas leben in der Altmark, in Ostfelden, die dortige leibliche Oma habe ich leider nicht mehr kennenlernen dürfen. Sie stirbt ganz plötzlich im Mai 1953, kurz bevor meine Eltern mit mir nach Ostfelden fahren wollen um mich „vorzustellen“. Mein Opa in Ostfelden heiratet schon kurze Zeit später noch einmal, ich vermag es nicht zu beurteilen, aber ich habe das Gefühl, dass allen, und nach dem späteren erzählen meiner Eltern diese Heirat und die Wahl der neuen Frau keine Begeisterung ausgelöst hat. Ich kann mir wirklich kein Urteil erlauben, aber sie hat insofern Pluspunkte bei meinem Bruder und mir geerntet, weil sie uns Schlaghosen genäht hat, die zu der Zeit in Mode gekommen sind. Sie ist Schneiderin, wie der Vater meines Papas, der immer wenn wir in Ostfelden sind mit verschränkten Beinen in seiner Schneiderwerkstatt im Hof des Elternhauses meines Papas sitzt. Meist fahren wir ein bis zweimal im Jahr nach Ostfelden, um die Verwandten zu besuchen, ich habe dort zwei Tanten, also zwei Schwestern meines Vaters. Tante Klara und Tante Hanna. Mein Cousin heißt Wolfram und meine Cousinen Anne, Gabi und Astrid. Eine Schwester meines Papas wohnt in Hannover und heißt Gerda. Der Ostfelder Opa ist 1960 gestorben, ich weiß nur, dass er ganz gelb im Gesicht ist als wir ihn im Krankenhaus besuchen. Heute weiß ich, er ist an einer Leberkrankheit, der Leberzirrhose gestorben.
Während meiner Kindheit sind wir, Hagen und ich, auch öfter mal bei der Schwester meiner Mutter. Meine Tante Lena wohnt zu der Zeit in Wegenstedt im Harz, sie ist Apothekerin, genau wie mein Onkel Tristan, also Tante Lenas Mann. Es ist immer recht schön dort, es gibt auch hier Kinder in der Nachbarschaft mit denen wir gerne spielen. In dem Haus wo Tante Lena und Onkel Tristan wohnen lebt im Erdgeschoss auch noch ein sehr altes Ehepaar, es sind die Großeltern von unseren Spielkameraden Hajo und Reiner. Ich bin viel auf dem Hühnerhof bei ihnen und habe die Hühner sogar getauft. Bis heute weiß ich noch, ein dickes braunes Huhn hat Habgier geheißen und einmal ist mir ein Ganter nachgelaufen, der es auch geschafft hat, mich recht schmerzhaft in die Wade zu beißen. Alle lachen mich aus, nur mein Onkel macht mir einen Umschlag und bald ist alles vergessen, nur die Angst vor Gänsen ist geblieben. Wenn wir ein paar Tage länger in Wegenstedt sind, bekommt der Hagen Bauchweh, weil es ihm zu lange dauert bis Mama und Papa wiederkommen und uns abholen, er hat dann immer Heimweh. Meine Tante Lena gibt ihm dann eine Mark und wenn sie dann fragt, ob es schon besser ist mit den Bauchschmerzen, sagt er ja.-
Nachdem meine Seelsteiner Oma gestorben ist, wird alles mit Onkel Justus noch schlimmer. Einmal hat mich der Onkel Justus direkt angegriffen, warum weiß ich gar nicht mehr. Jedenfalls holt Hagen daraufhin sein Wassergewehr und schießt vom Bauernschrank in der Diele auf Justus herab. Das macht ihn natürlich noch wütender, er packt und hält mich fest, ... es gelingt mir zu entkommen, ich kann ihm einen Scheuerlappen über den Kopf schmeißen, schnell flüchten wir aus der Wohnung in den Hof. Am nächsten Tag ist dafür Rache unsererseits angesagt. Als er von seinem Dachbodenzimmer herunterkommt halten wir die Dielentür zu, wir wollen ihn nicht hereinlassen. Bei der ganzen Aktion geht die Glasscheibe der Tür zu Bruch. Wir rufen unsere Mutter im Krankenhauslabor auf Arbeit an und nerven sie damit. - Ein paar Jahre später weiß man es besser, der Justus war nicht mehr ganz zurechnungsfähig und es wird klar, dass man besser daran getan hätte, ihm nachzugeben oder nicht auf seine Sticheleien zu reagieren, wenn er einen Streit anfängt. Stattdessen finden wir es als Kinder eben besser, nichts auf sich sitzen zu lassen und uns lieber zu rächen. Wir haben dann ein Stück Wurst oder Brot in seinen Kaffeetopf geschmissen. Er benutzt keine Tasse, sondern ein Tipfel, wie wir zu Hause sagen. Das ist ein Gefäß in der Größe eines herkömmlichen Milchtopfes mit Ausgußtülle. Er brockt immer sein Brot oder den Kuchen hinein, um alles mit einem großen Löffel zu essen. Natürlich flucht er und nennt uns eine Saubande wenn er die hineingeworfene Wurst findet. Auf der andern Seite hat er meinen ersten Kuchen gegessen,den ich mit 9 Jahren gebacken habe, obwohl er steinhart ist, ich habe das Backpulver vergessen. „Eh, jeses, er ist ganz gut, man muss ihn nur „eintunken“, hat er gemeint.-
Wie gesagt wären solche Eskapaden nicht entstanden, wenn wir einen Bogen um ihn gemacht hätten, aber als Kinder haben wir es eben nicht besser gewusst und halt immer darüber nachgedacht wie man sich rächen könnte.-
Kurze Zeit später wird auch der Onkel Justus krank und verlässt uns im Januar 1967, er stirbt an Kehlkopfkrebs.-
Meine Kinderzeit ist nun zu Ende, aber es folgt ein neuer Abschnitt, die Zeit der Mädchenjahre.