Читать книгу Stehaufmännchen - Die Kraft zu leben - Margarithe W. Mann - Страница 5

Mädchenjahre

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Die eigentliche Geschichte meines bisherigen Lebens beginnt im Jahre 1969 als ich beginne ein Tagebuch zu führen, zu einer wunderschönen Zeit in der ich gerade so alt bin wie meine jüngste Tochter heute, - 16 Jahre jung. Eine Zeit, in der man weder Sorgen oder Probleme haben muss, wenn man sich in einem intakten Leben befindet, - und ... wenn man das Ganze im reifen Alter betrachtet. Natürlich sind die Probleme, die man als Jugendlicher hat die Probleme des betreffenden Alters und der jeweiligen Zeit in der man lebt. Ohne weiteres sind Nöte und Schwierigkeiten, sowie auch schöne Erlebnisse, die man auch als junger Mensch hat, immer wert sie aufzuarbeiten. Ich bin in der glücklichen Situation als Kind und auch als Jugendliche ein sorgenfreies Leben zu haben. Trotzdem empfinde ich in der damaligen Zeit verschiedene „Nöte“ wie fast jeder andere meines jugendlichen Alters, als durchaus schwerwiegend, weil man keine Ahnung hat, was im Laufe des Lebens noch kommt, ... und irgendwie ist das auch gut so. Also, wenn Du, der jetzt gerade mein Buch liest noch jung bist und hoffentlich noch recht viel Leben vor Dir hast, dann schätze es auch. Als junger Mensch macht man sich noch keine wirklichen Gedanken an später, man schafft alles, nichts tut Dir normalerweise weh, man denkt nicht großartig über diesen sorgenfreien Zustand nach,weil man ihn als selbstverständlich betrachtet. Erst wenn man aus einem gewissen Alter heraus ist , merkt man, es bleibt nichts so wie es gegenwärtig ist, nicht immer ist das schön. Also, wenn Du leben willst, dann jetzt und nicht irgendwann.-

Tagebücher haben sich immer bewährt, sie laufen nicht weg, es lohnt sich durchaus, sein Tagebuch auch noch weit über die Jugendzeit hinaus zu behalten und weiter zu schreiben, um vielleicht einmal sein ganzes Leben festzuhalten. Freundschaften gehen manchmal auseinander, ... warum auch immer, - Tagebücher bleiben, aus diesen Erkenntnissen heraus habe ich mein Tagebuch noch immer. Man kann zu jeder Zeit darauf zurückgreifen, sich ein paar Dinge von der Seele schreiben, - oder aber einfach mal nachschlagen, wann, wo, und wie etwas geschehen ist.

1967 im Mai habe ich Jugendweihe, den Tag weiß ich nicht mehr, denn meine konkreten Aufzeichnungen beginnen erst im Mai 1969. Zu meiner Zeit ist die Jugendweihe wie auch heute ein Fest um in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen zu werden. Schön, ... aber erwachsen, wenn man gerade eben noch ein Kind war?. Meines Erachtens ist man unter anderem oft ein alles besser wissender Jugendlicher, der sich nichts sagen lässt. Jeder, der ehrlich ist, weiß es, nicht zuletzt von sich selber. Aber auch das ist normal und wiederholt sich in jeder Generation. Wie dem auch sei gibt es auch zu meiner Zeit eine Feierstunde im Heimatmuseum unserer Stadt, die unteren Klassen führen ein Programm auf. Wir erhalten eine Gratulation, eine Rose und wie es in den Jahren Gang und Gebe ist, das Buch: „Weltall, Erde, Mensch“. Die Feierstunde beinhaltet Jugend und Sozialismus, die Jugend ist die arbeitende Bevölkerung von morgen für das gemeinsame sozialistische Eigentum. Man singt Lieder der FDJ und hört klassische Musik. Heute spricht niemand mehr davon, trotzdem bildet sich jeder seine Meinung über damals und heute, über Garderobe brauchen wir jetzt nicht zu sprechen, das erübrigt sich von alleine. Zu Hause wird selber gebacken, niemand hegt auch nur den Gedanken, den Kuchen und auch die Torten für das bevorstehende Fest zu kaufen. Zudem bekommt jeder, der eine Gratulationskarte schickt vom Kuchen etwas ab, also kommt schon einiges zusammen, was das Backen für diesen Anlass betrifft. Nach der Jugendweihe geht die Schule weiter wie bisher, nur die Lehrer fragen uns, ob sie weiter „Du“ sagen dürfen oder ob wir ein „Sie“ hören wollen. Es bleibt natürlich beim „Du“ . Nach der Schule gibt es Zirkel und Arbeitsgemeinschaften sowie Sportgruppen. Die Jungs werden rot, wenn sie mit den Mädchen schekern, wie man in Thüringen sagt, die Mädchen gackern viel und bei jeder Gelegenheit. In der Unterrichtsstunde werden Briefchen geschrieben, ob man sich vielleicht verabreden sollte. Die Briefchen machen die Runde und die Mädchen werten aus, wie toll der große schwarzhaarige Junge in der Parallelklasse ist, dass der Physiklehrer süß aussieht und wie doof der eine Kerl ist, der eine Klasse über uns ist. Wir kichern bis der Lehrer mit dem Stock auf den Tisch haut und: „ Aber jetzt ist Schluss, ... meine Damen, ...“ ruft.

Meine Freundin ist oft nach der Schule bei mir zu Hause, wir machen Schularbeiten, tauschen Bilder von Schauspielern und verbringen auch so viel freie Zeit miteinander. Wir gehen ins Kino, oder aber auch einfach nur so in die Stadt, um vielleicht auf Schulkollegen zu treffen oder sich beim Bäcker, der ein Verkaufsfenster zur Straße hat ein Kugeleis zu holen. Drei Sorten gibt es, Vanille, Frucht und Schoko, - Vanille und Fruchteis, es sind große Kugeln, kosten 20 Pfennig pro Kugel und Schokoeis 25 Pfennig.

Im Sommer sind wir an den Wochenenden viel mit den Eltern im Garten und schlafen auch dort, oder man trifft sich mit den Freundinnen im Freibad, lästern und kichern wie es Jungmädchenart ist über andere und lassen uns von den Jungs necken, haben eben unseren Spaß. Im Winter, wenn es Schnee gibt, gehen wir noch immer gerne rodeln, manchmal kommen unsere Eltern mit, so wie in Lescha auch. So vergeht die Zeit bis irgendwann der Mai 1969 kommt und ich beginne, alles was mir wichtig ist, aufzuschreiben.-

Außer der Tatsache, dass das Jahr 1969 in einer denkwürdigen Weise für mich wichtig ist, eben weil ich mit dem Führen meines Tagebuches beginne, überlege ich auch ein wenig, was war das sonst noch für ein Jahr ?.

Ich bin in Thüringen geboren, also in der DDR, Walter Ulbricht ist Staatsratsvorsitzender in unserem Arbeiter und Bauernstaat, wie die DDR auch bezeichnet wird. Willy Brandt wird Bundeskanzler in der BRD, Richard Nixon ist Präsident in den USA und Charles de Gaulle tritt in Frankreich als Staatspräsident zurück.

In den USA demonstrieren 250 -tausend Menschen gegen den Krieg in Vietnam.

Auch 1969 gibt es Katastrophen, in der Schweiz ereignet sich ein Atomreaktorunglück und vor Kalifornien kämpft man gegen die Ölpest.

Man verzeichnet die erste bemannte Mondlandung von Apollo 11 und Neil Armstrong betritt als erster den Mond.

In der Uni Bonn transplantiert Alfred Gutgemann zum ersten Mal eine Leber.

Thor Heyerdal startet mit seiner Crew auf dem Papyrusboot „Ra“ von Marokko über den Atlantik.

Der Berliner Fernsehturm wird eröffnet und unsere Eiskunstläuferin Gabriele Seyfert wird Europa - und Weltmeisterin.

In unserem DDR - Fernsehen laufen außer dem täglichen Sandmännchen viele schöne, dem Alter entsprechende und geistig wertvolle Kindersendungen. Für die Kleinen gibt es „Flax und Krümel“, „Rolf u. Reni“ „Jan und Tini auf Reisen“, „Die Frau Dr. Pille mit der riesengroßen Brille“ und natürlich auch den „Meister Nadelöhr“ mit Pittiplatsch und Schnatterinchen.

Wir größeren mögen den „Professor Flimmrich“ und die Sportsendungen „Mach mit bleib fit“ oder „Mach mit, mach` s nach, mach` s besser“.

Aber auch die Erwachsenen gehen nicht leer aus, meine Mutter liebt „Willi Schwabes Rumpelkammer“ und auch einen Fernsehkoch gibt es im DDR Fernsehen „Kurt Drummer empfiehlt“.

Mein Papa schaut „Du und dein Heim“ und „Du und Dein Garten“.

Die ganze Familie liebt die Weihnachtssendung mit Margot Ebert und Heinz Quermann „Zwischen Frühstück und Gänsebraten“

Mama und Papa entspannen sich bei den Musiksendungen „Klock 8 achtern Strom“ oder „Da liegt Musike drin“.

Die erwachsenen Leute tanzen zu Frank Schöbels flotten „Party - Twist“ und lieben Günter Geißlers „Rote Lippen soll man küssen“.

Es beginnt unsere Disco - Zeit im Klubhaus der Jugend, die Kultgruppe der DDR, die „Puhdys“ wird gegründet und die bereits wohl bekannte „Klaus Renft - Combo“ feiert bereits ihr 10- jähriges Bestehen. Ab und zu wird in der Disco auch „Westmusik“ gespielt, aber nur wenig, es ist von „Oben“ so angeordnet.

Außer den Erwachsenen, die heimlich auch gern die ZDF - Hitparade schauen, wenn Adamos „Träne auf Reisen geht“, oder wenn bei Wencke Myhrre „Er im Tor steht“, lugen wir auch schon mal gern am Abend durch den Türschlitz ins Wohnzimmer, auch heimlich natürlich, denn das sogenannte „Westfernsehen“ ist verboten. Unsere Mütter lassen sich aber erst recht nicht davon abbringen, wenn Heintje sein „Heidschi bum beidschi bum bum“ singt. - Auch wir Jugendliche bekommen was die Musikszene betrifft allerhand mit, zum Beispiel, dass die „Beatles“ ihr letztes öffentliches Konzert auf dem Dach der Apple Studios in der Londoner Saville Row gegeben haben, ... und natürlich schwappt auch eine Welle der Hippibewegung vom Musikfestival in Woodstock, einer Farm in New - York zu uns herüber. Wenn auch nur durch die Medien hat die Flower- Power- Zeit auch uns erreicht und heimlich schauen und hören wir uns an was keiner sieht. ( Heute besingen die Puhdys dieses Thema: „ ... der allererste Trabi, zehn Jahre nach dem Abi, geschlossnes Vaterland, des Volkes Unterpfand, … und hinterm Vorhang lief, ... ein Film den keiner sah, vom Glück im Paradies, doch es war gar nicht wahr, ... aber du warst meine Königin, … du warst immer neben mir, ...“).

Jimi Hendrix, Janis Joplin und Joe Cocker sind uns ebenso ein Begriff wie „Creedence Clearwater Revival“ oder „The Who“.

Es gibt Zeitschriften für Groß und Klein, wie die „Bummi“ für die kleinsten, die „Atze“, „Fröhlich sein und singen“ und das „Mosaik“ für die älteren. Die Erwachsenen lesen den „Eulenspiegel“ oder „prügeln“ sich am Zeitungsstand um die „Wochenpost“ oder andere rare Zeitschriften .

Wir Jugendliche wissen, dass es „Drüben“ die „Bravo“ gibt, eine Illustrierte für junge Leute, ... einer jagt sie dem anderen ab, erwischen lassen darf man sich natürlich nicht, ... denn sonst ist sie „weg“, sie wird dann angeblich vernichtet, na ja, wer´s glaubt, ...

Im DDR - Fernsehen gibt es zu der Zeit auch noch Werbung für Produkte verschiedener Art und auch Werbefilme für Haus, Garten Wohnung und Straßenverkehr, wir haben beim Autofahren die 0,0 Promillegrenze, eine gute Sache. Ich kenne noch ganz genau den Wortlaut für den entsprechenden Werbefilm innerhalb dieser t t t ( tausend tele tips ). : „ ... Ein Bier, ... ein Schnaps,.. ein Schnaps,.. ein Bier,... Kraftgefühl, ... wer kann mir, ... kein Pflichtgefühl, … kein Augenmaß, … feste Gas, ... Kurve links, Kurve rechts, ... da ein Baum, … aus der Traum, ... Alkohol getrunken ?, ... Unheil im Nu !, ... bedenke vorher: den Schaden hast du ...“

... und was war noch?, ... na klar, die Geschichte durch mein Leben startet an einem Samstag im Mai 1969 :

Als ich aus der Schule komme ist mein Bruder Hagen bereits zu Hause, er feixt darüber, dass ich in der höheren Schulklasse zwangsläufig länger Unterricht habe als er. Meine Mutter wartet schon mit dem Mittagessen, es gibt Sauerkraut, Kartoffeln und Bratwurst. „Es ist unmöglich, dass Ihr am Sonnabend so lange Schule habt“, meint sie. „Ja, ja, ... alle warten nur auf Dich!“, gibt Hagen seinen Senf dazu. „Das ist doch nicht meine Schuld!“, trompete ich zurück und gehe mir die Hände waschen. Als wir nun endlich alle bei Tisch sitzen eröffnet uns meine Frau Mutter die neueste Nachricht: „Also, ... nach dem Essen wird abgewaschen und dann geht es in den Garten!“. „Aaach, menne!“, kommt es aus dem Mund meines Bruders, der bereits in Fußballmontur ist. Verstohlen schielt er zu mir herüber, ich zucke nur mit den Schultern, ich traue mich nicht zu sagen, dass ich mit meiner Freundin Gisela verabredet bin. Nach dem Essen erledigt meine Mutter den Abwasch, ich trockne das Geschirr ab und mein Bruder gibt Kommentare dazu ab und „tanzt“ herum. Mein Papa beginnt, alle Dinge, die am Wochenende im Garten gebraucht werden und von der Mama bereits sorgfältig bereitgestellt sind im Auto, unserem Trabi zu verstauen. Da klingelt es an der Tür, meine Freundin Gisela ruft laut: „Was is `?, wir haben Mädchenclub heute!, schon vergessen?, Modenschau ist angesagt, lass` uns nicht zu spät kommen, ... ein bisschen Beeilung wenn ich bitten dürfte meine Dame“. Die Mine meiner Mutter verfinstert sich zusehends. „Es müssen die Rabatten gehackt werden und Euer Pensum bleibt Euch nicht erspart, ... na dann haut ab, ... aber wie gesagt, Eure zugeteilte Arbeit müsst Ihr trotzdem machen!“. Mein Vater kehrt indessen mit der Meldung, dass alles fertig eingeladen und das Auto startklar ist zurück, er schaut fragend in die Runde. Mein Bruder verdünnisiert sich und ich mache mich ebenfalls aus dem Staub. Unserer Mama passt das alles natürlich überhaupt nicht, sie schimpft vor sich hin, ich höre im Gehen noch ein paar Wortfetzen wie: ... Rabatte, durchhacken und mithelfen. - Verstehen kann man das erst viel später, nämlich dann, wenn man als Erwachsener so viel Arbeit hat, dass man nicht mehr weiß, was man eigentlich zuerst machen soll. Gut, wenn man als Kind oder Jugendlicher das Privileg hat, noch nichts davon zu wissen. Allerdings habe ich die Eigenschaft, leise vor sich her zu schimpfen von meiner Mutter vererbt bekommen und sie wiederum an meine älteste Tochter weitergegeben. -

Mein Vater nimmt alles recht gelassen und meint, dass er uns dann von unseren „Veranstaltungen“ wieder abholt, wenn sie zu Ende sind. Wie sich herausstellt, ist das mehr als nur eine gute Idee, es regnet nicht nur, sondern es gießt in Strömen, so dass wir auch am nächsten Tag um unseren Pflichtteil betreffs des Beetes, es von Unkraut zu befreien herumkommen. Natürlich können wir auch nicht im Garten übernachten, so wie es vorgesehen ist, mein Vater holt uns wie versprochen ab und wir fahren nach Hause zurück. Das Fußballspiel von Hagen ist auf Grund des vielen Regens ausgefallen. Ich denke in diesem Moment nur, na Gott sei Dank, wir brauchen nicht im Garten übernachten, nach meinem Empfinden ist es ohnehin noch zu kalt. Na, ja, das nächste Wochenende kommt bestimmt und mit ihm die leidige zwangsläufig liegengebliebene Arbeit.

Am Anfang der darauffolgenden Woche habe ich einen ganz schönen Schnupfen, den ich aber noch einmal so fürchterlich darstelle als er eigentlich ist, weil wir UTP haben, ... und das ist nun ganz und gar nicht mein Ding. Auf Grund meines „Schnupfenleidens“ will ich mir gern einmal dieses verhasste Unterrichtsfach ersparen, aber meine Mama macht mir schon Beine: „Das ist nicht so schlimm, das vergeht schon wieder, ich kann auch nicht gleich bei jedem Dreck und wenn mir mal die Nase läuft zu Hause bleiben!“, ruft sie und fuchtelt mit den Armen, „ ... und außerdem müsst Ihr bei dem Wetter nicht unbedingt auch noch mit Minirock umherlaufen und dann jammern, wenn Ihr Schnupfen habt!“. Sie meint sicher letzten Samstag, an dem die Modenschau war und wir mit kurzem Röckchen, so wie es zu der Zeit alle jungen Mädchen tragen zum Mädchenclub gewesen sind. Ich brummele vor mich hin: „ … Ja, … ja, ... ja, … aber im Garten soll geschlafen werden bei der Kälte“. „Wie bitte?!“, höre ich meine Mutter aus der Speisekammer fragen, obwohl ich genau weiß, dass sie mich verstanden hat. „Ach nichts, ich hasse es einfach nur!“, schnoddere ich zurück und mache mich auf den Weg zur Lemag, den Betrieb, indem diese Scheußlichkeit stattfindet. „Ich kann das einfach nicht“, höre ich mich bald selber laut stöhnen, ... „wenn ich den Bohrmaschinenhebel nach oben stelle, dann schleudert das Metallwerkstück mitsamt dem Bohrer umeinander!“. Hilfesuchend drehe ich mich nach meinem Schulfreund Jörn um. „Ach, was machst denn Du da wieder Meggy“, meint er und befreit mich nicht zum ersten Mal aus dieser misslichen Lage. Dieser UTP - Unterricht ist nach Mathematik so ziemlich das schlimmste, was es während meiner Schulzeit für mich gibt. Diese dreckige Arbeit bei der Metallverarbeitung löst eigentlich nur bei den Jungs unserer Klasse Begeisterung aus. Nur zwei Mädchen finden die Sache ganz gut, Monika und Heike. Ein einziger Junge kann auf Grund seiner Trägheit und Ungeschicklichkeit keinen Spaß daran entdecken, der Ernst, einer der wenigen Schüler aus meiner Klasse, den ich bis heute nie wieder gesehen habe. Ich hörte nur, dass er ziemlich eingebildet einen „besseren“ Beruf in Richtung Beamtentum eingeschlagen hat.

Nach der glücklichen Befreiung durch Jörn mit dem ich noch heute hin und wieder einmal telefoniere, sichere ich ihm bei der nächsten Russischarbeit meine Schmuggelhilfe in Form eines Briefchens mit entsprechenden Inhalt zu. Für mich ein leichtes Spiel, in Russisch bin ich so gut wie unschlagbar. Als ich endlich den UTP - Stress hinter mir habe, gehe ich zum besseren Teil des Tages über. Ich freue mich auf den Nachmittag, ich gehe zum Pferdesport, das tue ich jede Woche, je nachdem wie viel Zeit ich habe, ein bis zweimal. Es bereitet mir sehr viel Spaß, schon der warme Duft der Pferde und der Geruch von frischem Heu ist immer wieder faszinierend und stimmt mich glücklich. Leider ist das Wetter noch immer mies, es schüttet wie aus Kannen, so müssen wir mit der Reithalle vorlieb nehmen. Mein Kumpel Bastian ist schon da und gleich mit dem Ausmisten fertig, ich beginne schon mal mit dem Striegeln der Pferde. Beim Satteln habe ich meinen Schnupfen fast vergessen. Es ist ein unbeschreiblich herrliches Gefühl auf einem Pferd zu sitzen, den Duft des Tieres einzuatmen, den nickenden Kopf vor sich zu sehen und das immer wiederkehrende Schnauben des Pferdes zu hören. Wer das nicht kennt und nicht wenigstens nur einmal erlebt hat, kann es sich nicht vorstellen, er hat im Leben damit garantiert etwas verpasst und kann demzufolge nicht mitreden.

Ein Gutes hat das Mistwetter nun auch wieder, das geplante Geländespiel, was für den folgenden Tag geplant ist muss auf Grund der schlechten Witterung ausfallen. Ich bin kein großer Fan von diesen doofen, unabwendbaren Geländespielen während ich die Schulbank drücke. Ich finde es blöd, nach irgendwelchen Papierschnitzeln, und das auch noch mit Kompass im Wald umherzuirren mit dem Zwang, unbedingt als erster im Ziel sein zu müssen. Bei anderen, wie z.b. Marion löst die Ankündigung des Ausfallens dieser Hetzjagd schon fast Heulkrämpfe aus. Da sind mir die Pferde aber bedeutend lieber.

Zum Wochenende wird das Wetter besser, der Regen lässt nach und das heißt : erneute Rüstung zum Garten mit wiedermal geplanter dortiger Übernachtung. So ist es dann auch, wieder geht es los mit Sack und Pack. Mein Bruder und ich „bewohnen“ wie immer das sogenannte Heustadel, ein kleiner, etwas schiefer Schuppen, indem zur Zeit meines Großvaters das Heu für unser Pony lagert. Es ist ein wenig merkwürdig als Schlafstätte, aber regendicht, mit zwei Fenstern. Das größere von ihnen zeigt in Richtung Wasserpumpe und das andere weist zum Gartenhäuschen. Die Tür knarrt etwas und unter dem Fußboden, wo ein kleiner Hohlraum ist, weil dort übriges Holz lagert, hört man manchmal Igel, die zum Teil recht gruslige Laute von sich geben. Damit der Schuppen nicht so öde aussieht haben wir Poster von Schauspielern und Sängern angeklebt und sind, als wir damit fertig sind mit unserem Ergebnis zufrieden. Meine Eltern können es so wie ich heute nicht verstehen, dass man sich mit irgendwelchen Fratzen an den Wänden besser fühlt.

„Na, wie haben denn die Herrschaften geschlafen?“, empfängt uns unsere Mutter zum Frühstück. Ich sage, dass ich schon ein bissel gefroren habe und vertrete die Meinung, dass die Betten leicht klamm sind. Mein Bruder bezeichnet mich als Memme, meine Frau Mama sagt nur „Ach Quatsch, das bildest Du Dir ein“. Mein Vater, der sein alltägliches Frühstücksei unbeholfen zu köpfen beginnt, schielt über seine Brille und blinzelt mir zu, was das Empfinden meiner nächtlichen Frostigkeit bestätigt. - Dann geht es an die unvermeidbare Arbeit im Garten. Wir haben das unstillbare Vergnügen, die langweiligen „Scheiben“ unter den Beerensträuchern zu säubern, mit anderen Worten : das Unkraut unter den besagten Sträuchern entfernen. Nach einer kurzen Weile beginnt mein Bruder nur noch andauernd hin und her zu rennen. Einmal hat er Durst, dann muss er auf` s Klo und meint dann schließlich, dass er gar kein Unkraut mehr sieht. „Ich mache Deinen Teil nicht mit, ... damit Du` s weißt!“, rufe ich, sein dauerndes Herumgehampel ärgert und nervt mich. Mein Vater lässt sich wie immer nicht stören und pickert, wenn auch sichtlich unlustig in der Erde herum. Ich gehe zu Hagen, packe ihn am Kragen und zerre ihn zu seiner angefangenen Arbeit zurück. „Höre jetzt endlich auf mit Deinem lästigen Hin - und Hergehopse und mache Deinen Kram da fertig!, ... mir bereitet es auch nicht gerade Spaßvergnügen, Du brauchst nicht zu denken, dass Du immer mit der Tatsache durchkommst, der Jüngere zu sein, also los jetzt, sonst sage ich es gleich der Mutti!“. „Ha, ha, Ha, ... hi ...hi … , wenn Du mich nicht in Ruhe lässt, ... und mich verpetzt, dann sage ich der Mutti, dass Du Dich mit Udo treffen willst, und nicht mit Deiner Freundin Gisela, so wie Du es erzählt hast“, stänkert er . Während ich zische: „ ...Du, das ist ganz gemein!“, sehe ich nur, wie mein Papa sichtlich über uns belustigt in sich hinein grient. Ich halte es für klüger nichts weiter zu sagen. - Der Udo ist die erste männliche Person, mit der ich ein „Date“ hatte, wie man es heute bezeichnet, früher hat man schlicht und einfach Treffen oder Stelldichein gesagt. Zu dieser Zeit habe ich außer für Kino, schwimmen gehen und Eis essen noch keine tieferen Interessen, die einen Mann betreffen, so hat sich die Angelegenheit Udo für mich sehr schnell erledigt. Der Kampf mit dem Unkraut geht weiter bis der erlösende „Gong“ mit den begleitenden Worten meiner Mutter: „Mittagessen!“, ertönt. Wir lassen wie auf Kommando die Harken fallen, stoßen ein Stöhnen der Befreiung aus und lassen uns kein zweites Mal auffordern. Es gibt Schnitzel, Möhrengemüse und Kartoffeln ,... ja, ... auch zu DDR - Zeiten gibt es etwas zu essen !, - ganz zum Erstaunen mancher „Wessis“, wenn ich diesen Ausdruck einmal verwenden darf, weil es immer noch welche von ihnen gibt, die der Überzeugung sind, wir Ossis haben zu DDR - Zeiten gehungert und gefroren. Übrigens ist das beschriebene Essen bis dato mein Lieblingsgericht geblieben, auf Schnitzel habe ich immer Lust. Nachmittag sind wir, was die Gartenarbeit betrifft entlassen, wir beschäftigen uns als Kinder viel mit dem Bauen von Höhlen und Burgen aus Holz im angrenzenden Wald. Das macht richtig Spaß und mein Papa ruft noch hinter uns her: „Verschleppt mir mein ganzes Werkzeug nicht und räumt es wieder auf!“.-

Bald haben wir Juni, nun wird es richtig heiß, im Garten haben wir eine tolle Erdbeerernte. Das schöne Sommerwetter setzt sich noch im Juli fort, es gibt erst mal Ferien, die im besagten Jahr 1969 keinen besonders guten Start für mich haben. Zum Schuljahresende müssen wir noch die Pockenimpfung über uns ergehen lassen , die hat bei mir verhärende Wirkung, bald zwei Wochen plage ich mich mit einem dicken Arm und Fieber herum. Zu Papas Geburtstag, am 15. Juli, geht es mir schon wieder besser. Die Erdbeeren reichen gerade noch für eine letzte Erdbeertorte, aber es gibt noch eine Schwedische Apfeltorte. Mein Gott, was man als heranwachsender Mensch alles verdrücken kann ohne dick zu werden, so eine halbe Torte ist gar nichts.- Als die Erdbeerernte im Garten beendet ist, gibt es noch genügend Walderdbeeren, wir wollen die Gelegenheit nicht ungenutzt lassen, uns an den reichen Schätzen des Waldes zu bedienen. Am Sonntag nach dem Frühstück ziehen wir los, jeder mit einer Kanne. Mein Papa ist beauftragt mit „Haus hüten“ und auf das Goulasch zu achten, was meine Mutter schon vorbereitet hat, es soll zu Mittag gegessen werden. Mein Vater nutzt zudem die Zeit und pflückt Kirschen, die ebenfalls für eine reiche Ernte sorgen. Gegen Mittag kommen wir mit stolzer Beute aus dem Wald zurück. Wir haben den Garten noch nicht erreicht, als mein Bruder sagt: „Das riiiieeeecht aber komisch, wie angebrannter Rauch“. „Um Gottes Willen, … das Goulasch!“, meine Mutter stößt einen Schrei aus und ich sehe sie sogleich davon stieben. Noch heute habe ich es original vor Augen, wie sie mit ihrer Kanne, der alten grauen Schürze und den Gummistiefeln durch den Wald stürmt. Aber es ist zu spät, das Goulasch kann nicht mehr gerettet werden. Als meine Mutter sieht, dass mein Papa noch gar nichts mitbekommen hat, hüpft sie wie ein Jo, Jo – Spiel, ähnlich wie beim Veitstanz auf und nieder und schimpft: „Mensch, ... sag` mal riechst Du gar nichts, das Essen ist total verbrannt!?“. „Oha, das habe ich wohl vergessen, aber ich habe auch nichts gerochen“. „Na, dann weiß ich auch nicht!", flötet meine Mutter aufgelöst und kann sich nicht wieder einkriegen. „Wir haben doch schon im Wald diesen ganz tollen Duft in die Nase bekommen!“. Na, wie dem auch sei, die Küche bleibt heute kalt, schade, aber nicht zu ändern. Meine Mutter kocht noch heute ein fantastisches Goulasch, und immer, wenn ich nach ihrem Rezept ein solches für uns zubereite, denke ich an das Erlebnis von damals und es zwingt mich unwillkürlich zu einem Lächeln.

In den Ferien arbeite ich zwei Wochen im Krankenhaus, zum ersten weiß mich meine Mutter für eine Weile untergebracht, zum anderen ist es auch nicht schlecht, selber ein bisschen „Kohle“ zu verdienen. Eine Woche arbeite ich auf der Krankenstation unseres Krankenhauses und erledige dort alle möglichen anfallenden Arbeiten wie abwaschen, durchwischen der Krankenzimmer und das Essen der Patienten an ihr Bett bringen. In der zweiten Woche bin ich im Labor unter der Obhut meiner Mutter beschäftigt. Mein Bruder Hagen ist indessen bei den örtlichen Ferienspielen angemeldet. Zu Zeiten der DDR ist das eine sehr schöne Einrichtung, man muss, wenn man wie ich eine Rückblende auf sein bisheriges Leben macht bei der Wahrheit bleiben, denn es war bei weitem nicht alles schlecht bei uns, - im Gegenteil, - dazu gehört auch die Unterbringung der Kinder außerhalb der Schule, wie also in den Ferien, oder nach dem Unterricht der Hort. Dort erledigen die Kinder bis zur 5. Klasse ihre Hausaufgaben. Es gibt Arbeitsgemeinschaften verschiedener Art, Sportgemeinschaften und Clubs, wie eben zum Beispiel der vorhin erwähnte „Mädchenclub“. Bei jedem unserer Zusammentreffen gibt es ein anders Thema, man lernt, wie man den Tisch richtig deckt, wir kochen gemeinsam, hören Vorträge von einer Kosmetikerin, bekommen einen Einblick in die Krankenpflege, ... und, und, und .ect. pp. - Zurück zu den Ferienspielen, die Kinder sind wie gesagt gut aufgehoben und werden betreut, es gibt Mittagessen und es werden Spiele gemacht, bei schönem Wetter geht es ins Freibad unserer Stadt, ... und alles für eine Mark pro Tag. Schade, dass das alles wie die meisten Organisationen dieser Art mit der „Wende“ gestorben sind. Dazu gehört auch der organisatorische Ablauf, was die Kindergärten und Kinderkrippen betrifft, mancherorts werden sie einfach im Sommer für zwei bis drei Wochen, oder gar länger geschlossen, zwischen Weihnachten und Neujahr ist es oft das gleiche Spiel, aber nicht alle Eltern können zu der gleichen Zeit Urlaub nehmen und sind so gut wie aufgeschmissen, wenn keine hilfreiche Oma zur Verfügung steht, ein Zustand, der in der DDR nicht möglich gewesen wäre. -

Was macht man in den Ferien sonst noch?, .. außer den Pflichteinsätzen im Garten ist meine Freundin viel bei mir, wir schachern mit Postern, gehen ins Kino oder wenn es das Wetter erlaubt zum Baden und ich genieße mein Hobby, den Pferdesport. - Sehr gern gehen wir auch zum alljährlichen „Vogelschießen“, eine Art Jahrmarkttreffen mit Karussells, Los, - und Schießbuden, Bratwurstständen und Bierzelten. Das beliebte bunte Treiben findet jährlich Ende Juni statt. Es war immer sehr schön, aber dass wir Kinder, bzw. Jugendliche fast jeden Tag diesen weiten Weg vom Garten bis zum Festplatz mit immerhin ca. 7 km pro Wegstrecke gemacht haben, kann ich heute nur noch sehr schwer nachvollziehen. Man denkt wiedermal: Welch `unbeschwerte schöne Zeit, keine Sorgen, außer denen, die keine waren, man war jung, nicht hässlich und nichts tat weh. Ein Jammer, dass man in diesem Alter mit seiner Jugend oft nicht so recht etwas anzufangen weiß, weil man diese Dinge ohne darüber nachzudenken, als eine immer währende Selbstverständlichkeit betrachtet und demzufolge auch nicht genügend schätzt. Man denkt noch nicht darüber nach, was wohl später noch kommt, warum auch, - und das ist vielleicht letzten Endes auch gut und richtig so,... und so schließt sich der Kreis, denn wo bliebe sonst die unbeschwerte Selbstverständlichkeit genannter Dinge ?.

Am 1. September geht die Schule wieder los, ich verwende ein Zitat aus meinem Tagebuch, das werde ich übrigens im Laufe meiner Niederschrift einige male anwenden, eben dann, wenn ich etwas sehr passend bei der jeweiligen Eintragung in mein Tagebuch formuliert habe. Umgekehrt werde ich mich bemühen, bei stichpunktartiger Wortwahl meiner Tagebuchaufzeichnungen vernünftige Sätze entstehen zu lassen, sowie wörtliche Reden durch Unterhaltungen einfließen zu lassen. Montag, 1. September 1969 : Heute fing die Schule an, Scheiße ... !, übrigens habe ich mir von meinem ersten selbst verdienten Geld einen Rock und ein kleines Miniradio gekauft, einen „Mikki“. Mein Vati hat noch ein paar Mäuse dazugelegt, damit ich mir zu meinem Rock noch eine Bluse leisten konnte, … danke, Papa, das war toll von dir! ... Zitatende -

Mitte September haben wir Schulwandertag, am 30. September starten wir über unsere umliegenden Dörfer, teils mit dem Bus und aber auch zu Fuß, und das nicht gerade eine kleine Wegstrecke. Jo Jo, mein lieber Schulkamerad trägt dabei geduldig meinen Rucksack bis wir wieder zu Hause ankommen, so gegen 17.00 Uhr,- zu dieser Zeit gehört das Wandern wie bei den meisten jungen Leuten noch nicht unbedingt zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, so wie es heute der Fall ist. Am darauffolgenden Wochenende muss meine Mutter wieder langen Dienst machen, d. h. von Freitagmorgen bis Montagmittag, das bedeutet für mich ein knappes Potential an Freizeit und zudem den Spott meines Bruders, der mit helfen im Haushalt noch nicht viel zu schaffen hat. Er dreht mir eine „lange Nase“ und verschwindet mit einer Horde gleichaltriger, kreischender Bengels ich weiß nicht wohin. Meine Freundin Gisela kommt nach der Schule mit zu mir, sie muss dringend mal auf die Toilette, in der Schule sind die Toiletten eine mittlere Katastrophe. Zu Hause angekommen, " grinst " mir vom Küchentisch her ein Zettel entgegen mit der Einkaufsliste, und : Bitte die Treppe bohnern. „Na, los, ich helfe Dir, dann bist Du schneller fertig“, bietet sich Gisela an. Also gehen wir erst einkaufen , sind gerade mit der Treppe fertig, als mein Papa von der Arbeit kommt. Er freut sich, dass wir schon Kaffee gekocht haben, nur ein wenig stark ist er geworden. „Uhhh, Töchting, … der ist aber kräftig, da bleibt ja der Löffel darin stehen, aber das macht nichts, wir nehmen einfach noch ein bisschen heißes Wasser“, … typisch mein Vater, ... unkompliziert wie immer. Bevor meine Freundin nach Hause geht, halten wir uns noch bei mir im Zimmer auf, wir wollen Bilder von Schauspielern und Sängern tauschen, oder auch Filmprogrammhefte, die sich gerade großer Beliebtheit erfreuen . „Wenn du mir den Roy Black gibst, dann kriegst Du von mir ein Poster von Udo Jürgens und Gojko Mitic`, Du weißt schon, der mit dem Indianerfilm!“. Sie hält mir beide Bilder unter die Nase, so werden wir uns einig bis zum nächsten mal.

Eine Woche später soll es Hühnerfrikassee geben mit Reis, ich will mich beim Kochen versuchen und meinen Eltern eine Freude damit machen. Das Essen soll schon fertig sein, wenn meine Mutter vom Dienst kommt, also gehe ich an die Arbeit. Allerdings passiert mir dabei eine ziemlich schwerwiegende Panne, an die ich bis in die heutige Zeit hinein denken muss. Dank meiner Dummheit, bzw. noch Unerfahrenheit was Küche und kochen betrifft, schütte ich als das Huhn gar ist das Beste weg : Die Brühe, natürlich ist es jetzt unmöglich einen vernünftigen Geschmack in die ganze Angelegenheit zu bekommen. Meine Mutter schlägt die Hände über ihrem Kopf zusammen und stößt einen Schrei der Verzweiflung aus, ähnlich wie es meine Großmutter in solchen Momenten immer getan hat. Mein Vater grinst und Hagen weidet sich an meinem Missgeschick. Beleidigt verziehe ich mich in mein Zimmer, jemand klopft an meine Tür, aber ich rufe nur noch: „Lasst mich alle in Ruhe!“ . - Übrigens habe ich ein sehr schönes Zimmer, in diesen Jahren keineswegs eine Alltäglichkeit, es ist überhaupt eine sehr schöne Wohnung, - und ein gefliestes Bad zu haben, eher selten. Wenn ich meine Augen schließe kann ich mich ganz genau an die Räumlichkeiten in der Mondtalstraße in Seelstein erinnern. Es ist ein Mehrfamilienhaus, ich wohne mit meinen Eltern und meinem Bruder Hagen in der mittleren Etage, also in der Wohnung, in der bereits meine Großeltern gelebt haben. Im Parterre wohnt eine alleinstehende Frau mit einem kleinen Jungen, der alte Mann, den ich immer bei Gewitter besucht habe lebt 1969 nicht mehr. Über uns ist eine Familie mit zwei kleinen Kindern, die zu der Zeit noch zu klein sind um als Spielkameraden für uns tauglich zu sein und deshalb uninteressant sind. Zu jeder Mietpartei gehört ein kleines Stück Garten, ein gemeinsamer Hof und ein Wäscheplatz sind da, sowie eine Waschküche . Wir haben drei Keller, in einem sind Holz und Kohlen, im zweiten lagern Kartoffeln, Obst und Gemüse und das Eingeweckte. Gefriertruhen gibt es noch nicht, es wird eingeweckt, ... und zwar alles was man sich denken kann, angefangen von Erdbeeren bis zu sauren Gurken. In dieser Kellermitte ist ein Gestell aus breiten Brettern, dreistöckig, eine Obsthorde sagt man auch. Darauf liegen Äpfel aus dem Garten, manche sind haltbar bis ins kommende Erntejahr hinein. In einer Sandkiste sind Möhren und anderes Suppengemüse verbuddelt. Im Regal gegenüber stehen unzählige Flaschen mit verschiedenen selbst gemachten Säften, Marmelade und Pflaumenmus. Auch die Weinballons von meiner Oma sind noch da. Na,ja und der dritte Keller dient zum Abstellen von Handwagen, Fahrrädern und Werkzeug meines Papas. Eine schmale verrostete Treppe führt vom Hof aus an der Hausmauer nach oben ins Nichts, früher mal ein Zugang nach wohin auch immer. Bevor man von der Straße her zur Haustür eintreten kann, befindet man sich in einem recht massiven Vorbau, hier sind die Briefkästen. Über den Hausflur gelangt man zu der Holztreppe, dessen bohnern zu meinen nicht gerade sehr beliebten Standardaufgaben gehört. Oben angekommen ist die eigentliche große Wohnungstür aus Holz mit bunten Glasscheiben und man tritt in eine geräumige Diele ein.Von da aus links ist die Küche, die einen Zugang zur Speisekammer rechter Hand und einen Zutritt zum Wintergarten bietet. In der Küche selber gibt es gleich links ein kleines Ausgussbecken, daneben ist der Gasherd und wiederum daneben ein Kohleherd, darunter ist noch platz für den Dackel. An der linken Wandseite befindet sich die Abwäsche, unter der wie schon gesagt und beschrieben zu meiner Kinderzeit die Großmutter die Glucken brüten ließ. Daneben steht ein abschließbarer Kühlschrank und geradeaus schaut man durch zwei Fenster auf das kleine Gärtchen und den Hof. Rechts von der Küchentür aus gesehen steht der Küchenschrank, daneben ist der Zutritt zur Speisekammer, wo schon meine Oma oft mit Ameisen zu kämpfen hatte. Ich weiß noch, dass sie dort überall Teller mit Essig aufgestellt hatte. In der Küche selbst ist kein Tisch, wir haben einen großen Esstisch mit passenden Stühlen in der Diele. Neben der Küche links ist das Bad mit Waschbecken, ein Milchglasfenster zeigt zum Hof, darunter steht eine Perex - Waschmaschine und rechts eine große Badewanne mit Kohlebadeofen, etwas schräg rechts davor. Wie gesagt für diese Zeit ein tolles Bad, groß, gefliest und damit eine Rarität. Bäder sind noch seltene Einrichtungen, viele Menschen nutzen in der Innenstadt eine öffentliche Einrichtung, die sich damals „Badeanstalt der Werktätigen“ nennt. Bei uns wird der Badeofen am Wochenende angeheizt, im Sommer meist am Sonntag, wenn wir aus dem Garten zurück sind und in der übrigen Jahreszeit am Sonnabend. Die Haken im Bad links neben der Tür rufen immer wieder eine Erinnerung des Schreckens hervor, vor geraumer Zeit hing dort einmal zu meiner Kinderzeit ein geschlachteter abgezogener Hase, den es an einem Sonntag zu Mittag geben sollte, ich konnte keinen Bissen davon essen und mache bis heute einen großen Bogen um Hasenbraten.

Rechter Hand des Wohnungseinganges sind eine Abstellkammer mit Fenster in Richtung Hofeinfahrt und das Schlafzimmer meiner Eltern, sowie die Wohnstube, beides mit Blick zur Straße. Geradeaus der Dielentür sind das Zimmer von Hagen und das meinige. Hagen sieht von seinem Zimmer aus auf den Hof und ich auf das Nachbarhaus oberhalb der Straße. Man kommt also von der Diele aus in alle Zimmer, es ist aber auch möglich, von Hagens Zimmer aus durch mein Zimmer, von da aus in die Stube und schließlich ins Schlafzimmer der Eltern zu gelangen. Es ist schön, lässt aber in Bezug auf Möbel aufstellen nicht allzu viele Möglichkeiten zu. Aus diesem Grund fertigt mein Papa Bücherregale, die in die Verbindungstüren eingebaut werden. Wenn man in mein Zimmer kommt ist rechts ein schmales, hohes Regal, um den Platz zwischen Kaminvorsprung und Wand auszunutzen, darin ist mein ganzer Schulkram zu finden. Ein kleiner Ofen, ebenfalls auf der rechten Seite sorgt für wohlige Wärme in der kalten Jahreszeit. Links steht mein Bett, geradeaus unter den beiden Fenstern ist ein kleines Sofa mit einem Tischchen und einem Stuhl davor. Die Fenster meines Bruders, sowie das meinige haben Jalosinen aus Holz. Manchmal, wenn ich am Abend in meinem Bett liege und nicht gleich einschlafen kann, beobachte ich immer die Schatten, die an den Wänden entlang wandern, wenn ein Auto vorbei fährt, weil das Licht durch die Ritzen der Jalosie gebrochen wird. Man kann dann richtig sehen, ob ein Auto schnell oder langsam fährt.-

Dann kommt der 7. Oktober, Tag der Republik, an dem wir immer schulfrei haben. Wir schätzen den freien Tag natürlich mehr, als den Feiertag als solchen selbst. An diesem Tag läuft mir zum zweiten Male der Johann über den Weg, davor sind wir uns schon mal auf dem Markt begegnet, das ist in diesen Jahren ein beliebter Treffpunkt für uns Jugendliche. Jeder kann sein neues Kofferradio, genannt „Heule“ präsentieren, für die gegenwärtigen Verhältnisse so etwas wie ein besonderer Schatz. Am Tag der Republik, also am DDR - Geburtstag wird immer marschiert und gefeiert. Jeder Beruf und sportliche Vereinigungen, so auch ich mit dem Pferdesport, - Handwerk gestern und heute, heute bedeutet eben die sechziger Jahre und früher die Nachkriegszeit. Johann grient mich an, wie das letzte mal, das war` s vorerst. - Mittlerer weile zählen diese Jahre für mich ebenfalls als „Damals war` s“. In den nächsten Tagen ist noch eine mündliche Leistungskontrolle in Physik fällig. Wir haben einen ganz jungen Lehrer, er ist kaum älter als wir Schüler selber. Er hat eine besondere Art, mündliche Leistungskontrollen zu veranstalten. Mal nimmt er das jeweilige Datum, teilt es dann durch die gegenwärtige Uhrzeit und zeigt auf die Namensliste im Klassenbuch von oben nach unten, bleibt dann bei dem Pechvogel mit dem Finger stehen, welcher mit seinem Rechenergebnis übereinstimmt, der kommt als leidgeprüfter an die Reihe. Ein anderes mal teilt er die Anzahl der anwesenden Schüler durch die betreffende Unterrichtsstunde in der wir uns gerade befinden, oder er multipliziert die Anzahl der Unterrichtsstunden mit der Uhrzeit und teilt das Ganze durch das aktuelle Datum, usw. Bei dem Chaos weiß keiner, wann er an der Reihe ist, man muss also immer lernen, es interessiert ihn auch nicht, ob einer meinetwegen 7 Noten hat und der andere nur 2. Aber sonst ist er ganz in Ordnung, so als Mensch, von den meisten Mädchen wird er als niedlich bezeichnet, ich finde ihn eher zu weichlich, wenn man ihn so betrachtet.

Dann kommt der Geburtstag meiner Freundin Gisela am 11. 11. 1969 und damit meine erste Bekanntschaft mit dem Alkohol. Wir haben den Likör „Wilde Sau“ probiert, ein Pfefferminzlikör übelster Sorte. Gisela hat zur Zeit einen Freund, Anton, beide bringen mich nach Hause, wir lachen und kichern den ganzen Heimweg lang über Dinge, von denen ich heute nichts mehr weiß, es ist eben das Gekichere alberner Gänse, aber mit Gedanken an unbeschwerte Jahre.

Im Zusammenhang mit Alkohol erinnere ich mich noch ganz schwach an eine Begebenheit mit meiner Freundin. Kurz nachdem wir von Lescha nach Seelstein gezogen sind, ihre Oma hat Viehzeug, Hasen, Enten und auch Hühner, Gisela muss auch mithelfen, so wie ich im Garten meiner Eltern. Manchmal hilft sie mir und manchmal eben ich ihr um schneller fertig zu sein. Ich weiß noch, dass in der Nähe vom Hühnerstall eine fast volle Flasche Bier gestanden ist, von wem auch immer. Wir wollen wissen, ob die Hühner tatsächlich betrunken werden können wie bei Wilhelm Busch oder nicht. Wir haben das Bier auf das Brot im Hühnertrog geschüttet und uns dann verdünnisiert. Gisela hat mir dann nur in der Schule erzählt, dass ihr Papa gemeckert hat: „Nein das kann ich mir nicht vorstellen!“, hätte er gesagt, ob er gemeint hat, wir Kinder haben vielleicht das Bier getrunken oder ob etwas mit den Hühnern geschehen ist konnten wir nicht mehr „ermitteln“.

Das Novemberwetter ist noch so schön, wir können im Garten alles winterfest machen und aufräumen.

Am 25. November kommt meiner Mutters Schwester, Tante Lena zu uns aus Wegenstedt nach Seelstein gezogen. Meine Mutter versteht sich mit ihrer Schwester nicht besonders gut, warum können wir Kinder nicht einschätzen und verstehen es nicht, weil die Tante Lena immer gut zu uns ist, sich mit uns beschäftigt, auch mit uns Schularbeiten macht und was für uns nicht unwichtig ist, auch mal eine Mark für uns übrig hat. Nun wird die Wohnung umgeräumt, Hagen und ich können unsere Zimmer behalten. Tante Lena zieht in das ausgebaute Dachzimmer, welches Onkel Justus früher bewohnte und nutzt zusätzlich die kleine Kammer, die meine Eltern ausräumen und dessen Inhalt im Keller verstaut wird.

Am Nikolaustag haben wir Klassenabend, mein Schulfreund Hajo und ich haben die belegten Brötchen bei uns zu Hause in der Küche fertig gemacht und anschließend in einen großen Korb gepackt. Hartwig, Kerstin und Carmen holen uns mit dem ganzen Gepäck ab. Wir feiern in der Gaststätte zum „Kumpel“. - Wenn ich heute so darüber nachdenke, waren wir eigentlich damals eine recht harmlose und anständige Jugend, auch wenn uns von verschiedenen Leuten etwas anderes nachgesagt wurde. Zum Beispiel sagen sie, dass es flegelhaft sei, sich in Horden mit der Kofferheule auf den Markt zu stellen und meinen: „Schau Dir diese verdorbene Jugend an!, so etwas gab es früher aber ganz bestimmt nicht!“. Später haben die Puhdys gesungen: „Es gibt Leute, die haben vergessen, dass auch sie einst im Boot der Jugend gesessen, ... und zeigen mit Fingern verächtlich auf sie, ... die Jugend von heut` ist verdorben wie nie, … “ . Na, ja, heute sind diese Leute uralt oder nicht mehr da, aber wenn sie sehen könnten, was heute zum Teil abgeht, ... ich möchte es an dieser Stelle nicht weiter vertiefen, vielleicht später noch, wenn es gerade passt, aber ich möchte in der heutigen Zeit kein Lehrer mehr sein. Klar, kleine Streiche haben wir auch auf dem Programm, auch mit unseren Lehrern, wir verstecken das Klassenbuch und tun so, als ob wir von nichts wissen, lassen die Kreide verschwinden oder legen der Lehrerin bei der wir Vertretung haben, ein Kuhauge auf den Lehrertisch. Jo Jo hat es mitgebracht, sein Papa arbeitet im Schlachthof, wir haben es für den Bio - Unterricht gebraucht. Sie rennt natürlich uns zur Freude kreischend aus dem Klassenzimmer, holt sich männliche Verstärkung aus dem Lehrerkollektiv. Als sie mit ihrem Beschützer zurückkommt, ist das Auge natürlich nicht mehr da, beide gehen wieder und als sie allein zurückkehrt, ist selbstverständlich auch das Auge wieder da, so geht es eine ganze Weile, bis wir keine Lust mehr damit haben und Unterrichtsstunde fast vorbei ist. Einmal legt der Hajo ihr ein Drageeosterei in die Delle ihres Haarduttes, wie er in den 60iger Jahren häufig getragen wird, sie merkt es nicht und läuft die ganze Stunde damit herum und versteht unsere „gute Laune“ nicht, die den ganzen Unterricht über anhält. Ich glaube die Lehrer von Heute wären froh über solche harmlose Späße, oder nicht?. Wir Schüler foppen uns auch untereinander, meist wenn wir Sportunterricht haben, wir Mädchen schmeißen alle Schuhe der Jungs aus unserer Klasse auf einen Haufen und finden zum „Dank“ dafür unsere Strümpfe aneinander gebunden vor. Das gibt natürlich Grund zur Rache und wir nähen den Jungs die Hosenbeine zu. Das Spiel setzt sich fort bis uns nichts mehr einfällt und irgendwann fangen wir damit von vorne an, ... lustig, ... und … harmlos.

Das Jahr 1969 nähert sich seinem Ende entgegen und Weihnachten steht vor der Tür. Wie in jedem Jahr gibt es den Karpfen blau. Eigentlich möchte ich gern mit meiner Freundin Gisela und ihrem Freund Anton bei ihren Eltern Silvester feiern, aber ich darf nicht und meine Frau Mama meint: „Das kommt gar nicht in Frage, Du fährst mit nach Lescha, wir feiern bei den ehemaligen Nachbarn, Du bleibst nicht alleine hier!“. Ich bin ganz schön sauer und bitte meine Mutter: „Aber warum denn nicht, ... ich bin doch alt genug, Ihr könnt doch ruhig ohne mich fahren!“. Aber alles flehen und protestieren hilft nichts, ich muss mitfahren. Schwer betroffen und beleidigt verziehe ich mich in mein Zimmer und gehe zu Bett, wie immer wenn ich meine, dass mir ein Unrecht widerfahren ist. Ich murmele noch vor mich hin, dass ich später mit meinen Kindern nicht so streng sein werde. Als dann aber die Zeit heran ist und ich selber Kinder habe, handele ich auch nicht anders, mit 16 so ganz ohne Aufsicht der Eltern über Nacht weg bei einer Feier bleiben, finde ich dann auch nicht so ganz richtig, ... aber es setzt sich alles fort, bzw. es wiederholt sich von einer Generation zur anderen, ... und es wird immer so sein.

Nun kommt nach der für mich etwas sehr langweiligen Silvesterfeier im Kreise der " älteren " Generation das Jahr 1970 und die schriftlichen Abschlussprüfungen in der Schule nehmen ihren Lauf. Am 3. Februar 1970 schreiben wir Russischabschluss, ich gebe als zweite , kurz nach Carmen meine Arbeit ab, die ein Spaziergang für mich gewesen ist, ich schließe Russisch mit „1“ ab und denke mir, froh zu sein, wenn Mathe auch nur halb so leicht werden würde wie eben diese Russischarbeit. Es ist nicht nur ein leichtes Fach für mich, es macht auch Spaß, weil die Carmen und ich fast immer den Russischlehrer ärgern. Wir sitzen nebeneinander, schwatzen ganz bewusst laut und intensiv. Wenn der Lehrer uns aufruft, weil er denkt, er habe uns ertappt, dann können wir aber trotzdem seine Frage korrekt beantworten, wir lernen die nächsten Lektionen immer im voraus. Manchmal machen Carmen und ich auch Unterricht in den kleinen Klassen, wenn dort ein Russischlehrer ausfällt, das macht natürlich besonders viel Spaß. - Zwei Tage später schreiben wir Bio - Abschluss, auch das läuft gut mit Ergebnis Note „2“. - Nun gibt es Winterferien, Rosenmontag trifft in dem Jahr auf den 9. Februar, ich bin das erste mal allein zum Tanz, meine Freundin Gisela ist natürlich auch dabei. Dieser Rosenmontag wird der schönste in meinem Leben, obwohl mein Papa schlag 23.30 Uhr in der Tür der Gaststätte „Zum Zeppelin“ erscheint, um mich von der Veranstaltung abzuholen. Ich habe ein Katzenkostüm an, meine Freundin ist als Haremsdame gekommen, in einem langen roten Kleid. Es dauert nicht lange und ich werde zum Tanz aufgefordert, ich lasse kaum eine Runde aus. „Tanzen Sie mit mir?“, fragt eine Stimme, die zu einem jungen Mann gehört, ... ich habe meine Jugendliebe kennengelernt, ... Gerrit, er ist aus Lauen, zur Zeit auf Montage in unserer Stadt und Elektromonteur in der Lemag. Beim Tanzen sehe ich in zwei dunkelbraune Augen, ich bin das erste Mal verliebt, es beginnt eine sehr schöne Zeit in der das Leben noch unbeschwert und sorgenfrei für mich ist, … ich habe ein intaktes Zuhause, die Abschlussprüfungen laufen gut und ich habe nun einen Freund, - das Leben ist schön, … was will ich mehr?. „Schade, dass Du schon gehen musst“, sagt er und ich sehe wie mein Vater auf seine Armbanduhr zeigt, ein stummes Zeichen, es heißt: Na, nun Beeilung bitte. Ganz schnell verabreden wir uns für ein Treffen im Jugendclub, das erste Mal werde ich von einem Mann geküsst, ein bisher unbekanntes, ungewohntes, aber auch sehr schönes Gefühl. Vor jeder Verabredung bin ich sehr aufgeregt und habe das Empfinden Magendrücken zu haben, die ersten Schmetterlinge flattern durch meinen Bauch. Hand in Hand gehen wir spazieren, trinken irgendwo Kaffee, verabreden uns für gemeinsame Kinobesuche. Es ist schön, wenn er sanft meine Haare streichelt und sagt, wie schön er sie findet, mich anschaut, in den Arm nimmt und küsst. Nach einer Weile darf ich Gerrit mal mit nach Hause bringen, damit meine Eltern wissen, mit wem ich unterwegs bin, sie zeigen keine ablehnende Haltung meinem ersten Freund gegenüber, aber meine Mutter klopft öfter an meine Zimmertür und schaut herein, als ob sie kontrollieren wolle, ob nicht etwas „Unanständiges“ passiert, möchtet Ihr auch Kaffee?, fragt sie dann.

Anfang März sagt Gerrit, seine Montagezeit in Seelstein ist nun bald zu Ende, ich bin sehr traurig, aber ich glaube ihm als er sagt: „Das ist doch keine Hürde, ich komme dann eben von Lauen zu Dir herüber, so weit ist das doch gar nicht, es bleibt alles so wie es jetzt ist, ganz bestimmt“.

Am 11. März haben wir Sportprüfung, das ist schon eher mit größeren Übeln verbunden, ich schaffe es dennoch ganz gut mit Abschluss „3“. Ab und zu bleibt Gerrit jetzt auch mal an den Wochenenden bei sich zu Hause und ich warte immer ungeduldig auf seine Post, ... und noch mehr auf sein Kommen. An meinem Geburtstag, am 3. April ist meine Freundin mit Anton auch da. Gerrit schreibt, er ist um 13.06 Uhr am Bahnhof, ich möchte ihn abholen, mache mich auf den Weg. Ich bin sehr enttäuscht, denn er ist nicht gekommen, mein Papa sieht, dass mich mein Liebeskummer traurig macht, er fährt mit mir noch einmal zum Bahnhof, ... nichts. Ich bin verzweifelt, gegen 14.45 Uhr klingelt es endlich an der Haustür, … Gerrit, ... na endlich, er entschuldigt sich, er hat sich verschrieben, als er mir seine Ankunft in Seelstein mitgeteilt hat. Anderthalb Stunden können lange sein, wenn man wartet, aber nun ist doch noch alles gut, wir trinken gemeinsam Kaffee und machen zu viert einen schönen Spaziergang bis zum Abendessen. Nach 22.00 Uhr gehen Gisela und Anton nach Hause, Gerrit und ich sehen noch ein wenig fern, ich merke, dass er sehr erkältet ist, meine Mama gibt ihm eine Tablette. Sehr spät macht er sich auf den Weg, übernachten darf er allerdings nicht bei uns. „Dazu bist Du noch zu jung“, meint meine Mutter, als ich sie frage, ob Gerrit nicht bei uns schlafen kann. Dabei habe ich zu der Zeit gar nichts anderes im Sinn, als eben nur bei uns übernachten zu dürfen, meine Mama wird es mir nicht geglaubt haben.

Klar war man sehr verschossen in seine Jugendliebe, es war alles neu und wunderschön. Zu Hause bei uns wurde aber nie über nähere Kontakte, die sich naturgemäß irgendwann zum anderen Geschlecht ergeben gesprochen. Im Bio - Unterricht der Schule wurden zwar ein paar Grundlagen vermittelt, aber keine sogenannten „Verhaltensregeln“ genannt, um es einmal so zu formulieren. Meine Mutter war und ist bei diesem Thema eben etwas zugeknöpft, es liegt vielleicht an ihrer katholischen Erziehung. Jedenfalls hat sie nie offen mit mir darüber gesprochen, es schickt sich eben nicht, wurde mir gesagt. Genauso wenig haben sich meine Eltern im „Adam oder Evakostüm“ vor uns Kindern gezeigt, es wurde zu Hause nicht auswertet, was gesagte Tatsachen betreffen. Ich bin, was alle mögliche und unmögliche Probleme und Nöte anging mehr ein Papakind gewesen, weil er so eine ruhige und beherrschte Art hatte, um für alles eine optimale Lösung zu finden. Aber was die angesprochene Sache betraf, schämte ich mich als junges Mädchen doch vor meinem Vater, mit ihm darüber zu sprechen, obwohl mein Vater nicht so stark kirchlich erzogen war, … so mache ich diese Angelegenheiten mit mir selber aus. Ich komme zu dem Ergebnis, dass es wohl bedeuten muss, wenn man erst mal einen körperlichen Kontakt zu einem Mann aufgebaut oder hergestellt hat, also eine feste Verbindung eingegangen ist, dass man denjenigen auch heiratet. Meine Freundin hatte ja auch den Anton und sie wollen sich in Kürze verloben und dann heiraten, es bestätigt sich dadurch meine aufgestellte „Theorie“ . Warum ich mit meiner Freundin nicht direkt über diese sogenannte „Pikante Angelegenheit“ gesprochen habe, weiß ich heute nicht mehr. Mag sein, ... und wahrscheinlich ist es auch so, dass sich die jungen Leute heute über so viel Unkenntnis der Dinge kaputtlachen, wenn sie an dieser Stelle meiner Aufzeichnungen angekommen sind. Viele werden es nicht glauben und kopfschüttelnd abwinken, dennoch war es so. In meinem Freundeskreis und in der Schule spricht man eigentlich auch nicht offen so wie heute über das damals doch noch recht heikle Thema Sex, man macht eher Witze darüber, kichert und wird rot dabei. - Jedenfalls ist Gerrit am nächsten Vormittag um 10.00 Uhr wieder da und wir machen einen Stadtbummel, sitzen dann im Cafe` am Markt, anschließend bringe ich ihn zum Bahnhof zurück. - Dann werden die Abstände seiner Besuche bei mir immer größer, seine Briefe immer seltener, ich bin traurig darüber, aber ich mag nicht daran denken oder mir vorstellen, dass er eines Tages nicht mehr kommt. -

Am 21. April feiern wir Hagens Geburtstag, er hat allerhand Kumpels eingeladen, die nach dem Kaffee gleich wieder mit samt dem Geburtstagskind nach draußen verschwinden, es wird Räuber und Gendarm gespielt. Er hat heute keine Zeit, um mir und Gerrit hinterher zu spionieren, wie er so oft gerne tut. „Ich hab` ganz genau gesehen, dass Ihr Euch geküsst habt, ... das sag` ich alles Mutti“, versucht er mich dann immer zu ärgern und erhofft sich damit, Süßigkeiten, die sich bei mir etwas länger halten zu erpressen. Ich gebe ihm zu verstehen, dass es mir nichts ausmacht, wenn er vermeintlich petzen geht. Ich rufe: „Mach doch, mach doch!“ hinterher. Es ist doch todsicher, dass meine Mutter längst weiß, dass wir uns küssen, Gerrit und ich, sie hat uns einmal „inflagranti“ erwischt, als sie nach dem Klopfen an meiner Tür auch schon im Zimmer steht. -

Indessen steht fest, dass ich zur Berufsausbildung nach Halle gehen soll, MTA steht auf dem „Fahrplan“ meiner Mutter, die ja ebenfalls in diesem Beruf tätig ist. Sie meint, dass es gut für mich ist, gleichfalls diesen Weg einzuschlagen, … warum auch immer. Ich selber habe eigentlich keine Lust dazu, zumindest habe ich mir bis dahin noch keine wirklichen Gedanken über meine berufliche „Karriere“ gemacht. An MTA, also Med. Techn. Assistentin denke ich zuletzt, eher an einen Beruf der mit Tieren zu tun hat, oder auch Friseurin, das wäre doch etwas. Dazu hätte ich aber, wie noch ein paar andere Klassenkameraden, die Schule nach der 8. Klasse beenden müssen oder wollen. Es war in der Hinsicht attraktiv, insofern, dass man sehr bald Geld verdiente. Als ich seinerzeit den Wunsch zu Hause äußere, die Schule nach der 8. Klasse beenden zu wollen, fällt meine Mutter fast vor Schreck ins Koma und mein Vater sagt wie bei allen Dingen, die ihm unmöglich erscheinen: „Du hast wohl` nen Tick unterm Ponny“ . Also muss die 10. Klasse abgeschlossen werden und diese Debatte ist für immer beendet. Jedenfalls gefällt mir der Gedanke Laborantin zu werden auch weiterhin nicht besonders. Vielleicht findet sich doch noch eine andere Sache, als ausgerechnet der Laborberuf und ein bisschen Zeit habe ich ja noch, notiere ich in mein Tagebuch und setze dabei hinzu: … außerdem glaube ich meiner Mutter nicht so recht, dass sie mit dem Laborleiter Herrn Wegemann alles bereits abgesprochen hat und alles in Papier und Tüten ist. -

Ich zitiere mein Tagebuch vom 25. April 1970: Wie sehr hatte ich diesen Tag herbeigesehnt, nun war er endlich gekommen, ... dieser Tag, ... und er war eine große Enttäuschung für mich geworden. Gerrit kam erst gegen 16.30 Uhr, er klingelt an der Tür, wie immer dreimal. Als ich öffnete, fand ich ihn mit seinem Bruder Gero und dessen Freundin vor. Sie waren ja recht nett, aber ich wäre lieber gern mit Gerrit allein weggegangen. Dann sagte er auch noch, dass er um 18.00 Uhr wieder fahren muss. Ich hätte am liebsten losgeheult, wir gingen alle zusammen im Schlosspark spazieren, unterhielten uns über Dinge, die mich herzlich wenig interessiert haben, nur Armee und Elektronik. Am liebsten hätte ich Gero mit seiner Freundin auf den Mond geschossen. Als wir uns verabschiedeten waren wir endlich fünf Minuten allein, wir wechselten schnell ein paar unbedeutende Worte, er gab mir einen langen Kuss, der mir wie ein Abschiedskuss vorkam. Er konnte mir nicht versprechen am nächsten Wochenende wiederzukommen. - -Zitatende - . Irgendwie habe ich das Gefühl, dass da etwas auseinander gebrochen ist und ich sollte mich nicht getäuscht haben. Zwischendurch, am 4. Mai 1970 habe ich Matheprüfung, ich überstehe sie besser, als ich zu glauben gewagt habe mit einem für mich, was das Fach Mathematik angeht, ganz gutem Ergebnis. Ich schließe mit „3“ ab, mehr hätte ich nicht geschafft und wenn ich mich noch tausendmal mehr abgemüht hätte. Bei dieser Mathematikgeschichte muss ich immer daran denken, dass ich einmal unbeabsichtigt ein Gespräch meiner Eltern mitbekam, in dem mein Vater zu meiner Mutter meinte: „Na hoffentlich verdirbt sie sich ihren Gesamtabschluss nicht mit einer schlechten Zensur in Mathematik“. Meine Mutter antwortete darauf: „Ach, na, ja, ... mein Vater ist auch Kreistuberkulosearzt geworden, ... ohne Mathematik, er konnte nämlich auch nicht rechnen, …“. Sie meinte damit meinen Großvater, und ich dachte: Aha, ist ja auch gut zu wissen.-

Obwohl ich das sichere Gefühl habe, dass mit Gerrit alles zu Ende ist, hoffe ich immer noch auf einen Brief, aber der kommt nicht. Meine Frau Mama sagt, ich solle einen Abschiedsbrief schreiben, sie ist der Meinung, es gehört zu einem besseren „Bild“ eines jungen Mädchens, wenn die Angelegenheit durch „sie“ beendet wird, also befolge ich das was sie sagt. - In späteren Jahren war ich mir nicht mehr so sicher, ob das so richtig war, wie meine Mutter sagte. Zweimal bekam ich noch eine Karte von Gerrit, die eine, als er mit seinen Eltern im Urlaub war und etwas später die andere mit der Mitteilung, er habe einen Motorradunfall gehabt. Bleibt mir heute nur noch die Tatsache, dass die Zeit der Jugendliebe ein traumhaft schöner Abschnitt im Leben war, an den sicher jeder sehr gerne zurückdenkt. Diese Zeit ist mit Erinnerungen verbunden, die man nie vergisst. Gerrit war knapp zehn Jahre älter als ich und ich denke manchmal, dass er vielleicht gern etwas mehr von mir wollte, als ich zu dieser Zeit noch nicht bereit war ihm zu geben.-

Nun haben wir zwischen den Schultagen und Prüfungen hin und wieder freie Tage, damit wir für die restlichen Prüfungen lernen können. Am Freitag, den 29. Mai 1970 haben wir das letzte Mal UTP, so wird dieser Tag nach damaliger Auffassung zu einem der glücklichsten Tage meines Lebens überhaupt, … es ist nun endlich vorbei. Anfang Juni steht dann noch das Fach Deutsch auf dem Programm, das ist nun wieder ein Kinderspiel für mich. Ich weiß noch, dass im Fach Deutsch meine Mutter einmal hospitiert hat, wir haben die Inhaltsangabe des Buches „Die Gewehre der Frau Carrar“ als Hausaufgabe auf, … und zwar schriftlich. Ich weiß nicht, dass meine Mutter zum Unterricht kommt um zuzuhören, ich habe diese Hausaufgabe nicht gehabt, ich weiß allerdings nicht mehr warum. Der Lehrer ruft unseren Musterknaben auf und bittet um Vorlesung des Buchinhaltes, er erhält eine „2“. Ich komme anschließend an die Reihe, ich habe aber nichts dergleichen im Heft stehen, ich tue notgedrungen so, als würde ich vorlesen, und, … kriege eine „1“. Ich kann von Glück reden, dass der Lehrer das Heft nicht zu sehen verlangt hat, es hätte blöd ausgehen können. Übrigens habe ich mein Aufsatzheft aus der Schulzeit abgeben müssen, man wollte es in den anderen Klassen vorzeigen und mir nach Beendigung der Schulzeit zurückgeben, aber ich habe es nie wieder gesehen, geschweige denn erhalten. In Literatur ziehe ich als Prüfungsaufgabe den „ Zauberlehrling“, Rezitation und Inhaltserklärung, ich schließe auch hier mit „1“ ab, so dass der Gesamtabschluss der Prüfungen mit der Note „2“ ausfällt. Ich bin ganz zufrieden, meine Eltern auch, so endet für mich am 27. Juni 1970 die Schulzeit und ich bin der Meinung, alles lernen hat ab sofort ein Ende. Na, ja, zu dieser Zeit glaubt man das eben noch und weiß es nicht besser. Erstmal freuen wir uns auf unseren geplanten Abschlussabend im „Kumpel“ und auf die darauffolgenden Ferien. Unsere Lehrer haben wir zum Fest auch eingeladen, sie kommen gern. Es ist ein schöner Abend, wenn auch mit etwas gemischten Gefühlen, wenn man ehrlich zu sich selber ist. Es fällt uns allen nicht leicht sich für immer zu trennen, um neue Wege zu gehen. Man war daran gewöhnt, jeden Tag in der Schule zusammen zutreffen, auch nach dem Unterricht. In den Ferien sah man sich öfter und verbrachte gemeinsame schöne Stunden in den Arbeitsgemeinschaften, beim Sport oder im Jugendclub. Nun kommt der nächste Abschnitt im Leben mit neuen, ganz anderen Aufgaben, das Kapitel Schulzeit ist zu Ende und schon bald Vergangenheit. Wie schön und sorglos diese Zeit ist, … das weiß man erst wenn sie schon lange vorbei ist.- Im Juni 1970 zieht Tante Lena wieder bei uns aus, irgendwie kann sie mit meiner Mutter keinen gemeinsamen Nenner finden, was nach dem Tod von Onkel Tristan noch problematischer geworden ist. Sie bleibt aber hier in Seelstein und zieht in die Brunnengasse.

Auch 1970 arbeite ich wieder zwei Wochen im Krankenhaus, diesmal bin ich diese ganze Zeit über im Labor und habe sogar unter Aufsicht ein paar Laboruntersuchungen machen dürfen, aber ich kann mir immer noch nicht vorstellen, diesen Beruf schon bald erlernen zu müssen, um mein Geld damit zu verdienen. Es steht aber tatsächlich fest, dass ich nach Halle gehen soll, meine Mutter hat wirklich alles fest gemacht, ich hoffe trotzdem, es möge vielleicht doch nicht dazu kommen. Mein Papa hilft mir in dieser Sache leider auch nicht, er ist ein Mensch, der mit niemanden Streit haben möchte, ... und mit meiner Mutter schon gleich gar nicht, die halt doch irgendwie das Familienzepter schwingt. -

Dieses keinen Streit mit jemanden haben zu wollen, zieht eine Parallele von meinem Vater zu mir, jedenfalls tut sie das ganz, ganz viele Jahre unabwendbar, heute trifft diese Parallele nicht immer auf ihr Ziel.

Die Zwei Wochen Laborarbeit gehen sehr schnell vorüber, diesmal kaufe ich mir von dem verdienten Geld einen Rock, einen grünen Pulli und eine Strumpfhose, die ein halbes Vermögen kostet zu der Zeit, nämlich 10, - Mark, … eine Feinstrumpfhose, versteht sich. Mein Papa sponsert wie immer die fehlenden Kröten und wir gehen wieder zusammen Eis essen. Um noch einmal auf die kostbaren Strumpfhosen zurückzukommen, ist es in diesen beschriebenen Jahren so, dass man diese zum repassieren bringen kann. Man kann es sich nicht erlauben, nach jeder Laufmasche das gute Stück einfach wegzuwerfen, so wie es jetzt üblich und möglich ist, auf Grund dessen, weil es „Pfennigkram“ geworden ist. Diese Repassierabteilung ist integriert in die chemische Textilreinigung, die es in den Jahren in jeder noch so kleinen Stadt gibt. Man kann die kaputten Strümpfe oder Strumpfhosen mit den Laufmaschen abgeben und sie bald preisgünstig repariert wieder abholen.

Ich habe, als ich von meinem Arbeitstag im Labor nach Hause komme einen Brief von Gerrit vorgefunden mit der Entschuldigung für seine Schreibfaulheit, meine Mutter sieht den Brief, fragt mich nach dessen Inhalt, sie sagt mir erneut, dass ich nicht antworten soll. Ich kämpfe lange mit mir, höre dann auf meine Mutter, ... schreibe nicht zurück. Heute würde ich es anders machen, mir zumindest anhören, was er mir zu sagen hat, sich noch einmal treffen, ... miteinander reden, ... und dann entscheiden. Nun haben meine Eltern auch Urlaub, wir sind viel im Garten. Das Wetter ist gut und ich friere in der Nacht nicht mehr. Wenn wir unser Pensum geschafft haben, mit Beeren pflücken, ... oder was es auch sei, dann gibt es Freizeit, ... so wie immer. Einen Tag, es ist ein Wochenende, wir sind zu Hause in der Wohnung, es soll gebadet werden, bin ich mit meiner Freundin Gisela verabredet, wir wollen Heidelbeeren sammeln gehen, wie wir es öfter in diesen Jahren tun. Es ist ein recht heißer Sommertag, wir starten früh am Morgen mit der festen Vorgabe, nicht ohne voll gefüllte Gefäße zurückzukehren, außerdem haben wir einen ganzen Tag lang Zeit, um uns mal wieder so richtig auszuquatschen. Als wir im Wald ankommen, machen wir eine kurze Pause, nehmen einen Schluck selbstgemachten Zitronentee und legen gleich los. „Weißt Du was?“, beginnt meine Freundin ein neues Gesprächsthema, nachdem wir uns lange genug über ehemalige Schulkameraden und unsere Eltern unterhalten haben. „Nein, aber Du wirst es mir sicher gleich sagen“, gebe ich zurück. „Ich bin schwanger“, sagt sie, „was soll ich jetzt machen?“, sie schaut mich ratlos an. Ihre ohnehin schmalen Gesichtszüge wirken sehr spitz, erst jetzt fällt mir auf, dass sie auffallend blass aussieht, trotz der sonnengebräunten Haut, um die wir als junge Mädchen immer wetteifern. Wir halten dann immer unsere Arme nebeneinander, „Ich bin brauner als Du“, meint dann der „Sieger“ der dunkleren Hautfarbe. „Weißt Du es ganz genau?, ich meine, weißt Du genau, dass Du schwanger bist, vielleicht hat sich alles nur verschoben, kommt doch auch mal vor, … oder?“, versuche ich sie aufzumuntern. „Nein, nein, es ist hundertprozentig, ich war doch schon beim Arzt“. „Hast Du gar nichts gemerkt?, ich meine, war Dir nicht mal schlecht, oder so etwas?“, möchte ich meine Anteilnahme an ihrem Schicksal bekunden. Für mich selber denke ich: Gott sei Dank bin ich es nicht! „Nee, mir war und ist überhaupt nichts weiter, nur meine Tage sind ausgeblieben, aber das hatte ich auch schon ein paarmal gehabt, wie Du weißt“. „Na, dann ach du Feuer aber auch", meine ich, „ ... und jetzt, ... was willst Du nun machen?“, setze ich hinzu. „Es bleibt mir ja nichts anderes übrig, als meine Lehre zu unterbrechen, im Dezember muss ich dann erst mal aufhören, ... im Februar soll das Baby kommen, mein Lehrvertrag ist schon fest bei der Agrotechnik in Schützendorf“. Dabei fällt mir die Misere mit Halle wieder ein, aber ich übergehe das Thema, das Problem meiner Freundin ist momentan das sichtlich größere und so sage ich nichts zum Drama Labor. „Und Dein Anton, was sagt Dein Anton?, weiß er schon, dass er Papa wird, ... nun müsst Ihr auch heiraten nicht wahr?“. „Ja, ja, aber ich glaube, er kann noch nicht so recht etwas damit anfangen, ich kann es mir ja selber noch nicht vorstellen“, meint sie. „Ich hoffe, dass Du Dich wenigstens auf Deinen Anton verlassen kannst, wo wollt Ihr denn überhaupt bleiben mit Eurem Baby?, ich meine, wo könnt `Ihr wohnen?“. „Anton hat eine kleine Wohnung in der Kantstraße, Du weißt` doch, ... die von seiner Oma, zwei Zimmer, ... das muss eben erst einmal reichen, - und baden kann ich das Baby in der Küche, besser als nichts“. „Ja, das stimmt wohl, wenigstens etwas eigenes, das ist schon ein Glückstreffer“. Mittlerer Weile haben wir unsere Gefäße so ziemlich voll, wir machen noch eine Pause, essen unseren restlichen Proviant auf. Dann sagt Gisela: „Los, jetzt sehen wir zu, dass wir unsere Pflückgefäße noch voll kriegen“ und erkundigt sich im gleichen Atemzug nach Gerrit. „Was macht eigentlich Gerrit?, hast Du noch etwas gehört von ihm?“. „Ach, ich hab` s sein gelassen, ich habe noch einmal einen Brief bekommen, da hat er sich nochmal entschuldigt für seine Schreibfaulheit und auch nochmal gesagt, dass er einen Motorradunfall hatte“. „Na, und weiter?“, will Gisela wissen, „hast Du geantwortet?“. Ich schüttele den Kopf, „Nein, … meine Mutter hat gemeint, ich soll es nicht machen". „Du machst alles, was man Dir sagt, nicht wahr?, ich hätte wenigstens geantwortet“, gibt sie ein wenig vorwurfsvoll zurück. Wir treten den Heimweg an, unsere Gefäße, einschließlich der Pflückgefäße sind voll. Meiner Freundin lässt das Thema Gerrit keine Ruhe. „Weißt Du was?, wir fahren morgen zusammen nach Lauen, … Du hast doch die Adresse, dann werden wir ja sehen, ob er gelogen hat oder nicht!“. „Mmmm, ... ich weiß nicht“, beginne ich zu zögern. „Los, sei nicht so feig!“, ich bekomme einen Knuff in die Rippen. „Na, gut, vielleicht hast Du recht, Du hast gewonnen !, dann bis morgen!", rufe ich ihr zu bevor sich unsere Wege trennen. Ich gehe den Rest des Weges allein, es wird bereits dunkel als ich zu Hause ankomme. Voller Stolz will ich gerade meine reiche Beute präsentieren, als meine Eltern wie aus einem Munde rufen: „Um Gottes Willen, wo kommst Du denn so spät her?“, meine Mutter stemmt ihre Arme in die schon damals etwas fülligen Hüften, „wir wollten schon die Polizei holen, weil wir dachten, es ist etwas passiert!“. Hagen kaspert hinter dem Rücken meiner Mama und ahmt ihre Gestik nach bis er von meinem Vater entdeckt und zurechtgewiesen wird. „Was soll denn passiert sein?“, gebe ich die Frage zurück. „Ihr wisst doch, dass ich mit Gisela unterwegs war“. Ich halte meinem Vater die Pracht unter die Nase. „ … Aber, so spät, ... Mädchen, wir haben uns Sorgen gemacht“. Er schielt dabei über den Rand seiner Brille, so wie immer, während mein Bruder noch immer umher hüpft und dauernd wie ein Echo „Sorgen gemacht, Sorgen gemacht, Sorgen gemacht“, triumphiert bis es auch meiner Mutter zu bunt wird und sie „Ruhe jetzt!“ anordnet. Mein Papa schaut in die Viererrunde. „ … Ja, ... nun, ... na lass `gut sein, aber das nächste Mal kommt Ihr halt nicht so spät!“. - Daran, dass man sich Sorgen machen könnte, war in diesen Jahren von uns noch nicht nachzuvollziehen, daran haben wir überhaupt nicht gedacht und verstanden demzufolge auch nicht, was für Ängste die Eltern ausgestanden haben. Man muss erst selber Kinder sein eigen nennen, bevor man es versteht. Trotz allem und allen Unverständnisses, entschuldige ich mich und gelobe, dergleichen nicht mehr vorkommen zu lassen. Fast traue ich mir nicht zu sagen, dass ich am nächsten Tag wieder mit Gisela verabredet bin, aber sie winken nur ab. Dass wir wegen Gerrit nach Lauen fahren wollen verrate ich aber doch lieber nicht. Es bleibt ein Geheimnis, ich habe das Gefühl, meine Mutter wird dieses Vorhaben sicher nicht befürworten. Je mehr ich im Bett liegend darüber nachdenke und die erwähnten „Fahrenden Schatten“ an meiner Wand beobachte, finde ich, dass Gisela recht hat und man vielleicht doch Klarheit haben sollte. Wir machen uns am nächsten Tag auf, um nach Lauen zu fahren und Gerrit ausfindig zu machen. Die Straße, Syndermannstraße, so heißt sie und auch die Wohnung haben wir sehr schnell gefunden, ich will kurz davor doch noch einen Rückzieher machen. Gisela sorgt dafür, dass das Vorhaben, nun auch zu klingeln in die Tat umgesetzt wird. „Du wirst jetzt nicht kneifen!“. Sie gibt mir einen Schubs und klingelt selber an der verschlossenen Haustür. Bald darauf schaut jemand aus dem Fenster, es kann seine Mutter gewesen sein. Wieder bekomme ich einen heftigen Stoß von meiner Freundin. „Guten Tag, … ist der Gerrit da?“, höre ich mich fragen. Ich bin schon etwas aufgeregt als er zu uns herunter auf die Straße kommt. Das mit dem Unfall scheint zu stimmen, sein Bein ist verletzt und an der Nase ist er wohl genäht worden. Er ist sichtlich erstaunt und unvorbereitet, es kommt mir so vor, als ob ihm unser Besuch nicht recht ist, denn er bittet uns nicht herein. Er meint, er habe wenig Zeit und er müsse gleich weg. Wir sprechen noch ein paar belanglose unwichtige Worte, ich weiß sie nicht mehr. Meine Freundin sagt noch auf dem Weg nach Hause: „Seine Finger sind aber nicht kaputt, er hätte Dir gleich mitteilen können, dass er einen Unfall hatte, wenn es nicht ging, dann hätte er auch jemanden damit beauftragen können, damit Du Bescheid weißt, na ja irgendwie ist alles dumm gelaufen bei Euch, Ihr hättet eben gleich reden müssen“. -

Ja, was wäre nun richtig gewesen?, das kann man sicher nicht mehr beantworten, denn niemand ist eigentlich wirklich schuld daran. Die Flügel der Jugendliebe sind eben meist nicht kräftig genug, um für immer zu halten, ... wie schon gesagt, denke ich trotzdem gern an diese, meine erste Liebe zurück, die ja in den meisten Fällen nicht die Liebe des Lebens ist und bleibt. In dieser Zeit denkt und glaubt man aber noch an dessen Ewigkeit und muss das erste Mal lernen was Enttäuschung ist. Es ist ein Vorgang, der sich in jeder Generation wiederholt, man sollte jedem diese Illusion mit dem Glauben an die ewig dauernde Liebe lassen, jeder hat das Recht auf diese Erfahrung, die man mit den Worten: Das ist sowieso nicht die letzte Liebe, zerstören darf. -

Auf dem Weg nach Hause mache ich noch mit Gisela aus, dass wir uns in zwei Tagen auf dem großen Platz am Fluss treffen wollen, dort gibt gerade ein Zirkus sein Gastspiel, eine willkommene Abwechslung. Es bringt wieder ein Ereignis mit sich, was nicht gerade das Wohlwollen der Eltern auf meine Seite zieht. Die Gelegenheit, doch noch um die leidige Tatsache, schon bald nach Halle zu müssen herum zu kommen, scheint greifbar zu sein. Das wäre doch etwas für mich, ich kann Tierpfleger werden und dann mit den Pferden arbeiten, Hohe Schule reiten, ... eine prima Sache. Ich triefe so vor mich her, warte auf meine Freundin, die jetzt in der großen Pause während der Vorstellung zur Toilette gegangen ist. Ich begegne in diesem Moment einem ganz tollen jungen Mann, wir flirten ein wenig, nachdem er mich eine Weile beobachtet hat, als ich mich gerade in einem „Loch in der Luft festgeguckt“ habe. Er arbeitet hier im Zirkus als Pfleger der Raubtiergruppe, wir sprechen über die Tiere und den Menschen ,die in ihren Wohnwagen leben. Ich schaue in sein sonnengebräuntes Gesicht, umrahmt von schwarzen , lockigen , halblangen Haaren. Zwei muntere dunkelbraune Augen bringen mich ein wenig in Verlegenheit. Ein Junge, der einfach der Traum eines jeden jungen Mädchens ist, ich bin unsicher und weiß nicht, ob ich ihn noch weiter ansehen soll oder nicht, bzw. wie ich mich überhaupt verhalten soll. Er legt einen Finger unter mein Kinn und hebt damit mein herabgesenktes Gesicht wieder an, so dass ich ihn wieder anschauen muss. „He, Süße“, sagt er dabei, dann nimmt er meine Hände: „ … Du gefällst mir, … wie heißt Du?, komm` doch mit uns, wir können gleich mit dem Direktor sprechen, wir finden einen Platz für Dich in unserer Mitte“. „Ja, aber, … aber, … und meine Freundin?", entgegne ich überrascht und zeige auf Gisela, die gerade auf uns zukommt. „Auch für Deine Freundin findet sich etwas, ... es wird Euch gefallen bei uns“, ermuntert er mich, während Gisela ungläubig in die kleine Runde schaut, sie weiß nicht, worum es gerade geht. Der junge Mann klärt sie über unser vorangegangenes Gespräch auf, aber meine Freundin weiß noch immer nicht so recht was eigentlich los ist. „Du könntest zu Anfang den Wohnwagen mit Alina teilen, sie arbeitet mit den Seelöwen und Ihr werdet Euch beide bestimmt mögen und gut verstehen“. - Nach der Vorstellung lotst uns der junge Mann zum Direktor, es ist ein schlanker Mann mittleren Alters und sieht eigentlich nicht wie ein Zirkusdirektor aus. „Na, Ihr Mädchen“, sagt er, „Ihr könnt `Tierpfleger lernen bei uns und dann werden wir weitersehen“. Es gefällt ihm, dass ich auf seine Frage, ob ich schon etwas mit Tieren zu tun gehabt habe vom Pferdesport erzählen kann. Er nickt und sagt dann: „Ihr müsst Euch aber schnell entscheiden, denn übermorgen bauen wir ab und ziehen weiter. Außer Eurem Zeugnis brauche ich auch noch von Euch die Einverständniserklärung Eurer Eltern, ... dass Ihr auch mitfahren dürft, … Ihr seid noch nicht volljährig“. Der Junge, von dem ich nicht einmal weiß wie er heißt, legt seinen Arm um meine Schulter und verabschiedet sich mit den Worten: „Na, dann mach` s gut, Süße, bis morgen, ich freue mich auf Dich und … ich warte auf Dich!“. „Na wie is?, fährst Du mit?, das war ja ein toller Hecht, mit dem Du gerade geschekert hast“, stellt Gisela halb fragend fest, nachdem ich ihr ausführlich von dem von ihr verpassten Gespräch erzählt habe. „Natürlich, würde ich das schon sehr gerne, ich hoffe, dass mich meine Eltern mitfahren lassen, … ist ja blöd das mit der Einverständniserklärung, aber Du, was machst Du?", frage ich sie als wir den Heimweg angetreten haben. „Dass ich mit darf , denke ich schon, ich bin ein halbes Jahr älter als Du und außerdem schwanger, wenn ich 18 bin heirate ich zwangsläufig, wer soll mir da noch etwas verbieten, … höchstens der Anton, ... ich weiß nicht ob er davon so begeistert ist, aber man kann alles regeln, vielleicht klappt es später noch, ... oder er kommt auch mit, … ich hab` eigentlich keine Ahnung im Moment, … unterbrechen muss ich die Lehre so oder so, egal was ich anfange". Sie überlegt einen Augenblick. „Aber Du, an Deiner Stelle würde ich auch nicht lange überlegen, wäre doch super, auf Halle hast Du sowieso keinen Bock und so einen tollen Typen ausschlagen würde ich schon gar nicht“. „Es hängt nur leider von meinen Eltern ab, das wird schwer werden, besonders meine Mutter wird sich querstellen“, beginne ich zu zweifeln und in meinem Kopf dreht sich alles. „Deine Mutter wird den Vertrag mit Halle bestimmt rückgängig machen, ist doch ein schöner Beruf, wenn Du Tierpfleger lernen willst, oder vielleicht sogar Pferdewirt, ... ich meine, das ist doch auch o.k.“. Unsere Wege trennen sich, Gisela ruft mir ein: „Wird schon klappen!“hinterher. Daheim eingetroffen eröffne ich voller Stolz: „Ich habe mir selber eine Lehrstelle gesucht, ich kriege einen Arbeitsplatz im Zirkus!“, mit ehrlicher Begeisterung füge ich hinzu: „Ich werde mit Pferden arbeiten können, … später einmal, wenn ich meine Lehre fertig habe, morgen am Abend muss ich mit gepackten Koffern da sein, da geht es los!“. Meine Mutter lässt beinahe die Schüssel fallen, die sie gerade in den Händen hält, sie schachelt sofort los: „Du bist wohl nicht ganz gescheit, was ist denn das wieder für eine absurde Idee, ... in zwei Wochen geht es auf nach Halle, Du weißt doch, dass alles feststeht, denkst Du es war so einfach, Dich dort unterzubringen mein liebes Fräulein!, … Helmfried, … sag` doch auch mal was!“. Ich verstehe die ganze Aufregung nicht, ich sehe mich hilfesuchend nach meinem Vater um, der nach dem Entsetzensschrei meiner Mutter aus der Stube in die Diele gekommen ist. Meine Mutter setzt ihre Schimpfkaskade fort: „Du bist außerdem noch nicht einmal volljährig, Du kannst nicht allein und überall in der Weltgeschichte herumziehen, ... und das noch dazu mit einem Zirkus!“. „Aber warum denn nicht?, wenn ich nach Halle muss, bin ich doch auch unterwegs und nicht zu Hause, man kann doch den Vertrag mit Halle sicher rückgängig machen, und außerdem ...“. Meine Mutter lässt mich gar nicht erst ausreden. „Das ist etwas ganz anderes!“, ereifert sich meine Mutter, die schon einen ganz roten Kopf vor Zorn hat. „Ich darf also nicht mit dem Zirkus mitreisen, damit ich Tierpfleger werden kann?, ... ich kann dann weitermachen, ... und später mit Pferden arbeiten!“. „Das kommt alles nicht in Frage, Du bleibst hier, ... und fertig aus!, das fehlte gerade noch, eine Herumzieherei in der Weltgeschichte!“. Sie stellt lautstark die Schüssel ab, man Vater verschwindet, wie er gekommen ist und sagt kein Wort. Ich bin enttäuscht, traurig und zugleich sauwütend, ich renne in mein Zimmer und schlage die Tür hinter mir zu, mein Papa kommt hinterher und sagt mit gewohnter Ruhe: „Sofort kommst Du zurück und machst die Tür leise zu“. „Papa, … Papa, ... ich …“. Ich will noch einmal eine Diskussion anfangen, aber mein Vater hebt nur die Schultern um sie gleich wieder fallen zu lassen, ... „Du musst verstehen, dass das, …“. „Ja... ich muss nach Halle, ... ich weiß schon, …“, beende ich den angefangenen Satz meines Vaters. Ich mache die Tür hinter ihm zu und komme an dem Abend nicht mehr heraus aus meinem Zimmer, ich gehe, wie immer wenn ich Probleme habe ins Bett und vergrabe mein Gesicht im Kopfkissen. Ich verfluche Gott, die ganze Welt und mich selber. Warum bin ich noch nicht volljährig?, warum kann ich meine Entscheidungen noch nicht alleine treffen?. Ich nehme mir vor, später meinen Kindern keine Vorschriften zu machen, welchen Beruf sie lernen möchten.

Nur Ratschläge werde ich meinen Kindern geben, wenn sie soweit sind und ihre Berufswahl vor der Tür steht, ... Ich nahm es mir vor, … und ich realisierte es auch. - Oft denke ich noch heute darüber nach, was geworden wäre, wenn ich hätte mit dem Zirkus mitfahren dürfen. Wie wäre mein Leben dann verlaufen?, ... ob der junge Mann auf mich gewartet hat?, ich habe es nie erfahren, aber oft an ihn gedacht, vielleicht wäre er mir ein guter Freund oder Lebenskamerad geworden und vielleicht wäre mir somit viel Ungerechtigkeit, die ich später zu spüren bekommen sollte erspart geblieben. Hätte sich der Wunsch, ein Leben mit den Pferden erfüllt?. Wer weiß das alles schon ?, es kann niemand beantworten, wie dem auch sei. Ich hatte damals als junges Mädchen oft die bildliche Vorstellung, wie der Junge aus dem Zirkus auf mich gewartet hat und ich zu Hause bleiben musste. Ich kann im Nachhinein durchaus sagen, dass mir diese kurze Begegnung und dessen schmerzlicher Ausgang mehr weh getan hatte, als die Tatsache, meine Jugendliebe Gerrit verloren zu haben. Na, ja , so war es halt, aber ich denke noch heute so manches Mal an diesen zerbrochenen Traum. -

Meine Freundin hätte den ganzen Ablauf, was mit ihrem Anton und der Schwangerschaft zusammenhing ordnen können, aber sie blieb wegen mir dann auch da und begann ihre Lehre in der Agrotechnik.-

Mit dem zerbrochenen Traum vom Zirkus, dem tollen jungen Mann und den Pferden, sowie der für mich unabwendbaren Tatsache, die Lehre in Halle antreten zu müssen geht der August und damit der Sommer 1970 zu Ende. Im Garten feiern wir so etwas wie meinen Abschied, denn nun soll es endgültig ernst werden. Am Freitag, den 4. September geht die „Post“ ab nach Halle. Meine Eltern und Hagen bringen mich vor Ort. Mein Papa schimpft unentwegt über die schlechte, unübersichtliche Verkehrsführung wegen der vielen Einbahnstraßen. Nach ewig langer Hin - und Herfahrerei haben wir das Internat, indem ich meine nächsten zwei Jahre zubringen soll gefunden. Es liegt in einer dunklen Gasse, die auch noch Sohlengasse heißt. Ein finsterer Eingang führt in einen großen dunklen Flur, dann geht es eine Treppe nach oben, es kommt noch einmal eine große Tür zum Korridor, man gelangt in etwas Ungewisses, jedenfalls habe ich dieses Gefühl. Ich bin die erste, die eintrifft, kann mir ein Bett aussuchen. Mein Tagebuch habe ich mitgenommen und zitiere daraus folgende erste Eintragung in Halle: Freitag, 4. September 1970: Natürlich habe ich mein Tagebuch mit nach Halle genommen. Ich wohne hier mit fünf anderen Weibern im Zimmer, wir haben Doppelstockbetten. Waschen müssen wir uns in der Küche, drei Waschbecken für 28 „Mann“, denn so viel Lehrlinge sind wir hier auf dem Flur, drei zweiflammige Kocher sind noch vorhanden und ein Kühlschrank. Unser Ausgang geht bis 20.30 Uhr, wir haben Schlüssel. Ins Kino dürfen wir nur mit besonderer Genehmigung, weil die Abendvorstellungen unsere Ausgangszeit überschreiten. Die Fenster müssen ab 21.00 Uhr geschlossen sein, bzw. ab dieser Zeit darf nicht mehr hinausgesehen werden. Ich komme mir vor wie im Kloster, es fehlt nur noch die Nonnenbekleidung. Unterricht haben wir von 8.00 bis 16.00 Uhr. - Zitatende - .

An jenem Wochenende fahren alle, mit denen ich das Zimmer teilen soll noch einmal nach Hause, ich weiß gar nicht so recht, wie ich die Zeit tot schlagen soll und entscheide mich am Sonnabend für den Zoo. Es ist sehr schönes Wetter, ich halte mich den ganzen Tag dort auf. In der Nacht kann ich nicht schlafen, ein fremdes Bett und eine ungewohnte Umgebung. Ich denke an die bevorstehenden zwei Jahre, an den feschen Burschen aus dem Zirkus, heule und jammere vor mich hin. So liege ich ziemlich die ganze Nacht wach, starre noch immer laut heulend mein Leid entladend im Zimmer umher und vermisse die wandernden Schatten in meinem Zimmer zu Hause. Hier fällt nur ein spärliches Licht einer Straßenlaterne durch die hässliche Gardine in eine Zimmerecke und zeichnet die Umrisse des dort stehenden Doppelstockbettes ab. Was mögen das für Mädchen sein, die schon bald in diesem und dem dritten Doppelstöcker schlafen werden?. Ich denke darüber nach, aber es gelingt mir nicht, es mir vorzustellen, erst recht nicht, dass ich es zwei Jahre aushalten soll. Am liebsten möchte ich einfach aufstehen und abhauen, ... noch diese Nacht. Am Sonntag stehe ich etwas später auf, ich habe erst so gegen Morgen ein wenig Schlaf gefunden. Ich ziehe mich an und gehe in die Stadt, die Sonne hat mich herausgelockt, ich schlendere den ganzen Tag umher. Als ich zurückkomme wärme ich mir, ... schon wieder heulender Weise das Essen auf, was mir meine Mutter mitgegeben hat. Kurz darauf kommt auch die erste Mitbewohnerin, ich fühle mich irgendwie durch sie gestört. Es ist gewöhnungsbedürftig mit fünf anderen, die nacheinander eintreffen, das Zimmer zu teilen. - Wenn ich heute die Augen schließe, kann ich dieses Zimmer noch genau vor mir sehen. Die drei Doppelstockbetten, eins davon links und eines rechts vor dem Fenster, das dritte steht auch links, vor diesem, wenn man es von der Tür aus betrachtet, hier schlafe ich im unteren Teil. Auf der rechten Seite vom Zimmereingang hergesehen ist ein Schrank mit sechs Einteilungen, für jeden von uns ein Fach, aber mit sehr wenig Platz, außerdem knarrt die Tür bei jeder Bewegung. Vor meinen Bett links an der Wandseite ist ein Spiegel. In der Zimmermitte steht ein großer runder Tisch mit einer alten ausgefransten und ausgeblichenen Tischdecke. Auf diesen Tisch schüttet jeder zunächst wenn er von zu Hause kommt, seine mitgebrachten Habseligkeiten von daheim in Form von allen möglichen Fressalien aus. Es wird von allen begutachtet, oft wird getauscht.-

Ich weiß noch sehr genau, wie meine damaligen Zimmergenossinnen ausgesehen haben und wie sie hießen, auch woher sie kamen. Im vorderen ersten Bett, also in dem ich im unteren Teil mein Nest habe, schläft über mir die Doris aus Dessau. Sie ist sehr ruhig und verschlossen, hat blonde Haare die zu einem „Karlchen“, wie man sagte zusammengesteckt sind. ( Ein kleiner, mit Haarklammern gehaltener Dutt ). Im Bett vor mir, links vor dem Fenster haben oben Ramona und unten Sonja ihre Behausung, beide sind aus Sangerhausen. Ramona ist groß und dünn, sie isst immer trockenes Pulver das für Babynahrung gedacht ist. Sonja ist klein und pummelig, ein guter Theoretiker, aber praktisch in allen Dingen sehr ungeschickt. Im rechten Bett pennen oben Ines, unten Sandra, aus Naumburg sind sie beide. Ines ist groß und schlank, sie hat nur ihre Frisur im Kopf, Sandra ist klein und zierlich, macht nur das, was Ines ihr sagt. -

Am ersten Tag der Schule ist noch nicht sehr viel los, wir bekommen allgemeine Hinweise, Stundenpläne usw. In Chemie haben wir eine komische Person, sie spricht immer gaaaaaanz laaaangsaam und sagt nach jedem Satz: Ach Ihr Guuuuten. Endlich ist die erste Woche um und ich kann mir noch immer nicht vorstellen, dass noch so viele davon kommen sollen. Nach langem grübeln bekomme ich schließlich eine Idee, ich sage zu Hause, dass zwei Lehrer krank sind und wir vorerst keine Schule haben. So schnell wird es sicher nicht auffallen, dass ich nicht da bin, denn nach einer Woche kennen uns die Lehrer bestimmt noch nicht so genau, - gesagt, getan, genauso setze ich mein Vorhaben in die Tat um und schildere zu Hause, warum ich nach dem Wochenende nicht zurück nach Halle fahre und warum der Unterricht ausfällt. Während meiner Untätigkeit zu Hause überlege ich, was ich weiter tun kann, um bloß nicht wieder nach Halle zu müssen. Am darauffolgenden Freitag, als meine Mutter zum Dienst ist und mein Vater von der Arbeit kommend den Briefkasten leert, ohne dass ich es mitbekommen habe, sagt er zu mir: „Töchting, könntest Du für uns eine Tasse Kaffee kochen?“. Ich sage ja, es ist nichts ungewöhnliches mit meinem Vater Kaffee zu trinken wenn sich die Gelegenheit bietet. Es ist nicht außergewöhnlich, wenn ich so wie früher während der Schulzeit den Kaffee fertig mache, also denke ich mir nichts dabei. Als der Kaffee fertig ist, der Tisch gedeckt und sich mein Vater zu mir gesetzt hat, fragt er: „Du, ... sag` mal, ... habt Ihr schon Bescheid bekommen, ob Ihr nächste Woche wieder Schule habt?“. Etwas unsicher geworden antworte ich: „Nnnnneiiin, wieso?“. Wieder lugt mein Vater wie immer in solchen Augenblicken über den Rand seiner Brille: „Mmmmmm, ... weil heute Post da ist von Halle, … aber es steht da nichts von einem Unterrichtsausfall, ...“. Er macht eine sehr vielsagende Pause, „sondern, dass Du nicht am Unterricht teilgenommen hast, ... und man fragt nach ob Du krank bist“. Ich merke, wie ich langsam rot im Gesicht werde und fange an zu stottern: „ … Ja, ... ich, ... ich wollte, ...“. „Na, nun stottere hier nicht umher, Du hast schlicht und einfach geschwänzt, ... so nennt man das doch wohl, wenn man nicht dahin geht, wohin man eigentlich sollte, ... oder?, ... nämlich zum Unterricht!“. Er mustert mich einen Moment und sagt: „Mädchen, ... Mädchen, mache bitte bloß keinen Ärger, geh` zu Deiner Ausbildung, ich bitte Dich, ... wenn Du damit fertig bist, dann kannst Du Dir ja immer noch überlegen, ob Du etwas anderes machen willst, … lasse das nur nicht die Mutti hören, ... Du weißt dann gibt es einen riesengroßen Ärger, bitte, tue mir den Gefallen und fahre nächste Woche wieder nach Halle, ... Du machst das schon“. „ … Mm, jaaa, jaaaaa, aber was mache ich jetzt?, was soll ich denn dort sagen, ... weil ich halt nicht da war, ... in der Schule meine ich“. „Na, ja, diese Überlegung fällt Dir allerdings recht spät ein, ... na gut, ... wenn Du mir versprichst, dass das nicht noch einmal vorkommt, dann schreibe ich Dir eine Entschuldigung, ... und sage es auch nicht der Mutti, dann ist eben nächste Woche wieder Schule, … o.k.?“. „Danke, danke, Papa, dass Du mir hilfst und dass Du es nicht der Mutti sagst“, verlegen umarme ich meinen Vater. „Ja, ja, ... nun ist schon gut, aber vergesse nicht unsere Abmachung, ... und nun lass uns den Kaffee austrinken bevor er kalt wird“. Ich habe mich an diese Vereinbarung gehalten und ging von fort an wieder zum Unterricht, auch wenn es mir noch immer widerstrebte, auch mein Papa hielt sich an sein Versprechen, bis zum heutigen Tag hat meine Mutter nie etwas von dieser leidigen Angelegenheit erfahren. - Ich gebe mich geschlagen, die Wochen in Halle vergehen, wenn auch sehr zäh und langsam fließend. Jeden Freitag freue ich mich auf zu Hause, um zu aller erst einen Sturm auf den Kühlschrank vorzunehmen. Das nach Halle mitgebrachte Essen vom Wochenende daheim reicht bestenfalls zwei Tage,dann hat niemand mehr auch nur noch einen schäbigen Rest. Wir gehen dann immer, nachdem alles aufgegessen ist ins Cafe` „Franz“, das ist gleich neben der Schule, dort kaufen wir uns Rumkugeln oder Granatsplitter, die sind billig und machen satt. Innerhalb dieser zwei Jahre Fachschulzeit habe ich mir sicher nicht als einzige diese Dinger über gegessen, so dass ich bis heute einen großen Bogen darum mache. Es gibt auch eine Mensa, aber die Mittagspause ist zu knapp und der Weg dahin zu weit, um am Essen teilnehmen zu können, also bleibt nichts anderes übrig als diese ständige und leidige Rumkugelalternative. -

Mit der Zeit gewöhne ich mich an meine Ausbildung, wenn sie auch nicht gerade ein Euphorie in mir hervorruft. Allerdings nervt mich das Internatszimmer samt aller fünf Zimmerinsassen, sowie die anderen Klassenkameradinnen aus meiner und der Parallelklasse in den anderen Zimmern, auf dem endlos erscheinenden langen fensterlosen Flur. Es ist unmöglich, wir sind 28 Schülerinnen, drei Waschbecken für alle in der Küche sind ein schlechter Witz, ebenso die drei Gaskocher. Man ahnt, was kommen muss, das Wasser zum waschen muss in großen Töpfen heiß gemacht werden, eben mit diesen Kochern. Einer aus unserem Zimmer muss immer in der Küche Wache sitzen, damit das heiße Wasser nicht von einem der anderen Zimmer „gemaust“ wird. Es passt eigentlich so gut wie immer zusammen, dass der, der gerade mit Körperpflege beschäftigt ist, von einem anderen, der sich Spiegeleier fertig macht, die Fettspritzer am Hintern hat und dafür schleudern als Gegenleistung Seifenreste des anderen in Richtung Bratpfanne, weil der Abstand zwischen Waschbecken und Gaskocher sehr gering ist.

Jeden Freitag nehmen wir die gepackten Taschen mit in die Schule, um dann sofort zur Straßenbahn „stürzen“ zu können, damit wir den Zug nach Hause erreichen. Manchmal ist die Zeit sehr knapp, aber zu der Zeit kann man noch, ... auch mit schwerer Tasche rennen. Oft schaffen wir es nicht mehr, Fahrkarten zu lösen, das besorgt sowieso immer nur einer von uns, sodass für die jeweilige Fahrtrichtung für zwei bis drei Leute nur eine Fahrkarte vorhanden ist. Aber wir schaffen es immer irgendwie. Wenn Kontrolle kommt, hat einer die Karte, die anderen quetschen sich solange in die Toilette bis die Gefahr vorbei ist. -

An einem trüben Freitag im November 1970 erwarten mich zu Hause erschreckende Nachrichten: Mein Bruder Hagen ist schwerkrank, eine Diagnose mit Todesurteil: Leukämie, eine Blutkrankheit, auch bekannt als Blutkrebs, für dessen Behandlung es in diesen Jahren noch so gut wie keine Heilungschancen gibt. Zu dieser Zeit kann ich mir noch gar nicht vorstellen, was das zu bedeuten hat, noch viel weniger kann ich mich an den Gedanken gewöhnen, dass Hagen eines Tages, in nicht all` zu ferner Zeit auf einmal nicht mehr da sein würde. Es ist unfassbar für uns alle und seit jenem Tag ist eigentlich nichts mehr so wie es mal war. Meine Mutter wird in ihrem Wesen noch resoluter, oft ungerecht in ihrer ganzen Art und Weise zu sich selbst, ... und auch anderen gegenüber, mein Vater noch ruhiger und in sich gekehrter, aber immer besonnen und ausgleichend. Ich fühle mich durch die Sorgen und Nöte meiner Eltern wegen der schlimmen Krankheit Hagens schon ein wenig zur Seite gestellt, wenn ich bei der Wahrheit bleiben soll. Meine Ausbildung wird dem Selbstlauf überlassen mit der Hoffnung und Meinung, ich werde es schon machen. Ich traue mich kaum noch, etwas zu erzählen oder zu fragen. Manchmal weiß ich nicht mehr, wie ich mich meinen Eltern gegenüber verhalten soll, aus Angst etwas falsches zu sagen oder etwas verkehrt zu machen. Natürlich verstehe ich den Schmerz meiner Eltern, es ist ja auch mein Schmerz. Ich fühle die Ratlosigkeit von Mama und Papa die mit dieser schweren Krankheit verbunden ist.Trotz alledem habe ich den Wunsch zu sagen : Es ist alles schrecklich, aber ich bin doch auch noch da, dennoch tue ich es nicht. Ich habe das Gefühl, dass man mich in die ganzen Geschehnisse um Hagen, die diese Tragödie mit sich bringt nicht einbezieht oder einbeziehen will und ich leide irgendwie am Rande mit. Sicher ist das ganz und gar nicht die Absicht meiner Eltern und niemand macht ihnen daraus einen Vorwurf, aber es tut mir weh, weil ich darunter zu leiden habe. Das ganze Ausmaß dieser Katastrophe, der seelischen Schmerzen meiner Eltern habe ich zu der Zeit sicher sehr wohl verstanden, aber nachvollziehen kann ich es erst so richtig, seit dem ich selbst Kinder habe.-

Wie gesagt wird meine Mutter noch strenger, z.b. dass sie nun noch pedantischer das Rückgeld nachrechnet, wenn ich eingekauft habe, ein Lob, einmal etwas richtig gemacht zu haben kommt noch seltener und es ist sehr schwer, ihr überhaupt etwas recht zu machen. -

Es war und ist bis heute nicht immer einfach, meiner Frau Mama alles recht zu machen, das ist nun aber um Himmelswillen keine Herabminderung meiner Mutter, aber manchmal war und ist es eben mit ihr recht „unterhaltsam“ , wenn ich es so formulieren kann. Mein Papa war von ganz anderer Natur, er war der ruhige Pol in der Familie. Er reagierte gelassener, wenn Probleme anlagen, egal, was es war. Geheimnisse waren gut aufgehoben, man konnte ihm wirklich blind vertrauen. Meine Mutter blubberte oft etwas aus sich heraus, manchmal auch noch heute, wobei ich dachte oder denke, dass sie manches gar nicht so meinte oder meint. Sie machte immer den Eindruck gestresst und nervös zu sein. Sie hatte viel um die Ohren, ihren Beruf, uns Kinder, den großen Garten, dann kam die Pflege meiner Oma, alles um Onkel Justus und dann noch die Krankheit meines Bruders. Sie zeigt im Gegensatz zu meinem Vater eben oft entsprechend ihren Unwillen über Dinge, die sie sicher verständlicher Weise überlasteten. Auch mein Papa hatte große Belastungen, beruflich, hauptsächlich im Winter mit dem Bewältigen der Winterdienste, an dessen Einteilung und Teilnahme, der Garten, und wir natürlich. Aber wie gesagt ging er, auf Grund seines vollkommen anderen Charakters auch anders damit um. Er überstürzte nie etwas, löste alle anfallenden Probleme sehr besonnen, aber er „fraß“ auch viel in sich hinein, machte meist alles mit sich selber aus und war dadurch nach außen hin stets für alle ausgeglichen, leise und gefasst. Meine Eltern haben sich kaum einmal gestritten, eben weil mein Vater sehr ruhig war, das Zepter lieber meiner Mutter überließ und deshalb kaum aus der Reserve gelockt werden konnte . An drei Dinge kann ich mich erinnern, die meinen Papa ein wenig aus dem Gleis fahren ließen. Zum einen todderte meine Mutter einmal, weil mein Papa nicht das gemacht hatte, was meine Mutter wünschte, was es war, kann ich heute nicht einmal mehr sagen, nur, dass mein Vater sehr spät von der Arbeit kam. Auf das nicht nachlassende meckern meiner Mutter gab er in für sie ungewohnten lauten Ton zurück, dass er auch nicht hexen könne. Da ist meine Mutter wütend aus dem Haus gerannt und war, wie sich später herausstellte bis zum Garten gelaufen, sie blieb die ganze Nacht dort.- Ein anderes mal hatte ich mit meinem Vater irgendwann in einem Sommer den kleinen Teich, den er anlegte gesäubert und neu gemacht, die Steine aus dessen Rand waren schon ein ganzes Stück nach innen gewandert. Mitten bei der Arbeit kam dann meine Mutter zu uns: „Helmfried, ... der Zaun am oberen Ende bei der Frau Roheisen ist kaputt, der hat ein Loch, das muss unbedingt gemacht werden!“. Da fuhr mein ruhiger Papa doch einmal aus der Hose: „Jetzt machen wir das hier erst mal fertig, … alles der Reihe nach!“. Meine Mutter schaute ein wenig komisch, ging dann aber doch zurück an ihren Kochtopf. Die Frau Roheisen war eine alte Dame, die ihr Grundstück neben dem unsrigen hatte, allerdings nicht nur als Garten, sondern sie wohnte in einem kleinen Holzhaus und hatte deshalb den Spitznamen „Waldfee“. Sie war sogar motorisiert, sie fuhr ein sogenanntes Dreirad, ein Gefährt mit zugespitztem Fahrerhaus, also dreieckig, mit platz für zwei Personen, hinten war eine offene kleine Ladefläche. Die alte Dame war sehr rasant unterwegs, ungeachtet der Schlaglöcher hielt sie ihre Fahrgeschwindigkeit aufrecht, so dass man auf dem Sitz hoch hopste, denn Gurte gab es da noch keine. Zudem musste man während der Fahrt die Tür festhalten, damit sie nicht aufsprang. Ich habe einmal so eine Fahrt mitmachen dürfen, sie hatte mich auf dem Weg zum Garten, als ich aus der Schule kam „aufgelesen“. - Übrigens „hüpfte“ meine Mutter auch mal vom Sitz unseres Autos bis an die Decke des Trabis, mein Vater war durch ein Schlagloch gefahren auf dem Weg vom Garten nach Hause. Mein Papa war absichtlich mit voller Wucht gefahren, er hatte sich kurz zuvor über meine Mutter geärgert. Was da war, kann ich nicht sagen, nur dass es das einzige Mal war, dass ich erlebte, dass mein Vater die Beherrschung verlor. Der dritte Grund, der Anlass gab, meinen Vater aus seiner Ruhe zu reißen war eine Frau, die bei uns im Haus wohnte und meine Mutter tyrannisierte, indem sie immer behauptete, meine Mama würde entwenden, was eben dieser Frau gehörte. Die Frau Bahr war geistig leicht verwirrt und mein Vater sah deshalb auch geduldig, wie es seine Art war lange darüber hinweg. Einmal war es ihm dann doch zu viel, nachdem die Frau behauptete: „Ihre Frau hat meine Einkaufstasche und mein Portmonae weggenommen!“. „Jetzt ist aber Schluss, nun reicht` s aber!, machen Sie ganz schnell, dass Sie in Ihre Wohnung kommen!“. Als sie nicht darauf reagierte schnappte sich mein Vater einen Besen und jagte die Übeltäterin die Treppe hinauf, bis sie endlich in ihrer Wohnung verschwand. Für uns Kinder war das natürlich ein tolles Erlebnis, es war schon ganz schön witzig anzusehen, wie mein Vater der sehr großen, hageren Frau, die stets und bei jedem Wetter einen dicken, schier endlos langen Schal trug, hinterher eilte. Irgendwann später verschlechterte sich der Zustand der Frau, so dass sie nicht in der Wohnung bleiben konnte. Zudem weil ihr Mann dann auch an Morbus Alzheimer erkrankte und sich selbst, seine Frau und auch andere Hausbewohner in Gefahr brachte. -

Jedenfalls bescherten uns die Eltern eine gute, sorglose Kindheit, trotz ständigen Zeitmangels. Ich denke an Indianerspiele im Garten, „Mensch ärgere dich nicht“, Schlitten und Ski fahren im Winter, und Freibadbesuche im Sommer. Wir wurden zu Fleiß, Ehrlichkeit und Freundlichkeit erzogen. Meine Eltern sparten ein wenig mit körperlicher Nähe, es war nicht üblich, dass wir dauernd abgeküsst wurden, deswegen liebten uns die Eltern genauso, nur dass es eben auf diese Art nicht allzu sehr gezeigt wurde. Vielleicht entwickelte sich dadurch bei mir eine gewisse Fähigkeit mit Gefühlen nach Außen hin reserviert umzugehen und weder Liebe, Trauer, Freude oder andere Emotionen gegenüber anderen übermäßig preiszugeben, wobei dabei sicher auch mein Vater mir etwas von seinem Wesen in die Wiege gelegt hat. Es ist eben so, der eine zeigt es, der andere nicht.-

Von dieser kleinen Abschweifung zurück zum Jahr 1970, und damit zurück nach Halle. Die ganze Situation um die Tragik die mit Hagen zusammenhängt verändert nicht nur das Leben meiner armen Eltern, sondern auch das meinige. Ich beginne mich dafür zu interessieren, was es mit der Krankheit Leukämie auf sich hat. Zum ersten Mal denke ich, dass man mit meinem zukünftigen Beruf eventuell doch etwas anfangen kann. Nicht nur wegen der Bitte meines Papas gehe ich nun regelmäßig zur Lehrausbildung und erledige gewissenhaft meine Aufgaben die damit zusammenhängen . So ziemlich zum Jahresende, irgendwann im Dezember 1970 wird Hagen vorläufig aus dem Krankenhaus entlassen. Keiner spricht darüber, aber ich glaube, mein Bruder ahnt, wie schlecht seine Prognose ist und wie mies es um seine Zukunft bestellt ist. Langsam erholt er sich ein wenig, wir fragen uns alle immer wieder, wo er diese verdammte Krankheit her haben könnte. Nie zuvor war er ernsthaft krank, hat viel Sport getrieben, ... aber wir können es nicht herausfinden. So geht das Jahr 1970 seinem Ende entgegen. Das Weihnachtsfest verläuft sehr ruhig und auch zu Silvester sind wir alle zu Hause. Keiner sagt ein Wort aber jeder stellt wohl für sich die gleiche Frage: Werden wir im nächsten Jahr noch alle so beisammen sein?.

Das Jahr 1971 beginnt mit einer lausigen Kälte, in Halle wieder angekommen funktioniert die Heizung nicht, wir sitzen mit Handschuhen in den Betten und machen Schulaufgaben, bzw. lernen, was uns aufgetragen wird. Am 7. Januar werden wir nach Hause geschickt, es kommt noch ein Wasserrohrbruch dazu. Frei haben wir natürlich nicht, wir müssen in unserer deligierenden Einrichtung, also im Krankenhaus arbeiten. Es gefällt mir gut, jeden Tag mit meiner Mutter zur Arbeit zu gehen und ich finde mich im Labor ganz gut zurecht. Am 18. Januar geht es zurück nach Halle und ich schlage mich wacker durch meine Aufgaben. -

Ende Januar kaufen meine Eltern einen braunen Langhaardackel, er heißt Bürschel und ist ein ganz süßes Geschöpf. Am Anfang hat er Schwierigkeiten sich an uns zu gewöhnen, er ist recht scheu, es gibt sich aber bald und wir haben Spaß mit dem kleinen Kerl. - Nun ist schon ein Jahr vergangen seit ich meine Jugendliebe kennen gelernt hatte, aber ich habe auch 1971 einen recht schönen Rosenmontag, der allerdings ein wenig Schatten durch die Krankheit meines Bruders darüber wirft. Ich gehe zum Krankenhausfasching, es bietet sich an, denn ich mache zur Zeit gerade im Krankenhaus Berufspraktikum. Ich borge mir von Gisela das lange rote Kleid aus und bin eine recht ansehnliche „Haremsdame“. Gisela hätte ohnehin mit ihrem dicken Bäuchlein nicht hineingepasst, sie ist mittlerer Weile kurz vor ihrer Entbindung. Ich tanze viel und besonders oft mit unserem Chirurgen Dr. Kraf, er ist ganz schön angeheitert und macht mir den Hof. Beim Tanzen schleudert er mich derart durch die Luft, dass ich befürchte mein, bzw. Giselas Kleid könnte zerreißen. Er bittet, mich nach Hause bringen zu dürfen, aber irgendwie möchte ich es dann doch nicht, … warum ich seine Begleitung damals ablehnte, kann ich nicht mehr sagen und frage mich später: Warum eigentlich habe ich das Angebot ausgeschlagen ?, der Dog war ein sehr schicker junger Mann, wir waren beide ungebunden, wir hatten gleiche Interessen. Ich kann es heute nicht mehr nachvollziehen, schön blöd, ... na ja, ... vorbei ist vorbei. -

Am 25.Februar wird meine Freundin Gisela Mama, ein kleiner Junge, Martin. Sie wohnt noch immer in der Kantstraße, nun sind sie zu dritt. Antons Oma lebt inzwischen nicht mehr und sie haben dadurch mit etwas Glück diese Wohnungsrarität bekommen, wenn auch sehr klein, aber sie sind für sich. -

Der März 1971 geht vorüber, nun ist schon das Ende des ersten Lehrjahres in Sicht, im Juni sind die ersten Zwischenprüfungen. Wieder denke ich, dass mit der Hausarbeit zum Ende des zweiten Lehrjahres das Lernen für immer ein Ende haben und dieses ewige pauken vergessen ist. Heute kann ich nur darüber lachen, nur gut, dass man nicht weiß, was noch alles auf einen zukommt.

Wieder gibt es im Internat einen erneuten Wasserleitungsrohrbruch, wieder gehen wir während dieser Zeit zum Arbeiten ins Krankenhaus. Bei dieser Gelegenheit in Seelstein zu sein, besuche ich meine Freundin. Martin ist ein süßes Baby, aber selber Mutter zu sein, kann ich mir noch nicht vorstellen. Wir trinken gemütlich Kaffee und haben uns dabei viel zu erzählen. Dinge aus der Schulzeit werden hervorgekramt, Neuigkeiten ausgewertet. „Hast Du Dich nun schon daran gewöhnt, in Halle zu sein?, kommst Du jetzt klar mit Deinem Beruf?“, fragt sie mich unter anderem. „Ja, schon“, meine ich und erzähle ihr ausführlich über Hagen. -

Dann fahre ich wieder nach Halle, es ist immer noch kalt und es liegt Schnee. Die Bahn hat sehr oft Verspätung, mein Papa muss lange auf mich warten, wenn er mich bei dem Wetter Freitags vom Bahnhof abholt. Im Internat ist fast nur dürftig geheizt , wir frieren sehr viel. Schultechnisch läuft es gut und ich lerne ja nun freiwillig.-

Nach einem langen Winter kommt endlich das Frühjahr, es nähert sich mein 18. Geburtstag, also erwachsen soll ich nun bald sein, ich bilde es mir jedenfalls ein. Schließlich kann man nun ins Kino gehen, ohne Angst zu haben beim Einlass erwischt zu werden, wenn man einen Film besuchen will, ohne das geforderte Alter erreicht zu haben. Was stellen wir manchmal alles auf, nur um eingelassen zu werden!. Angefangen vom grellen schminken, bis hin zum ausgestopften Busen. Manchmal klappt es, manchmal aber auch wieder nicht. Was für eine damalige enorme Wichtigkeit, endlich 18 zu sein!. Heute denke ich so oft an die Worte meines Vaters, wenn ich ihm klagender Weise vorgejammert habe, dass der geplante Kinobesuch trotz übertriebenen Stylings fehlgeschlagen ist, und man uns wegschickte auf Grund der Tatsache, dass der Film, eben nun mal erst ab 18 zugelassen, und dieses Kriterium von uns nicht erfüllt war. „Mensch Mädel“, sagte er, „Du wirst Dich wundern, wenn Du erst mal 18 bist, wie schnell Du irgendwann 80 sein wirst“. Er sollte recht behalten, zwar bin ich noch nicht 80, aber da ist bereits die 60, die mittlerer Weile dabei ist, schon bald bis an meine Tür vorzudringen, ... na ja das ist doch auch schon etwas, oder?.

Meinen 18. Geburtstag, der mich nun laut Gesetz zu den Erwachsenen zu zählen macht, begehe ich mit meinen Eltern und Hagen in Bad - Trübhain, ganz in unserer Nähe in einem Weinhaus. Es ist eine schöne Feier, nach dem Abendessen gibt es noch Musik mit einer kleinen Kapelle, die zwar nicht unbedingt meinen damaligen Musikgeschmack trifft, aber das ist nicht so wichtig, meine Eltern haben alles organisiert und mir damit eine Freude machen wollen, obwohl ihr Kopf wegen Hagen voll genug ist. Einen Abend lang bin ich einmal die wichtigste Person, hier habe ich zum ersten male mit meinem Vater getanzt. Ansonsten gehe ich in dieser Zeit kaum zu größeren Feiern oder zur Disco, ich habe keine große Lust dazu, immer fällt ein Schatten der Krankheit meines Bruders auf all` diese Dinge, ich bekomme ein schlechtes Gewissen, wenn ich zum Vergnügen gehe, während Hagen schwer krank zu Hause sein muss. Ich bin zwar ohnehin kein eifriger Discogänger, aber der Zustand meines Bruders bremst mich in meinem Tun und handeln als junges Mädchen überall aus. Wo ich ein paar Freundschaften und Spaß habe, sowie kumpelhafte Begegnungen finde, sind die Heimfahrten mit dem Zug an den Wochenenden von Halle nach Seelstein. Man trifft immer die gleichen Freunde, hört Musik mit unseren Kofferheulen oder spielt Karten. - Irgendwann im Mai 1971 holen mich meine Eltern von Halle ab, sie wollen noch einkaufen, hier in Halle gibt es durch die größeren Kaufhallen und Feinkostgeschäfte ein reichhaltigeres Warenangebot als bei uns in Seelstein.-

Kurz drauf kommt Hagen wieder ins Krankenhaus, durch die Chemotherapie sind ihm bereits die Haare ausgegangen. Zu unserem Schrecken scheint sich unser Verdacht, dass er genau um seine Krankheit weiß zu bestätigen. Wir, d.h. meine Mutter findet entsprechende Literatur unter seinem Kopfkissen, ... ist das nicht eine schreckliche Vorstellung?, er ist zu der Zeit noch ein Kind, wie entsetzlich muss für ihn der Gedanke gewesen sein, dass es in seinem Fall keine Rettung geben wird!?. -

Zum Ende des Monates Mai bekommen wir von der Schule Zettel mit Adressen von Zimmern für unsere Unterbringung im zweiten Lehrjahr. Außerdem kriegt jeder, der einen weiten Heimreiseweg hat einen freien Tag im Monat, … einen sogenannten Heimfahrtstag. Das sind mal gute Nachrichten, ein Zimmer für mich allein, das Gerangel im Internat um heißes Wasser, Kochgelegenheit und das leidige diskutieren, ob nachts das Fenster auf oder zu bleiben soll würde endlich ein Ende haben. Ebenso der Streit, ob Radio an oder Radio aus. Jedenfalls gehe ich am gleichen Tag nach Erhalt der Mitteilung zu der mir angewiesenen Adresse um mich anzumelden und vorzustellen, Alex - Stein - Straße bei Frau Welkes. Meine Enttäuschung ist riesengroß als die Wirtin sagt, dass das Zimmer schon vergeben ist. Am liebsten würde ich gleich losheulen und einen Tobsuchtsanfall bekommen. Die alte Dame meint nur, dass sie nichts dafür kann und es ihr egal ist, wer das Zimmer belegt. Ich mache auf dem Absatz kehrt, zurück zum Internat, so schnell gebe ich mich nicht geschlagen. Es stellt sich fix heraus, dass diejenige welche, die im 2. Lehrjahr das besagte Zimmer bewohnt hat, dieses „Unter der Hand“ bereits verschinschert hat, ... und die, die mir die Bude quasi wegnehmen will, ist die Doris aus unserem jetzigen Gemeinschaftszimmer. Also, das geht gar nicht, das kann ich mir nun wirklich nicht gefallen lassen, das geht zu weit!. „Heeee, was fällt Dir überhaupt ein, … das bei Frau Welkes, … das ist mein Zimmer!“, beginne ich den Zickenkrieg. „Die Rosel aus dem 2. Lehrjahr wohnt jetzt da drin, die kenne ich und die hat mir gesagt, sie klärt, dass ich als ihr nach Nachfolger das Zimmer beziehen kann!“, verteidigt Doris ihre Errungenschaft. „Die Rosel hat rein überhaupt nichts zu melden, … das ist mein Zimmer, ... und das lasse ich mir auch nicht wieder wegnehmen!“, entgegne ich mit für mich ungewöhnlich scharfer Stimme, „morgen gehe ich zur Frau Thorsten, die muss ja die Liste haben wer in welches Zimmer zieht, ... und wer überhaupt eins bekommt!, ... wer es nicht so weit bis nach Daheim hat, der kriegt nämlich gar keins, falls Du es noch nicht mitbekommen hast“. „Ich trete nicht freiwillig zurück und der Frau Welkes ist es so und so egal, wer sich als nächster in das Zimmer bei ihr einmietet!“, verteidigt Doris noch immer ihr vermeintlich sicher gestelltes Objekt. „Du brauchst gar nicht so zu beißen, morgen wird sich alles aufklären meine Liebe, ... das wirst Du schon sehen!“, schieße ich den Pfeil zurück. Am nächsten Tag kann ich mich in der Schule nicht richtig konzentrieren, mir geht die Sache mit dem Zimmer nicht aus dem Kopf, ... dann endlich kann ich mein Anliegen in der Schulleitung vorbringen. „Na, wollen wir mal sehen junge Dame“, mit diesen Worten beginnt Frau Thorsten in einer Mappe herumzublättern, es kommt mir endlos lange vor bis sie endlich sagt: „Sie haben recht, Meggy, das ist Ihr Zimmer“. Mit dieser freudigen Botschaft gehe ich erneut zu Frau Welkes und ziehe damit Doris `Missmut auf meine Seite, sie nimmt es mir sehr übel und spricht lange nicht mehr mit mir. Nun wohne ich während des 2. Jahres meiner Ausbildung bei Frau Welkes in der Alex - Stein - Straße 2 in Halle. Das Zimmer kostet 25, - Mark im Monat, die alte Dame ist sehr nett, ich darf die Küche mit benutzen, das ist längst nicht bei allen Vermietungen der Zimmer so, wie mir meine Klassenkameradinnen berichten. Doris beruhigt sich wieder nachdem sie nun auch ein Zimmer bekommt, ... allerdings ohne besagte Küchenbenutzung. Auch an das Zimmer bei Oma Welkes kann ich mich allzu gut erinnern. Ein kleines dunkles Treppenhaus mit ebensolcher finsterer Tür bietet sich als Eingang auf. Rechts kommt man in die Küche der alten Dame, geradeaus ist die Toilette. Links geht es in das mir zugewiesene Zimmer. Wenn man es betritt steht links ein Bett, geradezu ist das Fenster mit Blick zur Straße und rechts findet man eine alte Kommode mit Porzellanwaschschüssel und passenden Wasserkrug dazu. Ein Stück daneben hat der Ofen seinen Platz. In der Zimmermitte steht ein runder Tisch und zwei Stühle. Wir haben uns geeinigt, die Frau Welkes und ich, dass ich immer dafür sorge, dass genug Holz und Kohlen da sind, dann gibt es kein Problem, sie macht dann auch Feuer in meinem Ofen des kleinen Zimmerchens, damit es warm ist, wenn ich von der Schule komme. Das ist oft an kalten Wintertagen sehr schön, in ein bereits warmes Zimmer zu kommen. Manchmal kocht die Oma Welkes auch für mich mit, auch das ist super, als junger Mensch hat man immer Hunger und die ewigen Rumkugeln hängen mir schon zum Halse heraus. -

Zu den Heimfahrtskumpeln gesellt sich noch ein junger Mann, der Eberhard heißt, am Anfang finde ich ihn ganz nett. Er schenkt mir öfter ein 5, - Markstück und macht mir den Hof. Er trägt meine Taschen und ist sehr aufmerksam, er wohnt in Leipzig. Er schreibt mir manchmal, zwar etwas schmalzig und blöd, aber ich bekomme wenigstens Post. -

Ende Mai schreiben wir Physikabschluss und Anfang Juni folgt der Abschluss in Mathematik, es ist ganz gut gelaufen, wenn man wieder von meinen „Künsten“ in diesen Fächern ausgeht, mit der Note „3“gebe ich mich zufrieden. Etwas später treffe ich Eberhard wiedermal im Zug, er bringt mir sogar die ersten frischen Erdbeeren mit, ... find` ich gut, … vorerst. Er ladet mich noch für September zum Winzerfest ein und will zuvor einmal nach Seelstein kommen und mich besuchen. Er umarmt mich am Bahnhof, aber das mag ich nicht so gerne, ich fühle mich überrumpelt, auch seine ständigen schmalzigen Briefe gehen mir bald auf den „Keks“.-

Nun steht noch der Chemietest bei der „Guuuten“ an, aber das ist nicht weiter schlimm, es geht um die Blutzuckerbestimmung nach Hagedorn - Jensen.

Dann ist der Eberhard wieder am Bahnhof, er geht mir nun richtig auf die Nerven mit seinen Erdbeeren und ich weiß ganz genau, dass ich sowieso nicht zum Winzerfest kommen werde. Ende Juni entschließe ich mich dann der Ehrlichkeit wegen, „einen Wein“ einzuschenken. Es ist mir dann doch zu viel, dass er sich nicht damit begnügen will, am Bahnhof auf mich zu warten, sondern nun auch zur Schule gerannt kommt und sagt, dass er mit mir nach Seelstein fahren will. Dann fragt er noch, ob es eine Möglichkeit gibt, bei mir zu übernachten. Also, das möchte ich ja nun auf keinen Fall, meine Mutter würde es sowieso nicht erlauben, ich schreibe ihm, dass ich kein Interesse habe, die Freundschaft fortzuführen oder zu erweitern. Heute denke ich mir, zum Winzerfest hätte ich ja eigentlich gehen können, vielleicht wäre es ganz schön gewesen, na nun nicht mehr zu ändern, ... er lag halt gar nicht auf meiner „Linie“. -

Die inzwischen angesetzte Physiologiearbeit überstehe ich gut mit Note „2“. Am 2. Juli schreibe ich das letzte mal Tagebuch im Internat, nun haben wir zu tun, um unseren Kram aus der Sohlengasse in die neuen Zimmer zu schaffen. Die Sonja hat ein Quartier in meiner Nähe bekommen und einige wechseln zum Internat Obertau. Es ist ein Tag mit fürchterlicher Hitze, am schlimmsten ist der Transport der Federbetten, die Sonja auch noch in der Straßenbahntür einklemmt, für uns junge Mädchen natürlich wieder ein Grund zum gackern. Zur Belohnung des anstrengenden Tages der Räumerei wegen, gehen wir am Abend in den Zirkus, als wir uns auf dem Weg zu unseren Unterkünften machen, meint die Sonja, dass sie gern einmal wissen möchte, wie es in so einem Wohnwagen aussieht. Ich erinnere mich sogleich wiedermal an den schicken Burschen, mit dessen Zirkus ich seinerzeit so gerne mitgefahren wäre. Ich will es gerade der Sonja erzählen, als wir von einem Hund erschreckt werden, ein junger Mann pfeift, der Hund stellt sogleich sein Bellen ein. „Ihr braucht keine Angst zu haben, Till tut Euch nichts, ... der tut ganz sicher niemanden etwas!“, ruft er und kommt auf uns zu. Sogleich kommt noch ein Junge aus dem Zirkus dazu und diese Situation hat große Ähnlichkeit wie mit der aus vergangenen Tagen, nur der fesche junge Mann fehlt. „Dürfen wir die Damen auf ein Glas Wein in unser Gemach einladen?“, fragt uns der Bursche dem der Hund gehört. Sonja, die eben noch einen großen Rand hatte, alles einmal aus der Nähe sehen zu wollen, sagt jetzt gar nichts mehr. „Warum eigentlich nicht!“, antworte ich und gebe Sonja einen Seitenhieb, sie zuckt zusammen, schüttelt erst den Kopf und kommt nach dem zweiten Hieb von mir schließlich doch noch mit. Der Wohnwagen ist aufgeräumt, sauber und nicht ungemütlich. Der Wein schmeckt gut, wir erzählen über die Arbeit im Zirkus und über unsere Ausbildung, dabei merken wir nicht, wie spät es schon ist. Einer der beiden heißt Udo und ist Elefantenpfleger, nach dem zweiten hinsehen eigentlich ganz symphatisch, der andere heißt Herbert, ist Tierpfleger und ich finde ihn recht blöd, wenn ich ehrlich sein soll. Ein dritter Wohnkamerad lässt sich von niemanden stören, er liest die ganze Zeit in einem Buch, es ist offensichtlich sehr spannend, er nimmt keinerlei Notiz von uns allen. Ausgerechnet der, der mir nicht gefällt sitzt neben mir, der Udo hockt gegenüber auf seinem Bett und Sonja wie ein Stock neben ihm, er grient zu mir herüber, weil ich mich für diesen Herbert nicht interessiere, dieser besteht darauf, uns nach Hause bringen zu dürfen. Wir können ihn einfach nicht los werden, er lädt uns beide noch für die nächste Vorstellung ein, aber ich weiß sofort, dass ich nicht kommen werde, auch weil ich lieber nach Hause fahren möchte. Wieder bekomme ich eine Aufforderung mitzureisen, aber es ist eine andere Situation als sie es damals war, ich habe meinem Vater versprochen, keine Zicken mehr zumachen und außerdem gibt es jetzt keinen so feschen Burschen wie beim letzten Angebot. -

Noch im Juli planen meine Eltern eine Urlaubsfahrt nach Ostfelden zur Verwandtschaft meines Vaters, genauer gesagt zu den Schwestern meines Papas. Sehr begeistert bin ich nicht davon, hätte mich lieber mit Gisela oder anderen Freundinnen getroffen, aber meine Mutter lässt nicht mit sich reden. „Nein, nein, Du bleibst nicht alleine hier, … niemand bleibt allein zu Hause“, donnert sie gleich, dabei hilft mir auch nicht das Argument, schon 18 zu sein weiter. Um des lieben Friedens Willen gebe ich nach, ich möchte keinen Streit haben. Ich schiebe die Unbeherrschtheit meiner Mutter auf die Sorgen mit Hagen, mein Vater blinzelt mir zu und ich verstehe. Am nächsten Morgen geht es los, meine Frau Mutter nervt wie immer unseren Vater bei jeder Autofahrt. „Pass auf!, fahr nicht so schnell und: Ich glaube, wir sind falsch gefahren!“. Fahr nicht so schnell war ja sowieso ein Lacher, wenn man es in der heutigen Zeit betrachtet, man würde Witze machen, ... Trabi, ... und zu schnell fahren, wenn er bei 90 km h schon anfängt abzuheben!, aber nichts gegen unseren Trabi, ganz ehrlich nicht, ich mag ihn bis heute. Er hat immer durchgehalten, er sprang immer an, es konnte noch so heiß oder kalt sein. Er brauchte kein Kühlwasser und kleine Reparaturen konnten auch von Frauen durchgeführt werden. Ein Ding der Unmöglichkeit in der heutigen Zeit, nicht einmal jede Werkstatt repariert auch jedes Auto. Mein Bruder und ich machen während der Autofahrt unsere Witze über die Diskussion meiner Eltern, ob wir uns nun verfahren haben, ... oder nicht, ... ob wir erst mal Rast machen sollten, … oder nicht, sowie über die Ermahnungen meiner Mutter des angeblich schnellen Fahrens wegen. Wir hüpfen auf den Sitzen umher und machen wohl ganz schönen Lärm dabei, das sprengt dann doch die Gemütlichkeit meines Vaters er meint zu uns: „Hoffentlich ist bald Ruhe dahinten, da kann kein Mensch fahren!“. ( Heute, wo ich selber Autofahrer bin, kann ich es verstehen, es muss wirklich unmöglich gewesen sein ). „Ihr fliegt gleich raus!", schrillert meine Mutter und schließlich kommen wir doch noch in Ostfelden an. Alles in allem ist es dort dann doch nicht so schlecht, nur schade, dass meine Cousine nicht da ist, sie ist gerade in einem Sportlager, sie will Sportlehrerin werden, für mich keine gute Vorstellung. Schließlich bin ich dann doch froh als wir wieder abfahren. Auf der Rückfahrt machen wir einen Abstecher nach Berlin, waren im Museum, im Tierpark und schlafen zwei Nächte im Interhotel, das ist natürlich eine schöne Sache. Vor meinen Tagebuchzeiten waren wir auch schon in Berlin gewesen, da war das Hotel „Berolina“ ganz neu, für uns Kinder war das ungeheuer spannend, zu jeder Zeit warmes Wasser aus der Leitung, kein Badeofen musste geheizt werden. Alles war sehr vornehm, ganz anders als in Seelstein, wenn wir zu besonderen Anlässen mit den Eltern zum Essen in einer Gaststätte waren. Es war schon ein Erlebnis, damals zur Kinderzeit. -

Dann kommt unterwegs meine Mutter plötzlich auf die Idee, im Auto zu übernachten, ich empfinde es als eine Katastrophe. Das Wetter ist sehr schön, ziemlich heiß sogar, was den Tag betrifft, aber in der Nacht ist es recht kühl. Ich kann es mir nicht vorstellen, dass alle hier im Auto übernachten sollen, dann aber habe ich doch etwas verkehrt verstanden, auf der Wiese soll genächtigt werden, aber das finde ich nun nicht gerade besser, sondern eher noch schlimmer. Mein Bruder und meine Eltern schlafen auf einer Decke im Freien, ich quetsche mich dann doch lieber auf den Rücksitz des Autos. Es dauert nicht lange und ich höre ein impertinentes Summen. Es ist bereits dunkel und ich kann die Ursache nicht gleich finden, aber dann stellt sich heraus, dass es eine Hornisse ist. Schreiend flüchte ich ins Freie und erschrecke damit die anderen „Camper“ ,sie fahren in die Höhe und gneckern herum, weil ich sie geweckt habe. Ich trage das Hornissendrama vor, aber ernte nur Gelächter, es glaubt mir niemand und außer einem: Das bildest du dir ein, kommt nichts zurück. Ich kann die ganze Nacht nicht schlafen, ich traue mich nicht, die Hornisse zu jagen und „warte“ regelrecht auf das Summen, welches von Zeit zu Zeit ertönt. Ich sehne mich ganz fürchterlich nach meinem Bett zu Hause. Irgendwann nicke ich dann doch ein wenig ein, ... und ... nach dem Erwachen sehe ich das „Indiz“ auf dem Boden liegen, es ist tatsächlich eine Hornisse, die mittlerweile ihr Leben ausgehaucht hat. Ich präsentiere das Beweisstück, trotzdem lachen alle über mich, ich finde er gar nicht lustig. Immer, wenn ich eine Hornisse sehe, muss ich an diese Nacht denken, ... aber auch daran, dass es der letzte Ausflug war an dem unsere Familie noch vollständig gewesen ist. -

Nach dem Geburtstag meines Papas am 15. Juli lerne ich Johann näher kennen, zum alljährlichen, bereits beschriebenen Vogelschießen, genauer gesagt zu dessen Feuerwerk. Ich kenne ihn ja bereits von den Jugendtreffen auf dem Markt, aber seit dem Feuerwerk „Gehen wir zusammen“, wie man sagt.-

Ich zitiere an dieser Stelle ein paar Eintragungen aus meinem Tagebuch. Freitag, 22. Juli 1971: ... Als es soweit war, hatte ich gar keine Lust mehr zum Feuerwerk zu gehen, aber Gisela meinte, die Lust dazu käme schon noch wenn wir dort sind, so gingen wir und trafen mit Giselas Cousin Herrmann zusammen, der mir dauernd etwas spendierte und mich unbedingt noch nach Hause bringen wollte. Es war 24.00 Uhr, als wir gehen wollten, ich hatte vor, bei Gisela zu übernachten, denn eigentlich sollte ich um 22.00 Uhr am Autoscooter sein und mit meinen Eltern zusammentreffen, ich bin aber nicht hingegangen und hatte nun Schiss nach Hause zu kommen, - wiedermal, … trotz meiner 18 Jahre. Na jedenfalls wollten wir gerade gehen, als mich jemand zu sich winkte, erst als ich vor ihm stand, erkannte ich ihn richtig, … Johann. Ich wusste in dem Moment nicht, was ich sagen sollte, ich hatte auf einmal einen Frosch im Hals. „Na“, sagte er, „wie geht` s denn so?“. Ich war sehr aufgeregt und stammelte nur ein „Danke gut“. Er begleitete mich und Gisela mit seinem Freund, der auch dabei war bis zu Giselas Wohnung und ich habe mich von ihm küssen lassen. Gisela ging am nächsten Tag mit zu meinen Eltern und boxte mich heraus, aber ganz so schlimm war die Abreibung von meinem Eltern dann doch nicht ausgefallen. - Zitatende -.

Ich glaubte damals wirklich die Liebe meines Lebens gefunden zu haben, ich war überzeugt davon, sehr für immer und ewig verliebt zu sein, … alles richtig zu machen. Ich hatte nie den Gedanken, jedenfalls nicht zu dieser Zeit, dass man vorerst lieber ausprobieren sollte, ob man zusammen passt oder nicht, für mich war es irgendwie ein Fakt, ... Du hast jetzt jemanden, alles andere ist tabu, Du hast jetzt den Mann gefunden, für den Du bereit bist, Dich einzulassen, ... das bedeutet, dass Du gebunden bist. Etwas später erst habe ich gemerkt, was das für ein unsinniger Irrtum ist, ... eine Abhängigkeit und Verpflichtung zu einem Menschen herzustellen, mit dem man sich im Bett treffen möchte, … oder bereits getroffen hat. Im Gegenteil, nun ist es erst recht ein „Muss“, genau zu prüfen, ob es auch tatsächlich das Ewige ist was man da gefunden hat, ob alles so ist wie man sich es vorgestellt hat, ... und wenn doch nicht, dass man sagen muss: Nein, ich glaube nicht, dass es richtig ist, was ich da mache, ... ich bin mir nicht sicher, ... ich gehe lieber bevor es zu spät ist, ... solange ich es noch kann, ... . Schnell befindet man sich in einer Situation, die einem diese Wahl nicht mehr lässt, ... man ist zu feige, … nicht stark genug das umzusetzen, was man eigentlich möchte, ... kann sich nicht davon lösen, auch wenn man längst erkannt hat, und für sich selber im Nachhinein zu der Überzeugung gekommen ist, ... nein, ... es ist nicht gut, was ich da vorhabe, ... auch wenn es mir noch gestern als richtig erschien. Wenn man jetzt im letzten Moment den Absprung vom Karussell nicht findet, kann man nicht mehr anhalten. - Es ist schon so, dass ich ihn geliebt habe, vermeintlich jedenfalls, alles andere wäre Nonsens, wenn ich es jetzt und hier verneinen würde, aber ich habe zu der Zeit nicht gewusst, dass das nicht Liebe ist, sondern Verliebtheit ... und das, … das ist etwas ganz anderes, ... wie sich das anfühlt, sollte ich erst etliche Jahre später kennenlernen. Zu der Überzeugung, dass alles so richtig sei, kommt vielleicht auch das Bestreben meinerseits dazu, mich nicht mehr so gerne von meinen Eltern, insbesondere meiner Mutter, diesen übermäßigen Kontrollfunktionen unterziehen zu müssen, ... lieber selber zu entscheiden, ob ich mit ihnen etwas unternehmen möchte, mir beispielsweise nicht sagen lassen müssen, dass ich mich zu einer bestimmten Zeit am Autoscooter einzufinden habe, ... ich bin 18 Jahre alt. Es war mir nicht zuletzt auch meinen Freunden gegenüber unangenehm zu sagen, ich soll zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sein, weil es meine Eltern so wünschen. Der Gedanke, dass ich es nicht mehr tun muss, wenn ich einen Mann habe, tauchte unwillkürlich auf. Das heißt nicht, dass dieser Aufsichtsdrang meiner Eltern nicht wohl gemeint war, oder dass ich die Schuld von mir weisen möchte, weil das mit Johann später nicht so lief, wie ich es mir gewünscht habe. Nein, nein, jeder macht seine Fehler selber, aber eingeengt fühlte ich mich schon, ich wollte jedoch keinen Streit mit meinen Eltern, sie hatten schon genug Probleme wegen Hagen. So richtig verstand ich das Verhalten meiner Eltern, eben insbesondere das meiner Mutter ohnehin nicht, auf der einen Seite ließ man mein Leben laufen, fragte kaum ob ich mit der Lehre und mit den dazugehörigen Umständen zurecht komme und auf der anderen Seite ließ man mich nicht aus den Augen.

Es kommt nach dem Juli 1971 ein sehr heißer August, von dem ich nicht viel habe, eine Angina zwingt mich dazu, dem schönen Wetter nur zusehen zu dürfen. Die Angina ist so schwer, ich bekomme Spritzen und darf das Haus nicht verlassen. Man sagt, es sei eine Infektionskrankheit, das Pfeiffersche Drüsenfieber, ... man meint ich habe mich angesteckt, als ich im Krankenhaus ein Praktikum auf der Infektionsstation absolviert habe und eigentlich wollte man mich auch dort „unterbringen“. Dank meiner Mutter darf ich aber zu Hause sein mit dem Versprechen, das Haus nicht zu verlassen. Johann will mich besuchen kommen, aber ich darf nicht einmal vor die Tür, so unterhalten wir uns am Fenster, meine Frau Mutter schimpft, ich bin im Nachthemd, sie schickt mich wieder ins Bett. Als es mir besser geht, kommt er mich besuchen, er ist zu der Zeit bei der „Fahne“, so bezeichnet man in der DDR den Wehrdienst, bald muss er weg und ich bin noch weiter bis Ende August krank geschrieben. Ich erhalte Post von ihm, ich freue mich, weil er schreibt, dass er mich liebt, bin aber skeptisch, denn ich muss an die Sache mit Gerrit denken.

Anfang September geht die Schule in Halle wieder los, schön dass ich jetzt ein Zimmer für mich allein habe. Der Stundenplan ist dick voll, von 8.00 bis 16.30 Uhr. Nur am Montag ist jetzt immer Praktikumstag im Heimatort, so ist die Woche in Halle selber etwas kürzer geworden. Noch ein Jahr Halle, dann ist es geschafft. Als ich nach der ersten Woche aus Halle zurückkomme, ist wieder Post von Johann da, ab hier sind es noch 50 Tage bis zum Ende der Armeezeit. Ende September, kurz nach dem Geburtstag meiner Mutter kommt er auf Besuch und steht unerwartet vor der Tür. Ich kann nicht sagen, wie sehr ich mich gefreut habe, schnell ziehe ich mich an und wir gehen spazieren. Es ist ein schöner sonniger Tag, er umarmt mich, ich lasse zu, dass er mich küsst. Am Abend bringe ich ihn zum Bahnhof zurück und finde, dass ihm seine Uniform gut steht.

Anfang Oktober müssen wir das erste Wochenende in Halle bleiben. „Tag der Bereitschaft“, eine Strecke von 5 km ist zu bewältigen mit Karte und Kompass. So richtig mein Ding ist das ja nicht, wie man indessen weiß, es erinnert mich stark an die ungeliebten Geländespiele während der Schulzeit. Zwischendurch müssen Aufgaben der 1. Hilfe gelöst werden, wir sind in mehrere Gruppen aufgeteilt, es ist beruhigend, denn andere finden das Ganze noch unliebsamer, ... und weil meine Kondition eigentlich sehr gut ist. Sogar während wir auf einer Strecke Gasmasken tragen müssen halte ich gut durch. Die Sonja ist in diesen Sachen besonders ungeschickt, wir müssen sie regelrecht mitschleifen, zweimal ist sie hingefallen, aber weil auch der Teamgeist zählt, zerren wir sie eben mit ob sie will oder nicht und schneiden in der Gesamtbenotung " Gut " ab.- Von jetzt an können wir uns Gesundheitshelfer nennen. - Bei der Gelegenheit des Erwähnens vom hinfallen, muss ich daran denken, dass die Sonja einmal auf dem Weg vom Internat zur Schule so doof an den Straßenbahnschienen hängen blieb, hinflog, ... und zwar so, dass man den Hintern und die Schlüpfer sehen konnte, es war ein Bild zum kaputt lachen, … jedenfalls für die Zuschauer, für sie selbst war es ganz bestimmt weniger lustig.

Am Donnerstag, den 7. Oktober haben wir schulfrei, am Freitag, den 8. Oktober Heimfahrtstag, so ist es ein schönes langes Wochenende. Jedes Wochenende habe ich Post von Johann. Immer schreibt er, er meint es ernst und er liebt mich, langsam baue ich Vertrauen auf. Am letzten Oktoberwochenende holt er mich vom Bahnhof ab, am Sonnabend gehen wir am Nachmittag spazieren und am Abend ins Kino. Anschließend sind wir noch auf ein Bier in` s „Kosmos“ gegangen. Anfang November bin ich das erste mal bei ihm zu Hause in seinem Zimmer, dort kommen wir uns auch das erste Mal näher. Für mich ist es das allererste Mal, dass ich mit einem Mann zusammen bin, für mich etwas zu schnell, ich will es eigentlich noch gar nicht, aber ich habe mich hingezogen gefühlt, ich weiß nicht wie ich mich wehren soll und was ich überhaupt will. Ich ordne meine Gedanken, fühle mich verstört, durcheinander und abhängig. Seit diesem Abend geht dann alles ziemlich schnell vorwärts, ich lerne seine Eltern, die Pflegeeltern sind kennen, er im Gegenzug meine Eltern. - Heute weiß ich, das war alles viel zu schnell, ... damals dachte ich, es muss so sein. Wie gesagt liebte ich ihn wohl, jedenfalls glaubte ich das, woher sollte ich wissen, dass sich wahre dauerhafte Liebe ganz anders anfühlt. Durch diesen ersten intensiven körperlichen Kontakt fühlte ich mich ihm gegenüber verpflichtet, für mich war das alles richtig und in Ordnung, … welch naives, fast kindliches Denken!. -

Zum Jahresende fahre ich nur noch alle zwei Wochen nach Hause, das andere bleibe ich in Halle. Man hat die Praktikumstage verlegt, es lohnt sich nicht mehr, jedes Wochenende nach Seelstein zu fahren. Ich kann nun Dank meines Zimmerchens bei Frau Welkes die Wochenenden in Halle zum Lernen für die künftige Abschlussprüfung nutzen. An den anderen, übrigen Wochenenden bin ich mit Johann zusammen, wir besuchen auch Gisela, Anton und den kleinen Martin. Ende November kommt der erste Schnee, er bleibt liegen, es wird ziemlich kalt. Ich kann mich an einen schönen Winterspaziergang mit Johann erinnern, an Kaffee und Kuchen bei ihm zu Hause. Er fragt, ob ich mir vorstellen kann, ihn zu heiraten. Ich bin überrascht, weil auch das sehr schnell für mich kommt, aber ich habe noch immer die Gedanken, die Partnersuche, wenn man es so nennen will, ist beendet , schließlich waren wir ja im Bett und dann heiratet man auch. Ich schäme mich, jemanden zu fragen, ob ich mit meinen Überlegungen richtig liege, denn Gisela und Anton haben auch geheiratet und Anton war schließlich auch Giselas erste „nähere“ Bekanntschaft, … also beantworte ich Johanns Frage mit „Ja". -

Heute denke ich mir: So ein Wahnsinn, ich war doch gerade mal 18 Jahre alt. Ich erzähle zu Hause, dass mich Johann heiraten wolle. Ich stoße zu meiner Überraschung auf keine Einwände oder Moralpredigten meiner Eltern, auf keinen Widerstand insbesondere den meiner Mutter. Es lässt mich glauben, dass meine Auffassung richtig ist. -

Heute kann man mir so mancher deswegen leicht einen „Vogel“ zeigen und sagen: Warum hast du, wenn du schon so blöd bist niemanden, deine Eltern oder Freunde angesprochen?. Sicherlich haben meine Eltern die Botschaft, dass mich Johann heiraten möchte nicht bewusst registriert, weil sie sich verständlicher Weise auf Hagen konzentriert haben, heute glaube ich schon, sie hätten ansonsten doch etwas gesagt. Sie sprachen auch nicht mit mir darüber, wie schlecht es bereits zu der Zeit um meinen Bruder stand.

Der ganze November bleibt kalt und weiß, schön, dass die Oma Welkes immer für eine warme Stube sorgt, sie freut sich über herauf, bzw. herein geholtes Holz und Kohlen. Wir haben zusammen so manchen gemeinsamen gemütlichen Nachmittag bei Kaffee und Gebäck gehabt.

In der letzten Novemberwoche sind wir im Rahmen unserer Ausbildung im pathologischen Institut, eine Sektion, bzw. eine Obduktion steht auf dem Programm. Die Medizinstudenten absolvieren dabei einen Teil ihrer Prüfungen. Es ist eine 87 Jahre alte Frau, die zu Hause gestorben ist, nun soll die Todesursache festgestellt werden. Die zukünftigen Mediziner finden heraus, die Frau hatte ein Gallenbluten und mehrere Gallensteine, Nierensteine, Nierenzysten und eine ausgedehnte Arteriosklerose. Es ist nun nicht gerade ein sehr schöner Anblick, diese ganze Sache, aber ich finde es zumindest interessant. Ein paar von unseren „Leuten“ müssen den Saal verlassen, es ist ihnen schlecht geworden. Ich für meinen Teil denke dass die Pathologie im Zusammenhang mit der Gerichtsmedizin auch etwas für meine berufliche Laufbahn sein könnte, jetzt, wo ich anfange mich intensiv mit vielen medizinischen Dingen auseinanderzusetzen, eine durchaus denkbare Variante.

Auf dem Weg vom Institut zur Schule meint die Anneliese zu uns: „Wetten, dass ich jetzt zum Fleischer gehe, ein Pfund Hirn kaufe, es brate und vor Euren Augen aufesse?“. Das ruft bei den meisten einen Protest in Form von „Iiiiiii....ääääää,nnneeeee, iiii“, hervor. Die Anneliese besteht darauf, und es wird eine Wette abgeschlossen um 20, - Mark, für uns Lehrlinge ein Haufen Kohle, die die Anneliese auch gewonnen hat. Na, ja, interessant oder nicht was die Sektion betrifft, … soweit wäre ich dann doch nicht gegangen. -

Der letzte Monat des Jahres 1971 ist gekommen, Zeit der Weihnachtsmärkte, Kerzen und Glühwein. Der Weihnachtsmarkt in Halle ist schon damals um einiges größer als bei uns in Seelstein. Johann besucht mich in Halle, wir verbringen das dritte Adventswochenende zusammen. Es sind zwei schöne Tage, Johann darf in meinem Zimmer bei Oma Welkes übernachten. „Das ist aber eine Ausnahme“, meint sie, doch sie ist nett und zuvorkommend dabei, bereitet sogar für uns beide ein Frühstück. Es ist die erste gemeinsame Nacht für uns, ich fühle mich gut, er spricht immer nur vom heiraten und ich sage wieder ja , es kursiert immer noch das Gespenst vom ins Bett gehen im Zusammenhang mit heiraten in meinem Kopf herum. -

Dann komme ich, nachdem ich wiedermal bei meiner Freundin bin, doch noch zu der Erkenntnis, dass wenn man sich näher gekommen ist, nicht auch zwangsläufig eine Abhängigkeit von einander entsteht. Es geht aus einem Gespräch zwischen Gisela und ihrem Bruder hervor, mir ist es sehr peinlich, ich behalte es für mich und schäme mich über so viel Dummheit meiner eigenen Person. Bald stellt sich heraus, dass ich nicht nur dumm, sondern auch noch feige bin. Ich will dem Johann sagen, dass ich ihn zwar liebe, aber wir noch nicht heiraten sollten, es ist doch noch Zeit, will ich ihm sagen, ... nachdem ich nun schon mal durch andere Leute diese besagte geistige Erleuchtung bekommen habe, natürlich habe ich mich nicht getraut. -

Das Weihnachtsfest 1971 ist zwangsläufig auch sehr ruhig und traurig, wieder die gleichen Gedanken wie im letzten Jahr. Ein klein wenig Ablenkung bringt der Jahreswechsel, wir sind bei Johanns Freund Egon und dessen Freundin. Das erste Silvester ohne meine Eltern, am nächsten Morgen nach dem Frühstück gehen wir wieder nach Hause. Wieder hat ein neues Jahr angefangen, ... das Jahr 1972

Im Januar 1972 gehen die Abschlussprüfungen weiter, ich muss viel an den Wochenenden lernen, aber man ist jung und es fällt mir nicht schwer. Das schlimmste, Mathematik und Physik sind vergessen und vorbei. Nach wie vor bleibe ich öfter am Wochenende in Halle, um die Zeit für das Studium intensiv zu nutzen. Manchmal kann ich nicht so recht schlafen, ich grübele viel und so manches geht mir durch den Kopf, Hagens Krankheit, die Prüfungen, ... meine Beziehung zu Johann, ich nehme mir ganz fest vor, Johann zu sagen, dass mir alles doch ein wenig zu schnell geht. Als wir am anderen Wochenende zusammen sind, sage ich wiedermal : gar nichts. „Na, was ist, willst Du mich noch heiraten?“, fragt er wieder und als ich nicht gleich antworte, meint er: „Dann haben wir auch eher die Möglichkeit eine eigene Wohnung zu bekommen, überhaupt, wenn einmal Kinder da sind“. Jetzt wäre der Augenblick gewesen, um ihm zu sagen, was ich mir fest vorgenommen hatte, aber ich schweige wieder und nicke nur mit dem Kopf. Ich bin in einer Situation angekommen, aus der ich nicht weiß, wie ich wieder herauskommen soll. Zu der Zeit wurde zudem schneller geheiratet als heute, ich lasse mich überzeugen, dass es so sein muss, dass alles schon so richtig läuft, weil es einleuchtend erscheint. Die Chance auf eine Wohnung würde steigen, ich glaube daran, ewig verliebt zu sein, die Partnersuche ist beendet und ich habe sogar kurzzeitig den wahnwitzig naiven Gedanken, dass ich vielleicht etwas versäume, oder besser gesagt, keinen Mann mehr kriege wenn ich jetzt nicht heirate. Kurz darauf bin ich nicht mehr so restlos und hundertprozentig überzeugt, aber lasse mir dann von Johann die sogenannte Richtigkeit genannter Dinge einreden, suggeriere sie mir dann selber und überlasse alles seinem Lauf. Ist das nicht verrückt?. -

Ende Januar 1972 zieht Johann zu mir in die elterliche Wohnung. Es wird ein wenig umgeräumt, so dass wir ein Zimmer, das ehemalige Schlafzimmer meiner Eltern bewohnen können. In der Veranda richten wir eine kleine Küche ein.

Im Februar 1972 ist wieder Praktikumszeit im Krankenhaus und ich bekomme das Thema für die Hausarbeit, die in dem Beruf zu meiner Ausbildungszeit üblich ist. Mein Thema lautet: Diabetes Mellitus und seine Behandlung im Kindesalter. Zwar haben wir damit Zeit bis Toresschluss, aber ich mache mich schon daran, Dinge dafür in Erfahrung zu bringen und auszuarbeiten. -

Es kommen Ereignisse, die mir hätten zu denken geben müssen, es vielleicht auch taten, dennoch war ich taub und blind. Wir, Johann und ich gehen zu Egons Geburtstag, es sind noch andere Freunde von ihm eingeladen, der Abend war schön. Bei der Gelegenheit erzählt Johann wieder vom heiraten und ich weiß noch genau, dass ein Mädchen, das ich aber nicht weiter kannte eine Bemerkung fallen ließ: „Der Johann liebt die Abwechslung“. Er antwortete: „Das war mal, aber das ist vorbei“. Zwei Wochen später erzählt mir Gisela, dass sie sich von Anton scheiden lässt. - Johann glaubt, dass es richtig ist, als er sagt: „Lass uns an Deinem Geburtstag Verlobung feiern und im Juni oder Juli Hochzeit machen“. Nachdem ich wie immer ja gesagt habe, bin ich in einen Strudel geraten, aus dem ich nicht mehr herausgefunden habe, also wird die Verlobung auf den 1. April 1972, … zusammen mit Hagens Jugendweihe festgelegt, der Tag der Hochzeit für den 9. Juni 1972.

Stehaufmännchen - Die Kraft zu leben

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