Читать книгу Stehaufmännchen - Die Kraft zu leben - Margarithe W. Mann - Страница 6

Veränderungen

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Die Verlobung mit Johann findet wie geplant zusammen mit Hagens Jugendweihe am 1. April 1072 statt. Die Verwandtschaft meines Vaters ist gekommen und Johanns Pflegeeltern natürlich, sowie meine Freundin Gisela. Mehr als ein nettes Beisammensein ist es nicht, alles ist überschattet von Hagens schwerer Krankheit, die bereits für alle beängstigend fortgeschritten ist. Zudem sind meine Gedanken dauernd bei dem Termin beim Frauenarzt, genau an meinem Geburtstag, also zwei Tage später. Meine Regel ist überfällig, sonst ist alles wie immer, ich habe keine Beschwerden. Trotzdem habe ich die Vermutung schwanger zu sein, der Frauenarzt bestätigt an meinem Geburtstag mein weiblich angeborenes Gefühl. Er gratuliert mir zum Geburtstag und zum Ergebnis der vorangegangenen Untersuchung. Bei mir löst diese erwartete Mitteilung eine Mischung aus Freude, Angst und Ratlosigkeit aus. Ich denke an meine Freundin Gisela und unser Gespräch seinerzeit im Wald, als sie mich fragte: „Was soll ich jetzt bloß machen?“. Genau in dieser Situation befinde ich mich nun. Johann freut sich über diese Nachricht, weiß aber mit dieser Tatsache mindestens ebenso wenig anzufangen wie ich jetzt und Anton damals. Ich denke an die geplante Hochzeit im Juni; … dass man nicht mehr aus dem Grund heiratet, nur weil ein Baby unterwegs ist, habe sogar ich in meiner sonstigen Naivität mitbekommen. Ich bringe aber nicht den Mut auf, Johann zu sagen, dass ich eigentlich noch gar nicht heiraten möchte, ich weiß nicht, wie ich es ihm mitteilen soll, bin zu feige dazu, einen Rückzieher zu machen, lasse mich dadurch immer weiter in diesen Sog hineinziehen und finde nicht heraus. Dass es mir sogar peinlich ist, meinen Freunden, Eltern, Verwandten und auch Johanns Pflegeeltern zu gestehen und zu sagen, ich möchte das alles eigentlich gar nicht mehr, ist mehr als nur Dummheit.

Nachts finde ich oft keinen Schlaf, ich lege die Hände auf meinen Bauch, versuche mir vorzustellen, wie es in meinem Inneren aussieht, wie ich es meinen Eltern sagen soll und wie wohl alles weitergeht. Natürlich liebe ich das kleine Wesen in meinem Bauch, gebe mir Mühe, in meine zukünftige Mutterrolle hineinzuwachsen und mich mit diesen Veränderungen vertraut zu machen. Der Johann macht daraus keine Wissenschaft, er sagt, als wir eines Nachmittags zum Kaffee bei den Pflegeeltern sind: „Also, Tante Gerda und Onkel Erich, wir sind jetzt bald zu dritt". Die Tante Gerda hebt nur kurz den Kopf, den sie ziemlich nah über den Tisch gebeugt hat, weil sie sehr schlecht sieht und gerade etwas lesen will und meint: „Soooo, naja dann, ...“, der Onkel Erich sagt nichts und nickt nur mit dem Kopf.

Am 5. April überwinde ich mich und bitte meine Eltern um eine Unterhaltung, es ist später Nachmittag, wir sitzen in der Diele. „Na, was gibt es denn Töchting?, wo drückt der Schuh?“, beginnt mein Vater das Gespräch. „Jaaaaa, ... ich, ... Ihr, ... Ihr werdet Oma und Opa, ...“ . Endlich ist es heraus. „Und wann soll es denn kommen?, ... und was ist mit Deiner Ausbildung?“, möchte meine Mutter wissen. „Der Arzt hat den 10. Oktober ausgerechnet, bis dahin bin ich fertig mit der Lehre“. „Hast Du Dir das auch alles gut überlegt, ... Du weißt ja, was man laut Gesetz nun beantragen kann?“, fährt meine Mutter fort. Mein Papa luschert über seine Brille und sagt nur: „ … Oje, ... na da, ... ach das wird schon werden“, an einem verschmitzten, leicht unterdrückten Lächeln sehe ich, dass er sich freut. Meine Mutter empfindet es vorerst als eigenartiges Gefühl nun Großeltern zu werden und nimmt dann schließlich ebenfalls nicht abgeneigt diesen Tatbestand an. Sie macht nie wieder eine Andeutung in Richtung neues Gesetz. Ich denke nicht ein einziges Mal an die Möglichkeit, mein Kind einfach „wegmachen“ zu lassen, auch wenn alles noch so schwer sein würde. -

Nur einen Tag nach dem Gespräch mit meinen Eltern, am 6. April 1972 kommt Hagen wieder ins Krankenhaus, in die Universitätsklinik Jena, … diesmal um nicht wieder zu uns zurückzukehren, er verlässt uns für immer am 10. April 1972, eine Woche nach seiner Jugendweihe. Meine Eltern sind am gleichen Tag, vormittags nach Jena gefahren, sie haben mich nicht mitgenommen, ob absichtlich oder unbewusst kann ich nicht sagen, nur, dass er bereits eingeschlafen war als sie dort in Jena ankamen ; keine Möglichkeit um sich zu verabschieden. Wir haben ja alle gewusst, dieser Tag würde sehr bald kommen, aber trotzdem war es ein familiäres Disaster. Mein Papa gibt sich die größte Mühe seine äußerliche Gefasstheit zu behalten, versucht damit eine Stütze für uns zu sein. Meine Mama ist kurz vor einem Nervenzusammenbruch und lange nicht ansprechbar. Es klingt fast abscheulich, wenn man sagt: Das Leben muss weitergehen, auch ohne Hagen, dennoch ist es so. Überwunden haben meine Eltern diesen Schmerz wohl nie vollständig, auch in mir bleibt etwas zurück, oft muss ich noch heute an meinen Bruder denken, an unsere Kindheit, an die verdammt wenigen gemeinsamen Jahre, die uns gegeben waren. Ich stelle mir vor, wie schön es wäre, jetzt noch einen Bruder zu haben, in dem ich sicher in meinem weiteren Leben einen guten Freund und Ansprechpartner gehabt hätte. Es bleibt nichts anderes übrig als das Leben so zu nehmen wie es ist, so geht auch die Zeit in Halle weiter und die Lehre steuert ihrem Ende entgegen. Ich habe zu tun, mich intensiv auf meinen Abschluss vorzubereiten und schreibe fleißig an meiner Hausarbeit. Gesundheitlich geht es mir gut, was die Schwangerschaft betrifft, keine Probleme, wenn ich es nicht schwarz auf weiß zu stehen hätte, ... in mir ist ein kleiner Mensch, würde ich es nicht glauben. Auch im Mai schreibe ich an meiner Hausarbeit, an den Wochenenden übe ich mich in der Küche, mal klappt es sehr gut, mal weniger. Oft koche ich für alle, also auch für meine Eltern, es übt und entlastet meine Mutter. Ansonsten ist jetzt nach Hagens Tod alles still, jeder Tag ist irgendwie gleich, ... gleich traurig, ... ohne jegliche Besonderheiten. An einem Wochenende im Mai sagt der Johann: „Aber der Hochzeitstermin am 9. Juni, … der bleibt doch?, … schon wegen des Kleinen“. Daran habe ich schon gar nicht mehr gedacht und meine zu ihm: „Ach ich weiß nicht, ich möchte nicht feiern, dazu haben alle keine Lust, außerdem ist nichts vorbereitet, was soll angezogen werden?, die Zeit ist mehr als knapp“. Johann antwortet: „Wir brauchen ja nicht zu feiern, einfach zum Standesamt und unterschreiben, damit das Kind gleich den richtigen Namen hat, dann braucht später nichts mehr umgeschrieben zu werden“. Ich hätte den Termin zumindest gern verschoben, mir war nicht zumute danach, zum anderen war ich auch noch immer nicht überzeugt, ob es richtig ist. Dennoch antworte ich : „Wenn Du meinst, ist es gut so, dann lassen wir eben alles wie es ist“. Mehr sagte ich nicht dazu, ich hatte einfach nicht die Courage, die Macht des reißenden Flusses aufzuhalten, um mich an das Ufer retten zu können, zu feige etwas aufzuhalten, was ich gar nicht mehr wollte. Anstatt zu sagen, nein Johann, ich möchte jetzt nicht heiraten und ich weiß momentan nicht, ob ich es überhaupt noch will. Es wird kurzer Hand ein Tisch bestellt, übereilt irgend ein komisches Kleid gekauft und die Hochzeit wird im wahrsten Sinne des Wortes durchgezogen. Auf dem Standesamt werden die Formalitäten erledigt, mir ist nicht bewusst, was ich da eigentlich unterschrieben habe. Ich beneide nur die Braut bei der Eheschließung vor uns, die ein langes weißes Kleid trägt, so wie ich es später einmal auch sehr gern gehabt hätte. Anschließend fahren wir zum Mittagessen nach Arnsbach, meine Eltern, Johanns Pflegeeltern und natürlich Johann und ich, ... das ist meine sogenannte „Traumhochzeit“ am 9. Juni 1972.

Die Wohnung wird erneut umgeräumt, Johann und ich haben jetzt die beiden großen Zimmer, das Wohnzimmer bleibt wie es ist und wir kaufen ein Schlafzimmer, ein Teil des Geldes kommt von den Pflegeeltern Johanns. Die Veranda dient weiterhin als kleine Küche, das Bad muss mit meinen Eltern gemeinsam genutzt werden.

Am 30. Juni 1972 schreibe ich zum letzten Mal in Halle Tagebuch, kurz darauf bekomme ich nach erfolgreicher Verteidigung der Hausarbeit meine Staatliche Anerkennung als MTA. Auf einmal sind diese zwei Jahre, vor denen ich mich so gefürchtet hatte vorbei, jetzt bin ich stolz auf meinen abgeschlossenen Beruf. Nun arbeite ich bis zu Beginn meines Schwangerenurlaubs im Krankenhaus. Es geht mir gut, nur mein nicht allzu dicker Bauch erinnert mich daran schwanger zu sein. Überhaupt kann ich mir noch immer das alles schwer vorstellen. Ich erwische mich oft dabei, wenn ich zu mir selber sage: du bist jetzt verheiratet, ... du wirst bald ein Kind haben, … kannst du das alles?. Wie im Traum kommt es mir manchmal vor, ich bin mir nicht sicher ob dieser Traum gut ist oder nicht, ich bin verunsichert, kann nicht einmal beantworten warum. Ich bin noch immer der Meinung, ich liebe Johann. Zu Anfang unserer Beziehung bin ich auch noch aufgeregt wenn er kommt, aber ich vermisse von Anfang an die Schmetterlinge, so wie ich sie bei Gerrit hatte, ... auch wenn beim letzten Treffen vor dessen Tür nur noch einer davon übrig war. Wie sich das Gefühl richtiger Schmetterlinge anfühlt sollte ich erst viel viel später erfahren.

Der August 1972 ist sehr heiß, es geht mir noch immer gut, aber langsam habe ich mit verschiedenen Arbeiten, wie Betten machen oder Wäsche aufhängen einige Schwierigkeiten. Leider fragt Johann mich nie, wie es mir gerade geht oder ob er mir vielleicht hier und da ein bissel helfen kann. Warum ich nichts gesagt habe?, ich weiß es nicht.

In der Nacht vom 25. zum 26. August 1972, ein Wochenende von Freitag zu Samstag kann ich nicht richtig schlafen, ich habe Bauchschmerzen mit vermeintlichen Krämpfen. Gegen Morgen ist es besser, ich gehe los, ich möchte Brötchen holen. Damals muss man lange anstehen beim Bäcker, aber die Leute lassen mich vor mit meinem „Bäuchlein“. Auf dem Heimweg werden die Schmerzen wieder heftiger und zu Hause verliere ich ein bisschen Wasser. Erst denke ich, es sei die Harnblase, aber als es mehr wird sagt mir eine innere Stimme, dass ich Wehen habe und die Fruchtblase geplatzt ist. Meine Eltern sind gerade nicht da, sie versuchen ihre Gedanken zu ordnen, sind für ein paar Tage nach Ungarn geflogen und wollen anschließend noch für eine Weile in Ostfelden bleiben. Johann geht nach dem Frühstück bevor ich etwas sagen kann zu Tante Gerda und Onkel Erich. Er tut es oft, lässt mich allein sitzen, es ist niemand mehr da. Ich ziehe mich dann doch lieber an, gehe zum Krankenhaus. Der Frauenarzt Dr. Bernd sagt: „Eigentlich wollen wir Sie hier noch nicht sehen, das ist zu früh, aber Gott sei Dank, dass Sie gekommen sind, es kann gefährlich werden, wenn kein Fruchtwasser mehr da ist, ich lege sie an den Tropf, vielleicht können wir das Kleine da drin noch dazu überreden, ein wenig zu warten und noch dort zu bleiben wo es ist“. Ich bleibe also im Kreißsaal am Tropf liegen, es ist bereits Nachmittag, erst spät am Abend ist der Johann wieder zu Hause und kann telefonisch erreicht werden. Zum Glück haben wir Telefon, es konnte nach dem Tod von meinem Großvater übernommen werden, weil mein Papa die Sache mit dem Winterdienst auf dem Hals hat. Telefonanschlüsse sind zu meiner Kinder und Jugendzeit, sowie auch, als ich schon selber Familie habe eine Ausnahme. Bei solchen Angelegenheiten ist es umständlich und schwierig, wenn man dringend jemanden erreichen muss, es bleibt nur der Weg zur Telefonzelle, davon gibt es allerdings zu der Zeit in jeder Straße mindestens eine. Erst am Sonntagvormittag bringt mir Johann endlich meine Sachen, die man im Krankenhaus benötigt, meine Tasche steht schon eine Weile fertig gepackt bereit, aber sie ist schwer, ich kann sie selber, als ich zum Krankenhaus ging nicht schleppen. Am Sonntag gegen Mittag kommt der Dr. noch einmal um nach mir zu sehen, das restliche Fruchtwasser ist bereits grünlich verfärbt, die Geburt wird eingeleitet. Gegen 17.00 Uhr gehen die Wehen richtig los, ich muss gestehen, ein Spaziergang ist es nicht gerade. Die Hebamme ist sehr nett, sie schaut öfter herein zu mir, rennt viel hin und her, denn außer mir liegen noch zwei andere Frauen mit gleichem „Ziel“ in den Entbindungsbetten. Nach einer Weile jammert und stöhnt es aus dem Bett unweit neben mir, nur eine Art Spanische Wand ist dazwischen. Die Hebamme kommt sofort zu ihr und ruft: „Jaaaaa, gleich ist es soweit, ... gleich haben Sie es geschafft, ... na kommen Sie, ... pressen Sie, ... noch einmal, ...“. „Ich kann aber nicht mehr ...“, stöhnt es wieder, aber die Hebamme feuert sie weiter an: „Doch doch, das können Sie, ... Sie haben es doch gleich geschafft, ... ich sehe schon das kleine Köpfchen, ... ganz viele Haare hat es, ...“. In dem Moment ertönt erst ein erlösender Schrei der Frau und gleich darauf die ersten Töne des neuen Erdenbürgers. Ich denke mir, … ach du liebe Güte, na Hilfe, ... das kann ja noch was werden, da hast du wohl noch etwas vor dir, ... es ist ja jetzt schon ziemlich arg, ich rufe ängstlich nach der Hebamme, sie kommt auch gleich. „Na, junge Frau, ... was gibt es denn?“. „Ich glaube bei mir dauert es auch nicht mehr lange“, gebe ich in einem etwas jammernden Ton von mir. Sie zückt ihr „Horchrohr“, es ist zu der Zeit meiner ersten Entbindung aus Holz, sie drückt die eine Seite ein wenig in meinen Bauch und legt ihr Ohr an die gegenüber liegende Öffnung, dann untersucht sie mich. „Sie haben noch ein bisschen Zeit, … das dauert noch ein Weichen“, sagt sie schließlich und ich jammere ein wenig weiter. Sie dreht sich um und meint dann lächelnd: „Ja, ja, ... rein wie ein Schmirl, ... aber raus wie ein Quirl, …“. Sie geht hinaus und ich höre, bereits die nächste Mutti wird in unseren „Kreis“ aufgenommen. Dann wird die Sache beängstigend, gegen 19.00 Uhr kommen die Presswehen, die Hebamme wechselt noch einmal die Gummihandschuhe, es läuft genauso ab, wie bei der Frau vorhin, die nun alles hinter sich gebracht hat. Nach drei Presswehen ist am 27. August 1972 um 19.25 Uhr das kleine Menschlein da, ... ein kleines Mädchen, Henny, … 46 cm groß und 2020 gr. Schwer, … bzw. leicht. Nachdem nun alles vorbei ist und ich mich etwas erholt habe merke ich, dass ich Hunger habe, ich muss noch eine Weile im Kreißsaal liegen bleiben, ... zur Beobachtung, ... wie alle Muttis, das ist so üblich. Ich habe großen Hunger, ... und Durst vor allen Dingen. Man fragt mich, ob ich warm essen möchte, ... Sauerkraut und Blutwurst, ... aber Blutwurst?, ... das ist mir dann doch momentan ein wenig unpassend, ich warte doch lieber bis ich auf Station verlegt werde, dort bekomme ich belegte Brote und auch endlich etwas zu trinken. Indessen hat die Nachricht, dass es einen neuen Erdenbürger gibt auch meine Eltern erreicht, man kommt mich besuchen, gratuliert und freut sich. In der ersten Zeit kann ich nicht richtig sitzen. Obwohl das Kindchen so klein ist, weil es zu früh gekommen ist, bin ich geschnitten und genäht worden, ein äußerst schmerzhaftes und unangenehmes Gefühl. Man kann richtig sehen, wer von den Muttis das gleiche Schicksal ereilt hat, … wer betroffen ist kann nicht richtig sitzen, weder auf dem Stuhl noch auf dem Bett, sondern man versucht zwangsläufig mehr oder weniger hängender Weise irgendwie Halt zu bekommen. Die Kleine lässt es mich schnell vergessen, die Schmerzen bei der Entbindung und auch die äußerst unangenehme Sache mit der „Flickerei“. Leider muss ich die kleine Henny noch im Krankenhaus zurücklassen, während ich nach acht Tagen entlassen werde. Wenn Henny ein Gewicht von fünf Pfund erreicht hat, kann ich sie zu mir nach Hause nehmen. Ich gehe jeden Tag in die Klinik, besuche mein Baby, bringe die abgepumte Milch mit, sie ist reichlich vorhanden, sodass ich davon noch für andere Babys etwas abgeben kann. Am 16. Oktober kann ich endlich mein Kind abholen, ich freue mich sehr es endlich in den schönen Stubenwagen legen zu können, er ist mit einem weißen Kreppstoff bezogen mit kleinen rosa Blüten darauf. Die Frau Mark, die zu der Zeit bei uns im Haus wohnt hat es für mich genäht, ich habe noch keine Nähmaschine. Am meisten begeistert von dem kleinen Wurm ist mein Papa, den man kaum noch von dem Körbchen wegbekommt. Er ist vom ersten Augenblick an und sein ganzes Leben lang ein Opa wie man sich keinen besseren wünschen kann, ... mein Vater und Henny, ... seine Püppi wie er immer sagt. Meine Mutti steht mir zur Seite, sie hilft und unterstützt mich sehr, ich bin noch viel zu unerfahren und dadurch auch sehr ängstlich im Umgang mit Henny, ich habe am Anfang große Angst etwas falsch zu machen. Sie ist so klein, ich traue mich kaum beim wickeln richtig zuzufassen. Nach einer Weile bekomme ich es aber in den Griff und schaffe es, trotzdem macht meine Mutter mehr als ich eigentlich an Hilfe brauche. Ich lasse sie, ich merke, es tut ihr gut , es lenkt sie ein wenig vom Schmerz nach Hagens Tod ab. Johann geht zur Arbeit und kommt spät nach Hause, oft ist er mit seinem Kollegen Gerd Steinmann zusammen, der auch im Gartenbau arbeitet, ich kann das Gefühl nicht loswerden, dass er keinen guten Einfluss auf meinen Mann hat. Johann geht sehr viel zum Stammtisch, eben sehr häufig mit diesem Gerd. Es wäre schön, wenn er mich wenigstens fragen würde ob er mir etwas helfen kann, ich sage nichts, ich schaffe es ja von der Sache her, ich bin noch zu Hause und meine Mama hilft mir wie gesagt mehr als genug, ... aber es wäre ein netter Zug von ihm. Vielleicht ist es ein Fehler meinerseits gewesen, dass ich diesbezüglich nichts gesagt habe, bzw. um Unterstützung gebeten und bei dessen Nichterfüllung darauf bestanden habe ; wer Zeit hat in die Kneipe zu gehen, hat auch Zeit sich mit um das Baby zu kümmern, ... so denke ich jedenfalls heute. Ab und zu kommt die Gerda und gibt „gute Ratschläge“, der Erich lässt sich kaum einmal blicken. Am Anfang ist der kleinen Henny alles viel zu groß, egal was man kauft, deshalb verzichte ich sehr lange auf Strampler und nehme lieber große Moltontücher.

So zu Mitte, ... Ende November hin beginnt die kleine Henny auf ihre Umgebung aufmerksam zu werden, erkennt ihr Fläschchen, welches zur Muttermilch noch zugefüttert wird. Sie erhält fünf Mahlzeiten , 5.00 , 9.00 , 13.00 , 17.00 , und 21.00 Uhr, die Flaschenmahlzeiten enthalten einen Teelöffel Möhrensaft. Jetzt meldet sie sich in der Nacht meist nur noch, wenn sie die „Hosen“ ordentlich voll hat, das kann Henny überhaupt nicht vertragen, sie " meckert " schon wenn die Windel nur ein bissel nass ist. Für die Windeln habe ich einen Eimer für die Kackwindeln, einen für die eingeweichten Windeln und einen großen Topf in dem die Windeln gekocht werden bevor sie „weiterverarbeitet“ werden. An so etwas wie Wegwerfwindeln ist zu der Zeit noch nicht einmal im Traum zu denken. Meine Mutter macht nach wie vor viel für die Kleine, ansonsten macht jeder seinen Haushalt, wir kommen gut miteinander aus, aber ich denke manchmal schon daran, dass es auch nicht schlecht wäre eine eigene Wohnung zu haben. Gerade im Bad brauche ich mit der Kleinen sehr lange, das gibt manchmal gerade morgens einen größeren „Stau“. - Dann ist das Jahr 1972 schon bald vorbei, am 11. 12. 1972 habe ich wieder einen Termin bei der Mütterberatung, die Kleine wiegt jetzt bereits 5240 gr.. Es ist schön, diese Zeit während der Mütterberatung, eine prima Einrichtung bei uns in der DDR. Schade, dass es so etwas in dieser Form nun nicht mehr gibt, ... wie schon gesagt, ... auch bei uns war nicht alles schlecht. Die Kinder waren durch diese Beratungsstellen, die ausnahmslos immer von Kinderärzten belegt waren gut versorgt. Man traf immer auf die gleichen Muttis mit denen man sich austauschen konnte, man kannte sich und nahm sich bei schönem Wetter im Anschluss an die Mütterberatung die Zeit mit den Kindern spazieren zu gehen, ... manchmal einen Kaffee zu trinken um ein wenig weiter zu klönen. Henny bekommt jetzt mittags den ersten Brei, den ich selber zubereite, fertige Gläschen mit Babynahrung, so wie sie es heute in einer breiten Palette auf dem Markt gibt gab es nicht oder nur selten, Babysäfte so gut wie gar nicht. Manchmal hatte ich ganz braune Finger vom Verarbeiten der Möhren. -

Das Weihnachtsfest in dem Jahr ist ein Fest mit gemischten Gefühlen, zum einen sehr traurig, es ist das erste Weihnachten ohne Hagen, zum anderen bringt die kleine Henny Freude ins Haus und lenkt uns alle von den finsteren Gedanken ab. Mit großen Augen bestaunt sie den ersten Weihnachtsbaum in ihrem Leben, schwer zu beschreiben ist so ein Gefühl wen man sagt: Der eine geht, der andere kommt. -

Zu Silvester schauen wir mal kurz bei Egon und Inge vorbei, wir bleiben nicht lange, ich habe keine richtige Ruhe wegen Henny, obwohl ich sie bei meinen Eltern in guter Obhut weiß. -

Schon sind wir im Januar 1973, mein Wochenurlaub soll noch bis Ende April gehen, im Mai die reguläre Arbeitszeit wieder anfangen, Henny sollte ja erst im Oktober geboren werden, diese Zeit bekommt man nach, wenn es die kleinen Erdenbürger zu eilig haben auf die Welt zu kommen. Ich möchte aber gerne ein paar Stunden arbeiten gehen, es sind noch einige Anschaffungen zu machen, aus einem inneren Gefühl her möchte ich mir von Johann nicht sagen lassen, dass ich mich nicht daran beteilige. Problemlos könnte ich im Krankenhaus anfangen, aber ich habe erstens noch keinen Krippenplatz und zweitens arbeitet meine Mutter noch. Ich möchte ohnehin nicht, dass sie sich ausschließlich allein um Henny kümmert. Ich entscheide mich dahingehend, vorerst Arbeit in einer Kinderkrippe anzunehmen, weil ich dabei die Möglichkeit habe, die Kleine mitzunehmen. Meiner Mutter ist es sichtlich nicht so sehr recht dass ich vorfristig schon ein bissel arbeiten will, aber es fehlt nun mal das Geld. Johann arbeitet ab dem 8. Januar für seinen Betrieb in Legestedt, so brauche ich nur für die kleine Henny sorgen. Ende Januar steht für ihn wieder der Heimatbetrieb auf dem Programm und anschließend bis Ende Februar wieder Legestedt. - Henny bekommt abends ihren Milchbrei, lehnt ihr Spätfläschchen ab und schläft fast immer schön durch. Am 5. Februar habe ich wieder Mütterberatung, sie bekommt die Dreifachimpfung, wiegt nun schon 6420gr. Sie greift bereits nach ihr vorgehaltenen Gegenständen und versucht, sich zum Sitzen aufzurichten, mit Hilfestellung gelingt es auch für einen Moment, dann sinkt sie zur Seite, es sieht witzig aus. Die Nächte nach der Impfung sind ein wenig unruhig, so nehme ich sie mit in mein Bett. Henny hat Fieber, ich habe Angst einzuschlafen und ihre „Klagelaute“ zu überhören. Aber instinktiv hört man doch alles, auch wenn man noch so einen festen Schlaf hat, wo man ansonsten jemanden wegtragen kann, wie man so sagt, ... wenn mit den Kindern etwas nicht stimmt, ... das hört eine Mutter immer. -

In meiner Tagebucheintragung vom 18. Februar finde ich es schade und ein wenig traurig, dass sich Johann von seiner Arbeit in Legestedt nicht meldet. Henny ist krank, hat eine Bindehautentzündung, ich muss meine Arbeit in der Krippe unterbrechen und zu Hause bleiben. Dadurch habe ich Gelegenheit in unserer kleinen Küche die Stühle zu streichen, sowie hübsche neue Gardinen anzubringen, die ich, weil ich noch keine Nähmaschine besitze in mühevoller Kleinarbeit mit der Hand nähen muss. Als Johann am Wochenende von Legestedt nach Hause kommt und ich ihm mein „Werk“ stolz präsentiere, habe ich eigentlich ein klein wenig mehr als ein „Ja, ... ja, … schön“, erwartet. Manchmal frage ich mich, was Johann wohl in Legestedt in seiner Freizeit macht, weil er keine Zeit hat, sich einmal wenigstens bei mir nur hin und wieder mal zu melden. Wenn man dort schon kein Telefon hat, so gibt es doch aber überall Postkarten.

Am Montag, den 19. Februar bin ich mit Henny noch einmal beim Kinderarzt und werde bis zum folgenden Donnerstag krank geschrieben. Ich arbeite meinen Haushalt auf, erledige die Bügelwäsche, bessere verschiedene Kleidungsstücke aus, packe Sachen für die Reinigung zusammen. Auch die Reinigung ist in der DDR sehr billig, man kann es sich leisten und braucht sich mit großen schweren Stücken nicht abzuquälen, heute ist die chemische Reinigung kaum noch bezahlbar.-

Die Arbeit in der Krippe gefällt mir ganz gut, die Kollegen sind bis auf die eingebildete Chefin recht nett, mir ist aber klar, dass ich lieber in meinem Beruf arbeiten möchte sobald es möglich ist, finde es aber wegen der Kleinen geschickt, es auf diese Art gelöst zu haben, um ein paar Stunden arbeiten zu können. -

Am 24. Februar kommt zum ersten Male ein lalliges „Mama“ aus Hennys kleinem Schnabel, ich bin ganz entzückt, nun fange ich auch an, sie mit ihrem Töpfchen bekannt zu machen. Johann beendet seinen betrieblichen Arbeitseinsatz in Legestedt und bleibt vorerst im Gartenbaubetrieb bei uns in Seelstein.

Der März ist alles in allem kühl, hat aber ein paar schöne Tage, so fahre ich mit der Kleinen und den Eltern samt Kinderwagen an einem Wochenende zum Steiger, um nach dem Rechten zu schauen. Soweit ist alles in Ordnung, nur die Mäuse haben ganz schön Schaden angerichtet. Im Küchenschrank haben sie die im letzten Jahr zurückgelassenen Mehltüten zerfressen und entsprechende Köttel hinterlassen. Na, ja, auch in dem Jahr wird der Frühjahrsputz wieder Ordnung schaffen.-

Mein 20. Geburtstag steht bevor, irgendwie geht es mir nicht besonders gut, ich habe ziemlich arges Kopfweh, ein relativ seltener Zustand. Meine Arbeiten im Haushalt fallen mir schwer, ich sage nichts, ich gehe der Fragerei nach dem warum und weshalb lieber aus dem Weg. Noch heute äußere ich mich nur sehr ungern was meine gesundheitlichen Unzulänglichkeiten betrifft, in der „ Öffentlichkeit ". Mein runder Geburtstag geht sehr ruhig an mir vorüber, innerhalb der Familie sitzen wir beisammen. Ich denke an meine Freundin Gisela, von der ich lange nichts gehört habe, auch nicht an meinem runden Tag und bin traurig darüber. Ich erinnere mich an einen rot - schwarz gemusterten Hausanzug den ich geschenkt bekomme, er ist von der Gerda. Wie es sich später herausstellt, hat sie den Johann damit vorgeschickt gehabt, er hatte es als sein Geschenk ausgegeben. Ich merke es aber irgendwann, solche Stücke kann man zu dieser Zeit noch nicht in der DDR kaufen. Die Gerda hat Beziehungen zur ehemaligen Bundesrepublik, das verriet auch das bunt gedruckte Briefpapier. Meine Eltern schenken mir ein seidenes rosa Flatterhemd, in späteren Jahren fällt es den ersten Bügelkünsten von Henny zum Opfer. Kurz nach meinem Geburtstag habe ich wieder Termin bei der Mütterberatung, Henny ist schon sehr mobil, zappelt beim An und Ausziehen, erwischt blitzschnell was sie dabei erreichen kann, 15 Pfund und 20 gr. wiegt sie jetzt. -

Das Wetter um den 10. April, einschließlich des ersten Todestages meines Bruders ist mehr als scheußlich, der Regen hört einfach nicht auf und regt damit trübe Gedanken die damit zusammenhängen noch mehr an. Johann kommt an dem Tag nicht mit zum Friedhof, obwohl er wegen des schlechten Wetters sehr früh zu Hause ist; überhaupt kommt er nicht ein einziges Mal mit dorthin. Wir essen noch gemeinsam zu Abend, lassen den Gedenktag still ausklingen, es ist noch niemand in der Lage über Hagen zu sprechen, obgleich es vielleicht hilfreich wäre dadurch die Trauer zu bewältigen.-

Mein Papa ist ganz verrückt mit seiner kleinen Enkeltochter Henny, kaum ist er von der Arbeit zur Tür herein, stürzt er auf sie zu, trägt sie überall umher und ist bei den Mahlzeiten dabei, soweit es ihm nur möglich ist. Er fährt auch mit ihr spazieren, manchmal mit, manchmal ohne Oma. Es schmerzt mich, dass Johann so wenig Interesse an Henny zeigt, er schaut nach ihr, ... ja, aber ich vermisse, dass er so selten einmal mit mir und der Kleinen mitkommt, schließlich ist er am Wochenende zu Hause. Demzufolge freut sich Henny über den, den sie am häufigsten sieht am meisten, … ihren Opa ( außer mir natürlich ). Wenn er zur Tür hereinkommt, sie anspricht und sagt: „Na, Püppi, ... was ist los?, was hast Du denn heute gemacht?, ... hast Du denn schon Abendessen bekommen?“, dann jauchzt sie vor Freude auf, der ganze kleine Körper ist dabei in Bewegung, ich weiß nicht was mehr zappelt, Arme, Beine oder eben alles. Ich stelle mir sehr oft vor, Hagen wäre auch so, was Henny betrifft, sicher würde es so manches Mal einen Machtkampf geben zwischen meinem Vater und meinem Bruder wer an der Reihe ist, die kleine Püppi zu füttern. Schade und traurig, dass es Hagen nicht mehr gibt und er es nicht erleben darf. -

Der Mai ist da und mit ihm wird endlich auch das Wetter besser, leider kommt Johann noch immer äußerst selten mit, wenn ich frage: „Gehst Du mit spazieren, ... oder fährst Du mit zum Steiger“, antwortet er nur immer: „Nö, ich gehe zu Gerda und Erich“. Fast ist es mir richtig unangenehm, ich erwarte eigentlich, dass er meinem Vater ein wenig zur Hand geht im Garten, wenigstens hin und wieder, als dauernd nur bei den Pflegeeltern zu hocken und den ganzen Tag dort zuzubringen. Sie haben zwar auch einen Garten, aber der ist lächerlich klein, sodass die Gerda selber vom Unkraut suchen, statt vom jäten spricht. Wie gesagt heißt das nicht, der Johann soll nun gar nicht mehr zu ihnen gehen, bestimmt nicht, aber dass er meinen Vater die ganze Arbeit allein machen lässt finde ich nicht in Ordnung. Ich nehme oft Anlauf, ihm zu sagen, dass eine Familie in der Freizeit auch mal gemeinsam etwas unternimmt, auch einmal anfallende Arbeit gemeinsam bewältigt, so könnte man doch abwechselnd an den Wochenenden mal zum Steiger fahren und am nächsten dann bei Gerda und Erich sein, oder eben mal einfach nur zusammen spazieren gehen. Ich nehme es mir oft vor, sage dann doch nichts, ich habe die Hoffnung, er kommt selber noch dahinter, dass sich noch alles einspielt. Ich möchte nicht, dass er denkt ich mache ihm Vorschriften, ... aber ich vermisse halt das was ich mir vorgestellt habe, das Gemeinsame.

Henny versucht sich an den Gitterstäben ihres Bettchens hochzuziehen, am 15. Mai lugt das linke untere Schneidezähnchen mit seiner Schneidefläche hervor, vom Rechten sieht man die Spitze. Ich habe das Gefühl, ich kann es versuchen, ihr von jetzt an ruhig mal ein in kleine Bissen geschnittenes Butterbrot anzubieten. Wir kaufen ein Hochstühlchen, sie kann frei und fest sitzen, so kann man es einrichten, dass Henny bei verschiedenen Mahlzeiten mit bei uns am Tisch sitzt. Man sieht, wie ihr das ausnehmend gut gefällt, ... für ihren Opa ist dieser Umstand eine Sensation. Den ersten Brotbissen pickt sie mit ihrem Fingerchen auf, hält ihn hoch und sagt: „äh!“, es ist lustig für uns alle. Sie isst nun abwechselnd an einem Abend Brot und am anderen ihren Milchbrei. Wenn ich mit ihr mit dem Kinderwagen unterwegs bin, sitzt sie auch schon eine ganze Weile und bestaunt mit weit aufgerissenen Augen ihre Umwelt, ein Juchzen und Grunzen verleiht der Sache einen wohligen Ausdruck.

Mitte Mai 1973 kommt die Mitteilung vom Wohnungsamt, dass für uns eine Wohnung in Aussicht wäre. Einerseits freue ich mich darüber, aber auf der anderen Seite gerate ich damit in einen Gewissenskonflikt. Sicher ist es auf die Dauer keine Lösung, ... zwei Familien in einer Wohnung mit eben nur einem Bad, abwaschen kann ich in meiner „Verandaküche“ auch nicht. Wenn Johann und ich ausziehen, müssen meine Eltern ebenfalls umziehen, die jetzige Wohnung ist für meine Eltern allein zu groß. Wenn Johann und ich in der Wohnung bleiben und nur meine Eltern ausziehen, dann sieht es so aus, als sollen meine Eltern hinausgedrängt werden. Ich denke nach, weiß nicht wie es richtig ist. Klar, ein eigener vollständiger Haushalt, ... das ist schön, aber es tut mir leid wenn meine Eltern wegen uns umziehen müssen. Es tut mir besonders leid wegen Henny, meine Eltern können sie dann nicht mehr so oft sehen, mittlerer Weile ist Henny etwas besonderes für die Beiden geworden, vor allem mein Papa, ... seine Püppi soll dann nicht mehr jeden Tag um ihn herum sein dürfen. Ich grübele noch immer darüber nach, als dann im Juni der endgültige Umzugsbescheid vorliegt , ... für uns am 1. August, … für meine Eltern am 1. September 1973. Zudem kommt, dass Johann wieder innerbetrieblich außerhalb zum Arbeiten fahren muss für drei Wochen, diesmal nach Bellenhausen. So richtig gefällt mir das alles nicht, ich meine zu Johann: „Wollen wir nicht doch noch ein wenig bei meinen Eltern wohnen bleiben?, es wird allerhand auf uns zukommen, wir werden kein Bad mehr haben, ... renovieren müssen wir sicher auch“. Er sagt: „Ach, was, das wird schon, ... ewig können wir doch nicht bei Deinen Eltern wohnen bleiben, wir werden ihnen mit der Zeit auf die Nerven gehen“. „Ja, das stimmt schon, ... vielleicht hast Du recht, irgendwann müssen wir selber einen Haushalt haben, … aber ich weiß nicht, ob das gerade jetzt richtig ist, sie haben sich gewöhnt an Henny, die Kleine ist gut für sie, überhaupt nachdem Hagen nicht mehr bei uns ist“. „Ja, ... aber wir sind doch nicht aus der Welt und wer weiß schon, wann wir die nächste Wohnung angeboten bekommen, … die meisten der Wohnungen sind halt noch ohne Bad, … das weißt Du doch selber alles“. Also ordne ich mich unter, ich unterzeichne die Wohnungszuweisung hier in der gleichen Straße, ein paar Häuser weiter nach oben, meine Eltern erhalten eine Zuweisung im Neubauviertel, da gibt es bereits Bäder in den Wohnungen.

Der Juni und Juli sind in dem Jahr sehr warm und schön, ich bin mit Henny viel am Steiger im Garten, ... leider immer ohne Johann. An einem heißen Julitag habe ich nachmittags einen Termin beim Frauenarzt, meine Vermutung, wieder schwanger zu sein bestätigt sich. Diesmal geht es mir nicht so gut wie bei Henny. Schon wenn ich die Zahnbürste in den Mund bekomme, fange ich gleich an zu würgen, ... das hatte ich zwar bei Henny auch hin und wieder, aber ansonsten fehlte mir rein gar nichts. Ich behalte das Ergebnis der Untersuchung zunächst für mich, sage auch Johann noch nichts. Der Umzug rückt näher, ein unerklärliches Unbehagen beschleicht mich, ich schiebe es dann schließlich auf meinen Umstand. Es ist ein ganz eigenartiges Gefühl als meine Mutter sagt: „Na, ... nun trennen sich unsere Wege, …“. Mein Papa klopft mir auf die Schulter, sagt nichts, Johann geht erst mal in die Gaststätte ein Stück weiter oberhalb in unserer Straße, Henny schläft und ich heule eine Runde.

Die Wohnung die wir am 1. August betreten ist in einem sehr schlechten, fast jämmerlichen Zustand, es muss entschieden werden, was nach unseren finanziellen Möglichkeiten unbedingt zuerst gemacht werden muss. Wir beginnen die Wohnung der Reihe nach ganz genau durch zu forsten. Sie liegt im Erdgeschoss, der Korridor ist dunkel, hat einen klein gemusterten Steinfußboden. In den Wohnbereich führt eine relativ große Tür mit zwei Milchglasscheiben. Jetzt, wo die Vormieter die Wohnung geräumt haben sieht man es richtig, es muss alles, aber auch alles von Grund auf renoviert werden. Vom Flur aus kommt man links ins Schlafzimmer, ohne Ofen, also nicht heizbar, ebenfalls links eine Tür weiter gelangt man in die Stube mit Kachelofen. Rechts ist eine geräumige Küche, von da aus schließt sich das Kinderzimmer mit einem kleinen Ofen an. In der Küche ist ein Gas, - Kohle - Herd. Geradeaus der Eingangswohnungstür befindet sich eine kleine Kammer mit Fensterchen zum Kinderzimmer. Wohn - und Schlafzimmer zeigen zur Straße, Küche und Kinderzimmer weisen zum Hof. Das Klo ist eine Treppe tiefer, höchstens einen knappen Meter breit und gerade mal anderthalb Meter lang, ... ein Plumpsklo. Vor dessen Tür erreicht man gleich links den Hof und gegenüber ist eine Tür, die in den Keller führt, über eine hohe steile Treppe und einen langen etwas gruseligen Gang findet man unseren Keller. Licht gibt es in dieser einmalig tollen „Toilettenanlage“ auch nicht, in der dunklen Zeit muss man eine Kerze aufstellen oder eine Taschenlampe mitnehmen, die Frage nach einer Heizung erübrigt sich. Zuerst stellen wir Hennys Bettchen auf, damit sie ihre Ordnung hat. Die Woche Urlaub, die jeder von uns hat ist schnell vorbei. In der Küche müssen die Wasserleitungen erneuert werden, dann haben wir sämtliche Fenster gestrichen, alle Räume tapeziert, es wird ein neuer Küchentisch, Küchenstühle und ein Fernseher gekauft, dann ist das Geld erst mal alle. Henny macht indessen große Fortschritte, sechs Zähnchen hat sie, steht in ihrem Bettchen alleine auf, rennt an den Gitterstäben hin und her, macht bitte bitte indem ihre Händchen ganz schnell richtig zusammenfliegen.

„Es ist aber wirklich nicht so schön mit der Toilette, ... jetzt geht es gerade noch, aber dann nachher im Winter, ... es wird unangenehm werden“, sage ich an einem Abend zu Johann. Er antwortet nur: „Na egal, das ist halt so“. Es kommt mir so vor, als ob ihn eigentlich alles herzlich wenig interessiert. Was ich auch sage oder frage, die Antwort ist so gut wie immer die gleiche: „Ach das ist doch egal“. Ich frage ihn: „Was soll ich kochen am Wochenende?, was möchtest Du essen?“. Die Antwort lautet: „Das ist mir egal“. Ich frage: „Welche Farbe soll ich für die Gardinen nehmen?“. Antwort: „Das musst Du wissen, ... das ist doch egal“. Ich frage: „Du Johann ich wollte am Wochenende mit den Eltern zum Garten fahren, … aber können wir nicht zusammen auch einmal spazieren gehen?“. Antwort: „ Ach, ist mir egal“, etc. pp. Manchmal denke ich, wenn ich sagen würde: „Ich werde gehen, ich fühle mich nicht besonders gut bei Dir aufgehoben, …“ , ... ob er dann wohl auch noch sagt: „Ist mir egal“. Es enttäuscht und frustriert mich, … was soll das noch werden?, wie wird es weitergehen, ich hoffe wenigstens eine freudige Antwort zu bekommen, als ich ihm sage, dass ich beim Arzt war und wir noch ein Baby bekommen werden. Er reagiert darauf als ob ich gerade zu ihm gesagt habe: Du, Johann, ich gehe morgen Früh Brötchen holen. Er sagt zwar nicht: ist mir egal, aber mehr als ein: „Na, .. ist doch schön“, äußert er dennoch nicht. Ich fühle mich wie vor den Kopf gestoßen, ich habe mir seine Reaktion anders vorgestellt. - Ich möchte einen Mann haben, der so ist wie mein Papa, ... der sich darum kümmert, was eine Frau vielleicht nicht so kann, der von alleine sieht, was anliegt, ... zumindest aber danach fragt, ... der sich um amtliche Belange sorgt, ich vermisse das Interesse an der Familie, gemeinsame Erlebnisse in der Freizeit. Ich sage nichts, gehe nur oft und traurig allein zu Bett, ... aber ich habe wie bei Henny niemals nur ein einziges Mal den Gedanken gehegt, das Kind nicht austragen zu wollen. Es geht mir in dieser Schwangerschaft sehr schlecht. Mir ist fast nur übel, ... der Geruch des Busses löst bereits Würgegefühle aus, jeden Morgen, wenn ich mit Henny zur Krippe fahre, die im Neubauviertel ist, bin ich froh, wenn ich endlich aussteigen kann, ... ich habe regelmäßig Angst den Bus „voll zu kötern“. Wenn ich beim Fleischer anstehe ist es ein ähnliches Problem, ... fast alle Gerüche bringen mich zum Würgen. Die Arbeit im Haushalt fällt mir schwer, ich habe noch keine Waschmaschine, der Fernseher war wichtiger für Johann. Ich muss per Hand rumpeln, egal ob es Hennys Windeln sind oder Johanns stark verdreckte Arbeitswäsche, ... es ist eine Schinderei, ... wirklich. Johann hat keine Möglichkeit im Betrieb zu essen, ... so sagt er jedenfalls, also koche ich jeden Abend etwas warmes. Ich halte alles für selbstverständlich weil ich verheiratet bin, er sicher auch, ... er fragt nicht ein einziges mal wie es mir geht, ein Lob kommt schon gar nicht herüber. Ich hätte mich gefreut, wenn ich einmal gehört hätte: Wie geht es dir denn?, ... wie fühlst du dich?, ... oder: es hat gut geschmeckt, ... aufmunternd ist das nun alles nicht gerade. Dumm wie ich bin sage ich auch nichts. Wenn meine Eltern fragen: „Na, junge Frau, … alles in Ordnung?, ... kommt Ihr zurecht?“, es lautet meine Antwort immer: „Ja, natürlich, … alles paletti“. Johann sieht viel fern, er schmeißt sich nach dem Abendessen gleich in den Stubensessel. Manchmal weine ich, wenn ich im Bett liege, ich möchte so gern, dass alles anders ist, aber ich kann mich Johann gegenüber nicht erklären. Ich glaube schließlich, vielleicht muss doch alles so sein wie es ist, ... das alles so normal ist und nur mein Papa eine Ausnahme darstellt. Meinen Eltern etwas zu sagen bin ich zu feige, ich komme weder vor noch zurück, weiß am Ende selber nicht mehr was richtig ist und was nicht, es geht alles weiter wie gehabt.

Am 19. August 1973 kann ich fühlen, wie neues Leben sich in mir bewegt, Henny feiert am 27. August ihren ersten Geburtstag im Kreise von uns allen, ... nur einer fehlt: Hagen. Besonders ihr Opa ist nur herum um seine Püppi, ich fühle, dass es für meine Eltern nicht so schön ist, weil die Kleine nicht mehr so viel bei ihnen sein kann. Am 1. September ziehen meine Eltern in ihre neue Wohnung ins Neubauviertel, da wo auch die Kinderkrippe ist, so ist Gelegenheit, am Nachmittag hin und wieder bei ihnen vorbeizuschauen. Meine Mutter erzählt mir, dass mein Papa immer sagt: „Na, ob die Püppi heute noch vorbeischaut?“. -

Am 24. September feiern wir den 50. Geburtstag meiner Mama, alle sind da, sogar Johann ist mit dabei, Gerda und Erich natürlich auch. Am Abend wird es später, ich achte immer darauf, dass die Kleine pünktlich ins Bettchen kommt, darum schläft sie in dieser Nacht zur besonderen Freude ihres Großvaters bei meinen Eltern. Mittlerer Weile wissen auch beide Großeltern, Henny wird voraussichtlich am 31. Januar 1974 ein kleines Geschwisterchen bekommen.

Seit wir von meinen Eltern weggezogen sind, eine eigene Wohnung haben, kommt die Gerda so gut wie jeden Tag gerannt um zu sehen, ob ich auch alles richtig mache. Sie schaut in die Windeleimer und in die Kochtöpfe, findet fast jedes mal irgendwo etwas auszusetzen. - Im Oktober bessert sich meine Lage dahingehend, weil ich die Waschmaschine meiner Eltern bekomme, sie haben sich eine neue gekauft, eine `Schwarzenberg `. Ich bin mehr als nur froh, diese alte `Perex ` zu haben, auch wenn sie durch die Waschspindel bei jedem Waschgang alle Bändchen aus Hennys Jüpchen zieht. Ich bessere es gerne aus, die elende Quälerei mit der Waschrumpel ist endlich vorbei, auch für Johanns Arbeitsklamotten ist diese Waschmaschine jetzt ein Segen.

Am 28. Oktober läuft die kleine Henny das erste Mal von einem zum anderen, ... ein Triumph für ihren Opa, den sie bei ihrem ersten „Alleingang“ von der Oma aus angesteuert hat. Sie gibt ein freudiges Aufjuchzen von sich, als sie von ihrem Opa aufgefangen wird, der immer wieder: „Na prima, … noch einmal, noch einmal!“, ruft.- Sie isst ihr Brot sehr schön allein, trinkt aus der Tasse und ist tagsüber sauber. Meine Schwangerschaft macht mir weiterhin sehr zu schaffen, dazu kommt, dass es schrecklich ist, diese tolle Toilette aufzusuchen, dort wird es langsam recht kalt.

Für mich schön, für meine Eltern weniger ist nun ein Krippenplatz in unserer Wohnungsnähe, es ist nur eine Querstraße weiter von unserer Wohnung aus gesehen. Es ist bedeutend einfacher für mich mit dem nunmehr schon ziemlich runden Bauch. Es ist jetzt nicht mehr lange hin bis zu meinem Schwangerenurlaub, ich nehme mir vor, nur wenig von dem Krippenplatz Gebrauch zu machen, damit Henny viel zu Hause sein kann. Stundenweise muss ich sie aber dorthin geben damit mir der Platz nicht verloren geht und ich zudem ja dann irgendwann einen zweiten brauche, wenn ich nach dem neuen Baby wieder arbeiten gehe. Ich hoffe, dass alles so klappt, ich möchte schon zusehen zukünftig in meinem erlernten Beruf arbeiten zu können.

Nun kann ich schon mit der Kleinen gemeinsam baden, in der Küche, ... ähnlich wie zu meiner Kinderzeit in Lescha. Eine Zinkbadewanne wird mit warmen Wasser gefüllt und anschließend ausgeschöpft, mein dicker Bauch ist mir bei diesen Handhabungen sehr im Weg, es ist recht anstrengend für mich, ... aber was soll ich denn machen?. Johann zieht es vor, bei Gerda und Erich zu baden, seit kurzem haben sie ebenfalls eine sanierte Neubauwohnung mit Badewanne.

Im November wird Henny sehr krank, sie hat eine Lungenentzündung, sie muss ins Krankenhaus und ich mache mir große Sorgen, ich gehe jeden Tag hin. Allerdings darf ich nur durch eine Scheibe schauen, damit sie mich nicht sieht. Zu der Zeit herrscht noch striktes Besucherverbot für Kinderstationen mit Kleinkindern damit sie sich nicht aufregen sollen. Ich mache mir so viel Gedanken wegen meinem Kindchen dass ich Wehen bekomme, selber im Krankenhaus lande und zwei Wochen ausharren muss, größtenteils am Tropf dabei liege. Als ich entlassen werde kann ich auch Henny wieder mit nach Hause nehmen, leider hat sie durch den Krankenhausaufenthalt viel verlernt, es hat sie sehr zurückgeworfen. Mit vielen Dingen muss ich von vorn anfangen, sie kann nicht mehr aus der Tasse trinken, auch mit dem Töpfchen klappt es nicht mehr so gut und sie kann auch nicht mehr alleine laufen, aber es wird schon wieder werden, Hauptsache sie ist wieder gesund und ihr Therapeut, ihr Opa, kommt jeden Tag gemeinsam mit der Oma um nach ihr zu sehen. Mir fällt jeder Tag schwerer, nach meinem Aufenthalt im Krankenhaus werde ich bis zu meinem Antritt des Schwangerenurlaubs krank geschrieben, es geht mir sehr mies. Anfang Dezember wird es richtig Winter, wir bekommen Schnee, es ist mächtig kalt und der Gang zur Toilette wird für mich zur Qual, das Baby drückt mittlerer Weile auf die Blase, ich muss wohl oder übel öfter gehen, ... auch nachts. Es ist nicht nur schweinekalt, man kann unmöglich nur mit Nachthemd bekleidet, und nicht ohne dicke Strümpfe hinausgehen, ... es bleibt nichts anderes übrig, als sich vollständig anzuziehen bei der Kälte. Es ist zudem noch stockdunkel auf dem kleinen Donnerbalken, das Licht im Hausflur ist spärlich, ohne Taschenlampe geht nichts, oft sind die Kerzen, die ich aufgestellt habe entweder abgebrannt oder ausgegangen weil es jämmerlich zieht. Johann kommt nicht auf die Idee, nachzusehen, ob wenigstens noch eine einzelne Kerze brennt, ich kann nicht beschreiben wie sehr ich das warme Badezimmer in der elterlichen Wohnung vermisse. Henny weiß zum Glück noch nichts davon, sie kreischt in der warmen Küche vergnügt auf ihrem Töpfchen.-

„Wo bitte gehst Du denn noch hin?“, möchte ich gern wissen als ich sehe dass Johann sich anzieht. „Ich gehe nach Gerd, ... Skat spielen“, antwortet er. Ich sage nichts dazu, dass er jedes Wochenende unterwegs ist, äußere aber die Bitte: „Johann mit mir ist zwar im Moment nicht viel anzufangen, aber ich würde trotz alledem gern mit Dir zusammensitzen“. „Ich habe schon zugesagt!“, gibt er knapp zurück, „Kohlen sind genug da, ... falls Du nochmal nachlegen willst!“, sagt er im Gehen. Die Tür fällt ins Schloss und ich sitze wieder allein noch immer in der Küche, ich sehe nach Henny, die ganz ruhig und zufrieden in ihrem Bettchen liegt und schläft. Ich habe sie in einen Schlafsack gesteckt, sie strampelt sich immer auf, ich richte die kleine Zudecke, lege noch einmal im Kinderzimmer zwei Kohlen nach. Ich mache mir einen Tee, sitze allein am Küchentisch, durch eine umgeschlagene Ecke der Gardine sehe ich große, dichte Schneeflocken durch die Luft wirbeln. Eine schier unscheinbare Beleuchtung, die aus einem anderen Fenster in den Hofbereich fällt machen sie besonders gut sichtbar. Bald schon werden wir Weihnachten haben, ich stehe auf, mache die Heizdecke in meinem Bett an, es ist fürchterlich kalt im Schlafzimmer, mit der Heizdecke geht es, trotzdem sehne ich mich nach ein bisschen Wärme.-

Zu Weihnachten sind wir an Heilig Abend bei meinen Eltern, mein Vater holt uns ab, wir bleiben über Nacht bis zum ersten Feiertag. Ich genieße es förmlich, einmal auf eine trockene und warme Toilette gehen zu können. Meine Mutti hat wie immer Karpfen zubereitet, lecker wie wir es kennen, es ärgert mich ein wenig, denn Johann bekommt eine „Extrawurst“, ... ein Schnitzel, weil er keinen Karpfen essen will. Ansonsten ist das Weihnachtsfest nun schon das zweite ohne meinen Bruder und sehr ruhig. Meine Eltern freuen sich über die Kleine, ich habe „Pause“, wenn ich so sagen darf. Mein Papa sitzt mit der Püppi in der Wanne, sie freut sich wie ein kleiner König und erhebt lauthals Protestgeschrei als meine Mama kommt und den Spaß leider irgendwann beenden muss, weil es Abendessen gibt. Am zweiten Feiertag fährt uns mein Papa nach Hause, wir sind bei Gerda und Erich eingeladen. Zu Silvester ist ebenfalls alles sehr still, Mama und Papa bleiben noch nach dem Abendessen bei uns bis zum Feuerwerk, auch Gerda und Erich sind gekommen. Wir haben alle zusammen gegessen, nach dem Anstoßen auf ein neues Jahr 1974 gehen Erich und Gerda nach Hause, meine Eltern fahren zurück nach Jenndorf, dem Neubauviertel, in dem sie ja nun seit September wohnen. Nachdem sich alle verabschiedet haben gehe auch ich zu Bett, es war schon ein wenig anstrengend, Johann sitzt noch vor dem Fernseher. Während noch ab und zu eine Rakete durch die Nacht zischt denke ich an meine Eltern, ... an früher, ... an Zeiten als es noch Hagen gibt. Da wo Hagen war ist noch immer ein großes schwarzes Loch, ... es wird nie ganz verschwinden glaube ich. -

Der Winter 1974 hat Ausdauer, ... einen langen Atem, wie man sagt, der Januar ist kalt, es schneit mal mehr, mal weniger. Ich stehe in der Nacht auf, nicht nur weil ich mich auf diese scheußliche Toilette quälen muss, wo man sich vor Kälte kaum traut die Hose herunter zu ziehen, sondern ich nutze diese Tatsache aus, um in der Küche Kohlen nachzulegen, damit das Feuer nicht ausgeht. Mit der Zeit bin ich so unbeweglich geworden, dass jeder Handgriff für mich Schwerstarbeit ist. Der Januar neigt sich dem Ende, ich warte darauf, ... ich hoffe es rührt sich bei mir endlich etwas, ich sehne den Geburtstermin herbei, obwohl ich gleichzeitig auch Schiss davor habe, wenn ich mir die erste Entbindung ins Gedächtnis zurückrufe. Wir haben bereits Anfang Februar, immer noch sehr kalt, immer noch Schnee, aber bei mir tut sich noch immer nichts. Ich habe nochmal einen Termin bei der Schwangerenberatung, es ist alles in Ordnung, man meint aber, dass, wenn nicht spätestens am 13. Februar das Baby da ist, die Geburt eingeleitet werden soll. Ich warte von nun an jeden Tag und jede Nacht darauf, im Kreißsaal antreten zu müssen. Ich weiß nicht, ob es sich lohnt noch eine größere Arbeit anzufangen oder nicht. Ich wage es auch nicht zu meinen Eltern zu fahren, sie kommen jeden Tag vorbei um nach mir zu sehen, manchmal wackele ich auch bis zur Telefonzelle, um mich zu melden und um ein wenig an der Luft zu sein. Henny ist bei mir zu Hause, bis auf zwei Vormittage in der Woche damit sie nicht ganz von den Kindern entwöhnt wird und mir der Platz erhalten bleibt. Aber ihr ist der " sparsame " Aufenthalt in der Krippe nicht unangenehm, sie ist viel lieber bei Opa und Oma,.. oder eben bei mir. Es geht ihr so wie bei mir damals, ... ich mochte auch keine Krippen, bzw. Kindergartentanten. Johann sagt jeden Tag das gleiche wenn er kommt: „Bist ja immer noch da“, geht aber trotzdem dann noch weg, auch an den Wochenenden, immer zum sogenannten Stammtisch in der Kneipe am oberen Ende der Straße. Ich habe manchmal ein Empfinden des Verlassenseins, ich würde mich mit meinem Bauch, der droht jeden Moment zu platzen, viel sicherer fühlen, wenn noch jemand da wäre, besonders am Abend. Es ist dunkel draußen und glatt, der Weg bis zur Telefonzelle, wenn es sich erforderlich machen sollte, auf Grund dessen ist auch nicht ungefährlich, ... anders als am Tag.-

Am 11. Februar geht es mir ganz mies, nur mit äußerster Kraft des Zusammenreißens schaffe ich es, etwas zu kochen und die Kleine zu versorgen. Ich habe ein komisches Gefühl, ziehe Henny an, wir gehen zur Telefonzelle, ich möchte meine Eltern anrufen, die kommen wollen, wenn ich mich am 13. Februar im Krankenhaus einfinden soll, damit das Baby geholt wird. Meine Mama ist am Telefon: „Ja, ... na was ist denn? , ist alles in Ordnung?“. „Mutti, ich rufe an wegen Henny, mir ist so eigenartig heute, ... ich wollte fragen ob der Papa die Kleine vielleicht schon heute abholen kann", erkundige ich mich. „Ja, sicher, wenn der Opa kommt, sage ich es ihm, dann fährt er gleich los, geh` nach Hause und lege Dich ein wenig hin, ... also bis dann, wir sehen uns, ich komme auch mit!“. „Ja, ist gut Mutti, ... bis nachher!“. Zu Hause packe ich ein paar Sachen für Henny zurecht, stelle sie bereit, es dauert nicht lange, als meine Eltern kommen um Henny abzuholen, die sich natürlich sehr freut mitfahren zu können. Ich lege mich ein bisschen hin, gegen aller Gewohnheiten lasse ich den Abwasch einmal stehen, ich mache das nie, jetzt schon gar nicht, weil ich immer denke, wenn du ins Krankenhaus musst, dann steht alles herum, das wäre mir unangenehm. Ich bin aber irgendwie so kaputt, dass ich doch alles stehen lasse, vielleicht ist es morgen besser, dann kannst du es fertig machen bevor du dich im Krankenhaus einfinden sollst, denke ich. So mache ich es auch, aber dann bekomme ich gegen 23.00 Uhr Wehen, nun kenne ich das alles noch vom letzten Mal. Johann sitzt vor dem Fernseher, ich bitte ihn zur Telefonzelle zu gehen, um den Krankenwagen zu rufen. Ich schnappe meine Tasche, die ich auch diesmal lange vorher bereits gepackt habe. Irgendeine Nachbarin ist noch auf der Straße, sieht den Krankenwagen und meine Tasche, sie ruft mir zu: „Na, geht es jetzt endlich los?, ... dann wünsche ich Ihnen alles Gute!“. Im Krankenhaus angekommen, werde ich gleich in den Kreißsaal gebracht, leider geht die ältere Hebamme, die ich von Henny her noch kenne gerade von ihrer Schicht nach Hause, sie erinnert sich an mich, fragt scherzend: „Na, kommt der nächste Quirl?“, schüttelt mir die Hand und wünscht ebenfalls Glück. Dann läuft alles in bekannter Weise ab, „Gesellschaft“ habe ich auch wieder, ich bin nicht allein im Kreißsaal. Ich kämpfe die ganze Nacht hindurch, ... endlich, am 12. Februar 1974, um 10.40 Uhr wird unser Sohn Marcel geboren, 3850gr., 52 cm groß. Diesmal habe ich kaum Hunger, obwohl ich am Vortag auch nicht gerade viel gegessen habe, aber Blutwurst gab es diesmal keine!. Wieder kann ich nicht sitzen, wieder ist nur ein Hängen auf der Stuhl oder Bettkante möglich, nachdem ich auch diesmal das Vergnügen habe, geschnitten und genäht worden zu sein. Wieder kommen alle auf Besuch, wieder gratulieren alle, ich bleibe elf Tage im Krankenhaus, dann endlich fällt die Nabelschnur ab, zu DDR - Zeiten muss man im Krankenhaus verweilen bis eben die Nabelschnur abgefallen ist. Es geht seinen weiteren Gang, wie beim letzten Mal, ... aber mit dem Start einer Überraschung zu Hause. Als ich aus der Klinik entlassen werde ist Johann nicht da, ich werde mit dem Krankenwagen nach Hause gefahren. Das ist ja auch keine Tragik weiter, aber er weiß durchaus, wann ich aus dem Krankenhaus komme, die Gerda hat es ihm gesagt, sie ist am Vortag meiner Entlassung noch zu Besuch gewesen. Jedenfalls bin ich enttäuscht, als ich mit dem Baby auf dem Arm nach Hause komme, ist die Wohnung eisekalt, nicht aufgeräumt und niemand ist da. Es steht sogar der Abwasch noch genauso herum, wie ich ihn vor elf Tagen verlassen musste. Zum Glück kann man sagen, ist Henny noch bei meinen Eltern und kommt erst am nächsten Tag zurück. Also versorge ich erst mal das Baby im Eilzugtempo damit es sich nicht erkältet, ist ja alles jämmerlich ausgekühlt hier. Dann mache ich mich umgehend daran und versuche so schnell es geht die Wohnung warm zu bekommen, ... Kohlen sind natürlich auch keine da, die muss ich erst aus dem Keller herauf holen. Johann kann mehrere Tage nicht in der Wohnung gewesen sein, anders ist es nicht möglich. Ich setze die Wäsche an, fange an aufzuräumen und sauber zu machen. Zwischendurch stille ich Marcel, lege ihn nach dem Wickeln in sein Körbchen, als er schläft ziehe ich mich an, ich muss etwas einkaufen, es ist nichts im Haus. Ich möchte Marcel nicht gleich am ersten Tag nach der Entlassung mit nach draußen nehmen. Während des Einkaufens rufe ich fix noch bei meinen Eltern an, sage ihnen dass ich entlassen bin, frage nach Henny und vereinbare, dass sie erst am nächsten Tag gebracht wird und lade meine Eltern am kommenden Wochenende zum Kaffee ein. Gegen Abend, noch bevor Johann von der Arbeit kommt habe ich bereits Besuch in Form einer Kontrollfunktion von Gerda. Sie schaut sich um und bombardiert mich gleich mit Vorschriften, stellt mich so hin, als ob von nichts eine Ahnung habe. Ich nehme gerne einen Rat an, ... auch heute noch, aber mich so hinzustellen, als sei ich blöd, das finde ich doch übertrieben. „Du musst das Wasser von der weißen Wäsche noch für Johanns Arbeitssachen zum einweichen nehmen“, meint sie und glaubt, ich habe noch nie etwas davon gehört, sie hebt einen Topfdeckel, um mir zu sagen: „ Die gekochten Kartoffeln darfst Du aber nicht so lange auf dem Herd stehen lassen“. Sie geht ins Kinderzimmer und ist der Meinung, dass ich die Asche vor dem Ofen immer gleich aufzukehren habe. Ich hingegen habe keinen Bock zu antworten, reiße mich zusammen und sage: „Ja, ... ist gut“, obwohl ich lieber geantwortet hätte, dass der Johann schon ein wenig Feuer hätte machen können und zumindest das Geschirr abwaschen, was ich notgedrungen habe stehen lassen müssen. Kurz nachdem sie gegangen ist, kommt auch Johann nach Hause, ich habe erwartet und gehofft wenigstens einmal in den Arm genommen zu werden. Er tut es nicht, geht aber wenigstens ins Kinderzimmer und fragt dann: „Ist Henny noch nicht da?“, er schaut dabei in Marcels Körbchen. „Nein, Henny kommt erst morgen, ich musste ja erst mal sehen, dass hier alles wenigstens einigermaßen in Ordnung gebracht wird, kalt war es auch, nicht einmal Kohlen waren heraufgeholt, ... ich hab schon gedacht, Du machst wenigstens heute am Morgen bevor Du zur Arbeit gehst Feuer, ... und der Abwasch stand auch noch so da, wie ich ihn habe stehen lassen müssen“, endlich sagte ich einmal etwas. Er geht zurück in die Küche, sieht in die Töpfe und meint: „Ich hätte das schon gemacht, ... ich weiß doch nicht, dass Du heute nach Hause kommst“. „Doch, ... die Tante Gerda hat Dir gestern gesagt, ich werde entlassen, sie war ja noch bei mir im Krankenhaus, außerdem sah es hier so aus, als wärst Du längere Zeit nicht in der Wohnung gewesen, es war bitterkalt hier und ist ja noch immer nicht richtig warm wie Du siehst“, widerspreche ich. „Ich war die paar Tage die Du nicht da warst bei der Tante, ... die Tante hat vorhin gesagt, dass Du zu Hause bist“, ... meint er. Ich sage: „Schön ist es ja nun nicht gerade mit einem Säugling in eine kalte und schmuddelige Bude zu kommen, ... zu mir hat die Gerda gesagt, Du weißt wann ich entlassen werde, ... spätestens dann hättest Du hier heizen und ein wenig Ordnung machen können, ... oder etwa nicht?“. Er antwortet: „Na, ja, wenn die Tante es mir gesagt hat, ... dann habe ich es halt vergessen".

Der März kommt und Henny rennt im wahrsten Sinne des Wortes durch die „Kante“. Wenn jemand nach dem Baby fragt, hält sie ihr Zeigefingerchen vor den Mund und macht „pst“. Kaum habe ich sie auf den Topf gesetzt, springt sie wieder auf und ruft: „Ei, ... Guti, ... Guti, ... mal gucken sehen!“, ... meist berechtigter Weise. Wenn sie einen Waschlappen sieht, einen Eimer oder auch eine Schüssel sagt sie gleich „wasch, wasch“, dann macht sie sauber, ... erst den Fußboden, dann die Möbel und zum Schluss sich selber. Sie kreischt fürchterlich, wenn ich ihr den Lappen wegnehmen will. Außerdem macht sie mit jedem Gegenstand ` baumel baumel `, sie sagt `gaum, gaum `dazu. Nach langer „Dedektivarbeit“ finde ich heraus, dass Babita Bett heißt. Ganz verrückt ist sie nach dem Radio „Gik an“, sagt sie und macht dazu tanze tanze. Mit Vorliebe macht sie überall „sitz“, deshalb habe ich ihr außer der kleinen Bank die sie besitzt ein Minisofa aus Matratzen im Kinderzimmer zusammengebastelt. Gibt sie jemanden etwas sagt sie, als ob sie bereits Russischkenntnisse hätte, „dai“. Sie kann alle Körperteile zeigen, manche auch benennen, am meisten scheint sie Gefallen an den Augen zu finden. Henny sagt dann „Auge", zeigt es bei sich, dann bei mir oder bei dem, den sie gerade vor sich hat. Man muss direkt aufpassen, damit sie mit ihrem kleinen spitzen Fingerchen nicht bis in das Auge hineinbohrt, ... eigentümlicher Weise tut sie das „ Auge zeigen " vorzugsweise beim essen. Jedes mal wenn es an der Tür klingelt ruft sie begeistert: „ … Popa, ... Omma, … tommt denn setz,?!“. Wenn sich ihre Erwartung erfüllt, hüpft sie auf und nieder, es sieht immer aus, als ob sie ganz schnell Kniebeuge machen würde. -

Die Küche muss noch einmal in Angriff genommen werden, die eine Wandecke neben und unter dem Küchenfenster links muss heraus gehackt werden, es ist nass, das gleiche im Kinderzimmer. Als es fertig verputzt und trocken ist, habe ich eine schöne Tapete erstanden, trotzdem muss ein erneuter Wohnungsantrag gestellt werden, ewig ohne Bad und dieses Plumpsklo, das ist kein Dauerzustand. Ich nehme mir vor, mit Johann darüber zu sprechen, ob man nicht gleich noch den Flur vornehmen sollte, heller wäre besser, es würde sowieso eine geraume Zeit dauern, bis eine andere Wohnung in Aussicht ist. Im Schlafzimmer wären zudem noch zwei Steckdosen gut. Einmal als Johann von der Arbeit kommt bin ich gerade dabei, neue Gardinen für das Kinderzimmer zu nähen, noch immer mit der Hand. Sie haben ein fröhliches Blumenmuster. „Jaaaa, ... ist egal, können wir so machen“, ist die Antwort auf die gerade eben genannten „Neurervorschläge“.

Ende März sind wir alle krank, ... erkältet, auch Johann ist ein paar Tage zu Hause. Ich schlafe bei den Kindern im Zimmer auf einer Matratze, ich habe ein paar Nächte kein Auge zugemacht und bin anschließend ganz schön grocky. Johann geht es bald besser, bereits am Sonntagvormittag ist er wieder in die Kneipe zum Frühschoppen gegangen, wie immer, ... jeden Freitag Stammtisch und am Sonntag Frühschoppen. Ich bin mit den Kindern vollauf beschäftigt, wage keine Gedanken an so etwas zu verschwenden, ein wenig Abwechslung würde ich natürlich auch gerne haben. In Johann habe ich keine Hilfe, wenn er auch einmal mit zugreifen würde, wäre bestimmt ein wenig gemeinsame Zeit übrig, aber er nimmt sich seine freie Zeit für sich, verbringt sie mit Karten spielen in der Skatrunde. Ich warte darauf, dass er einmal fragt: Was gibt es neues, … oder wie war dein Tag heute?, ganz zu schweigen von der Frage: Kann ich dir irgendetwas helfen?. Ich kann mich noch, wie als wäre es gestern gewesen, an einen Sonntag im März 1974 erinnern. Er holt Holz und Kohlen, was er zu der Zeit wenigstens noch ab und an erledigt, macht im Stubenofen Feuer. In der Küche und im Kinderzimmer habe ich bereits Feuer gemacht, ... durch die Kinder bin ich schon früh am Morgen in Gange. Mittags soll es Rouladen geben, sie sind schon fast gar, ich bin dabei das Rotkraut fertig zu stellen, wie immer frisch versteht sich, an etwas fertig gekauftes denkt niemand zu dieser Zeit, schon weil es kaum einmal zu bekommen ist. Es ist etwa halb zehn, als er fertig angezogen in der Tür erscheint um zu sagen: „Also tschüss, ich geh` dann mal los“. Es ist ein Tag, an dem ich wie so oft nicht weiß, was ich zuerst machen soll. Henny sitzt auf ihrem Topf und zerkrümelt voller Wonne ein restliches Stückchen Weißbrot, was sie noch schnell vom unvollständig abgeräumten Frühstückstisch angeln konnte. Der Abwasch grinst mir entgegen, ein Topf mit Windeln kocht auf dem Herd, das muss noch fertig werden bevor ich das Rotkraut aufsetzen kann. Die Soße für die Rouladen muss noch gemacht werden. Marcel „klagt“ seine 10.00 Uhr - Mahlzeit ein, hat sicher zusätzlich die Hosen voll, ... und Kartoffeln für die Klöße sind auch noch nicht geschält. Der Teppich in der Stube und im Kinderzimmer würde sich freuen, wenn er abgesaugt würde. Ich zerre den Windeltopf doch erst mal zur Seite, stelle das Rotkraut zu, nehme Henny vom Töpfchen die aufgesprungener Weise „Guti Guti“ schreit. Dann stille ich Marcel, ich kann die ersten Monate gut stillen, aber meine Brust tut mir weh und ich verziehe vor Schmerz mein Gesicht, während Henny mit einer Rotznase vor mir steht und beobachtet was ich mache. Ich befreie Marcel von seiner Schiete, die bis zum Rücken hoch verteilt ist und lege ihn zum schlafen zurück in sein „Nest“. Dann schmecke ich die Rouladen und das Rotkraut ab, schäle Kartoffeln, wasche das Geschirr ab, ... aber trotz allem vorgelegten Tempos schaffe ich es einfach nicht, die für Johann zur Gewohnheit gewordenen Sonntagsklöße zu machen, ich entscheide mich als Alternative für Kartoffelbrei. Als Johann vom Frühschoppen zurückkehrt, liegen Henny und Marcel im Bettchen und machen Mittagsschlaf, den ich liebend gern auch einmal gehabt hätte. Er sieht den aufgedeckten Tisch und fragt mich vorwurfsvoll: „Gibt es denn heute keine Klöße?“, er fügt noch hinzu: „ … Und in der Stube hast Du vergessen den Ofen abzusperren“.( Bei den Kachelöfen wurde früher, wenn das Feuer bis auf die Glut durchgebrannt war, die Ofentür fest verschlossen, damit sich die Wärme möglichst lange halten sollte, am nächsten Morgen, ... oder wenn es sehr kalt war, wurde noch am gleiche Abend die Asche durchgerüttelt, oft war noch ein Glutrest vorhanden, dann wurden Kohlen nachgelegt oder neu Feuer gemacht ). Mehr als ein: „Aber, ... ich konnte es wirklich nicht mehr schaffen“, bringe ich nicht hervor. Nach dem Essen steht er auf, ohne wenigstens seinen Teller mit in die Küche zu nehmen, um es sich sogleich im Sessel bequem zu machen. Für mich geht die Arbeit gleich weiter, die Kinder werden bald vom Mittagsschlaf aufgewacht sein. Ich verstehe das alles nicht, ich kenne von zu Hause nicht, dass die Arbeit nur auf einem sitzen bleibt, aber wie ich mich davon befreien soll weiß ich auch nicht. -

Mein 21. Geburtstag im April findet bei uns zu Hause statt, meine Eltern und auch Gerda und Erich sind natürlich da, zum Kaffee und auch zum Abendessen. Besonders mein Papa fragt, wie es uns geht: „Na, mein Töchting, wie is´, ... alles in Ordnung?, geht es Dir gut?“. „Ja, ja, Vati, alles in Ordnung“, sage ich. Anstatt ich dumme Dappe den Mund aufmache, lenke ich bewusst vom Thema ab und erzähle von der alten Dame im 2. Stock, die nicht nur als Vermieterin unserer Wohnung sehr eigenartig, sondern oft sogar recht böse ist. Sie schaut in die Mülltonne und kontrolliert was ich hineinwerfe, beobachtet, wann und wie ich meine Hausordnung mache. Sie prüft sogar meine Wäsche dahingehend, ob sie auch sauber ist wenn ich sie im Hof aufhänge. Einmal hat sie sogar meine Wäscheleine einfach durchgeschnitten, weil sie sonst angeblich nicht richtig in ihren Garten schauen kann, wenn die Wäsche davor hängt, obwohl sie aus ihrem 2. Stock bequem darüber gucken kann. -

Der Mai ist da, der kleine Marcel ist bereits drei Monate alt, bekommt zwei Breie, stillen kann ich nur noch als „Zwischenmahlzeit“ anbieten.

Die Sonne ist wenig zu sehen, oft ist es kühl aber trocken sodass ich den Kleinen mit dem Kinderwagen auf den Hof stellen kann. Der Juni beginnt mit ebenfalls frischen Temperaturen, aber bald wird es angenehm warm. Marcel wiegt jetzt knapp 7 Kilo, Henny 13 Kilo. Der Kleine bekommt links unten das erste Zähnchen, Henny ist bis auf ein paar wenige kleine „Pannen“ sauber, spricht viel, macht alles nach, aber auch viel Unordnung, besonders liebt sie es, die Küchenschränke vollständig auszuräumen. Beim Termin zur Nachuntersuchung beim Frauenarzt lasse ich mir die Pille verschreiben.-

Im Juli fährt Johann wieder mit Gerd von seinem Betrieb aus nach Legestedt. Ich habe mittlerer Weile ein ungutes Gefühl wenn er unterwegs ist, aber kann es mir nicht erklären. - Im Juli sind auch Papas jüngste Schwester mit ihrer Familie aus Ostfelden ein paar Tage auf Besuch bei meinen Eltern. Das Wetter ist schön, so können wir den Geburtstag meines Vaters am Steiger feiern. Mein Vati hat vor ein paar Jahren als wir noch Kinder waren und sein Freund mit seiner Familie bei uns war einen schönen Grill gebaut. Er war aus Ziegelsteinen zusammengesetzt, der Rost aus dem Backofen diente als Auflage für das Fleisch, ... es war einfach, ... aber funktionierte prima. Henny ist nun schon bald 2 Jahre alt, mein Vati freut sich, weil ihr die Bratwurst so gut schmeckt. Meine Eltern nehmen Henny mit nach Jenndorf, sie schläft halt gern bei Oma und Opa, vorher setzt mich mein Papa noch mit Marcel zu Hause ab. -

Am Freitag, den 26. Juli bin ich am Nachmittag mit Henny das erste Mal zum Vogelschießen, sie will von dem Kinderkarussell, mit dem wir, ich weiß nicht wie lange und oft gefahren sind nicht wieder absteigen. Wenn ich sie herunterheben will, hält sie sich mit aller Kraft fest und ruft immer: „Nein mehr Hause, nein mehr Hause!“. Aber dann nützt es alles nichts, Marcel muss noch von Tante Gerda abgeholt und versorgt werden. Wir sind noch nicht weit in Richtung nach Hause gegangen, als meine Karussellfahrerin im Kinderwagen, der bereits eine Sportkarre ist zusammensinkt und einschläft. Nachdem die Kinder im Bett sind, setze ich noch einmal Windeln zum kochen auf. Warmes Essen brauche ich momentan nicht machen, solange Johann in Legestedt ist. Ich denke immer öfter darüber nach, was er wohl nach der Arbeit zusammen mit diesem Gerd anstellt, weil er nicht einmal die Zeit zu finden scheint, mir auch nur ein einziges Mal in diesen vier Wochen zu schreiben und nach den Kindern zu fragen. Am 27. Juli soll die Zeit der Außenarbeit vorerst zu Ende sein. Es ist so ein schöner Sommer geworden, sogar spät am Abend ist es noch angenehm warm. Ich beginne mich einsam zu fühlen, wenn ich am Ende des Tages mit meiner Arbeit zu Hause fertig bin. Ich starre vor mich hin und weiß nicht was ich machen soll wenn die Kinder im Bett sind. An so einem Abend, Johann ist noch in Legestedt, er kommt übermorgen am 27. Juli zurück, sitze ich in der Küche und stiere vor mich hin, allein in den Hof setzen, ... dazu habe ich auch keine Lust, ... weggehen und die Kinder allein lassen?, ... nein das mache ich nicht. Ich stehe auf nachdem ich schon ein paar Löcher in die Luft geguckt habe und nehme mir ein Glas Rotwein. Übermorgen, wenn Johann wieder da ist werde ich ihn fragen, warum er sich nicht gemeldet hat. Ich trinke das Glas halb leer, sehe nach den Kinder und gehe selbst zu Bett. -

Wie geplant kommt Johann am Sonnabend, den 27. Juli zurück, er lässt seine Tasche buchstäblich im Flur fallen, gibt mir einen flüchtigen Kuss und sagt: „Ich gehe erst mal zu Tante Gerda baden“. Ich komme nicht dazu, auch nur ein Wort sagen zu können, so schnell ist er wieder draußen. Ich bin enttäuscht, eine Umarmung nach vier Wochen habe ich schon erwartet, nicht einmal ins Kinderzimmer ist er gegangen. Ich stehe ganz verdutzt im Flur, erst Geräusche, die aus dem Kinderzimmer kommen „wecken“ mich wieder auf. Ich koche mir eine Tasse Kaffee, mache für Henny ein wenig Milch warm, Marcel bekommt seinen Obstbrei, Henny und ich essen ein Stückchen Rührkuchen, den ich am Vortag gebacken habe. Ich habe eigentlich gedacht, dass wir alle gemeinsam Kaffee trinken, aber ich habe mich wohl geirrt, denke mir bloß, ob Johann nicht hätte auch nach dem Kaffeetrinken noch zu Gerda gehen können um zu baden. Als ich mit den Kindern Kaffeezeit gemacht habe, ziehe ich sie an und wir gehen spazieren, es ist sehr warm, trotzdem nehme ich für jeden ein Jäckchen mit. Henny schiebt ihren Bruder, in dem sie den Lenker des Wagens links und rechts festhält. Wir gehen in den Stadtpark und bleiben eine Weile vor den Vogelvolieren stehen. Henny rennt aufgeregt vor den Käfigen hin und her, ich selber setze mich auf eine Bank und finde es schade, dass Johann wieder nicht mit uns mitgekommen ist, ich finde keinen Grund dafür und frage nicht zum ersten Mal: Warum? -

Auch am Sonntag ist das Wetter so warm und schön, ladet zum baden gehen ein. Nachdem ich den häuslichen Pflichten Genüge getan habe, nehme ich die Kinder und gehe mit ihnen ins Freibad. Das Seelsteiner Bad hat in diesen Jahren noch um das ganze Schwimmbecken herum eine Art Wasserlaufrinne, etwa anderthalb Meter breit und dreißig cm tief, ideal als Planschrinne für kleine Kinder. Nie ist man dort allein, es sind immer Muttis mit ihren Kindern da und man findet ein wenig Abwechslung und Unterhaltung. -

Als die Kinder am Abend in ihren Betten sind frage ich Johann: „Warum hast Du uns von Legestedt nicht ein einziges Mal geschrieben?“. „ … Och, ... ich hatte halt keine Zeit, ... und wenn ich den ganzen Tag arbeite, habe ich auch keine Lust mehr dazu, aber wenn wir schon beim Thema sind, ... ich fahre mit Gerd nochmal nach Legestedt, nur zwei Tage haben wir jetzt frei“, gibt er zur Antwort. „Schade, dass Du soviel weg bist, wir sind sehr wenig zusammen, der Flur sollte eigentlich auch noch gemacht werden, ... ich hab` schon das Kinderzimmer und die Küche allein fertig gemacht, ... ich dachte, dass ich auch einmal ein wenig Hilfe bekomme“, enttäuscht sehe ich ihn an. „Na, ... ich kann es eben auch nicht ändern!“, meint er. „Aber ich verstehe es trotzdem nicht, ... Du hilfst mir nicht, ... und wir kommen am Abend, wenn Du schon mal da bist auch nicht mehr aus dem Haus, ... wir könnten doch wenigstens einmal auf ein Bier oder Glas Wein nach oben in die kleine Gaststätte gehen, die Gerda oder meine Eltern kommen doch gern und bleiben dann bei den Kindern. Wenn Du mir hilfst, die Kinder fertig zu machen, dann ist das doch sicher zu schaffen“. „Darauf habe ich eigentlich keine Lust“, murmelt er. „Na, das ist aber schon irgendwie komisch“, überwinde ich mich zu sagen: „Zu Deinem Stammtisch und zum Frühschoppen, ... da hast Du Lust, ... da gehst Du jede Woche hin, wenn Du nicht gerade in Legestedt bist, aber ich bin überzeugt, dass Du dort mit dem Gerd auch in die Kneipe gehst“. Ich staune selber über meine Ansprache, auf die ich aber nur Stillschweigen ernte. Ich füge hinzu: „Und der Flur?, soll ich den auch noch allein fertig machen?“. „Du bist doch den ganzen Tag zu Hause, ... ich bin nicht da und arbeiten“. Ich will noch fragen, was denn mit morgen oder übermorgen noch wäre, um den kleinen Korridor noch fertig zu kriegen, sage dann aber nur: „Na, ja, ... und wie lange bleibst Du diesmal weg?“. „Erstmal zwei Wochen, ... wenn es länger dauert schreibe ich eine Karte“. Mehr als „Wie schön“, kann ich nicht antworten, ich verkneife mir die Frage, ob nicht auch mal jemand anderes in den Außendienst fahren könnte. - Die zwei Wochen vergehen sodann ohne ein Lebenszeichen von Johann. Dann bekomme ich überraschend Post von Inge, mit der ich zusammen in Halle gelernt habe. Sie schreibt, sie sei hier in der Nähe und würde mich gern einmal besuchen kommen, wenn ich Zeit und Lust dazu hätte. Klar habe ich Lust, Zeit vielleicht weniger, aber einmal drei Tage etwas Abwechslung. Am Sonnabend, den 10. August gehen wir zusammen in den Jugendclub und sind dort noch lange nicht die ältesten, es ist ein toller Abend, eine schöne und willkommene Abwechslung, die ich genossen habe, ... endlich mal wieder unter gleichaltrigen zu sein, ... einfach nur schön. Gegen 1.00 Uhr sind wir wieder zu Hause, die Gerda macht zwar ein komisches Gesicht, weil es so spät geworden ist, sagt zu meinem Erstaunen aber nichts dazu. Eine Weile schreibe ich mich noch mit Inge, sie schickt mir aus Halle hin und wieder eine Flasche Weichspüler, den es zu der Zeit sehr selten gibt. Leider reißt die Verbindung irgendwann ab, bis heute habe ich nie wieder etwas von ihr gehört.

Mitte August kommt Johann aus Legestedt zurück, er hat sich nicht einmal gemeldet dass und wann er kommt, ... steht plötzlich in der Tür. Ich bin gerade dabei den Flur zu tapezieren, auch diesmal werde ich nicht gerade überschwenglich begrüßt und so hält sich mein Begeisterungssturm nun auch in Grenzen. Ich frage auch nicht mehr nach weggehen oder gemeinsamer Freizeit, ich bekomme eh nur die gleiche Antwort: „Ich arbeite den ganzen Tag, ich habe keine Lust“. Ich erspare es mir darauf zu antworten, dass er nach wie vor auf Stammtisch und Frühschoppen ja auch Lust habe. Ich komme mir niedrig vor, wenn er so betont: er arbeite den ganzen Tag, aber auch dazu sage ich nichts, bald werde ich auch wieder arbeiten gehen, nicht nur, weil es aus finanziellen Gründen sein muss, sondern auch, um unter Menschen zu kommen. Trotzdem frage ich mich, ob der Johann wirklich der Meinung ist, der Haushalt und Kinder sind keine Arbeit. - Es wundert mich, denn Johann kommt zum Geburtstag meiner Mutter im September mit.

Stehaufmännchen - Die Kraft zu leben

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