Читать книгу Kurze Krimis und mehr - Margit Schaafberg - Страница 5
Auf der Flucht
ОглавлениеSie sind hinter mir her (für meinen Papi zum sechzigsten)
Voller Panik sitze ich im Dunkeln und warte. Ich weiß, es hat nicht viel Sinn. Früher oder später werden sie mich aufspüren. Was soll ich nur tun?
Gestern noch war mein Leben unkompliziert und lebenswert. Ich fühlte mich sicher. Hätte man mir gesagt, man könne mich hier in meinen vier Wänden überfallen, hätte ich den Verdacht weit von mir gewiesen. My home is my castle, da kommt keiner rein, den ich hier nicht haben will.
Seit Jahren lebe ich alleine. Gäste habe ich selten. Dieses Haus ist der ruhige Punkt in meinem Leben, an den ich mich zurückziehe, wenn der Alltag mal wieder über mich hereinzubrechen droht. Wie man sich irren kann!
Ich greife nach der Flasche Bommerlunder neben mir. Das Zeug ist warm geworden, kein Wunder, ich habe es vor drei Stunden aus dem Gefrierfach genommen. So schmeckt mir mein Leib-und-Magen-Getränk nicht, aber ich muss mir einfach Mut antrinken. Aufzustehen und zum Barschrank zu gehen wage ich nicht.
Weiter starre ich in die Dunkelheit, lausche auf unbekannte Geräusche. Und tatsächlich, ich höre ein Kratzen an der Wohnungstür, dann klingelt es.
Was nun? Werden sie auf den Trick hereinfallen? Werden sie glauben, dass sie zu spät kommen? Dass ich schon längst geflohen bin? Verdammt, wenn ich ihnen doch nur rechtzeitig auf die Schliche gekommen wäre. Hätte ich geahnt, dass sie alles wissen. Dann hätte ich mich schon vor Tagen abgesetzt.
Aber ich wollte keine große Sache daraus machen, wollte so tun, als wäre alles wie immer. Was soll ich heute auf Mallorca oder auf Hawaii oder in Timbuktu. Alles was ich will ist meine Ruhe, und die finde ich am besten hier.
Wieder klingelt es. Diese Idioten sind hartnäckiger als ich gehofft hatte. Ich kenne den, der da schellt. Keiner sonst würde den Finger so lange auf dem Knopf lassen. Dann ist endlich Ruhe.
Schon will ich aufatmen, da sehe ich, wie der Schein einer Taschenlampe durch die Glasscheibe der Haustür fällt. Aber das wird sie nicht aufhalten. Ich kenne sie. Schon höre ich Schritte auf dem Kiesweg, der um mein Haus führt. Pause. Das Küchenfenster. Pause. Das Gäste-WC.
Jeden Moment müssen sie vor dem Wohnzimmerfenster stehen. Ich sitze genau darunter, drücke mich noch dichter an die Wand. Der Lichtschein fällt auf den Teppich vor mir, wandert über Bilder und Möbel. Ich höre ihre Stimmen. Offensichtlich sind sie bester Stimmung.
Endlich wird es ruhig. Sie müssen um die Hausecke gegangen sein. Dort steht die alte Kastanie, deren Zweige bis zu meinem Schlafzimmerfenster - heiliger Bimbam, es muss noch offen stehen. Ein Fenster einzuschlagen ist eine Sache, aber einer solchen Einladung werden sie kaum wiederstehen können. Alles was mir jetzt noch bleibt ist zu rennen, so schnell ich nur kann.
Im Bruchteil einer Sekunde springe ich aus meiner unbequemen Haltung auf. Zum Glück habe ich meine Lederjacke nicht ausgezogen, so habe ich das nötigste bei mir, Ausweis, Kreditkarten, Autoschlüssel. Vorsichtshalber taste ich noch einmal die Taschen ab. Nein, alles ist am gewohnten Platz.
Ich öffne das Fenster, und ziehe mich mühselig hoch. Ich hätte besser auf meinen Körper achten sollen. Als ich zu Boden springe, knirscht der Kies gefährlich unter meinen Füßen. Hoffentlich haben sie das nicht gehört. Einen Moment stehe ich da und lausche. Aber nein, alles was ich höre ist fernes Gelächter. Sie können es gar nicht erwarten, über mich herzufallen.
Ich schleiche über den Rasen zur Garage. Zum Glück habe ich das Tor gut geschmiert, es öffnet sich geräuschlos. Der BMW vermittelt mir ein neues Gefühl von Sicherheit. Die festen Wände meiner Behausung konnten sie nicht aufhalten, aber die PS unter der Motorhaube werden mich in Sicherheit bringen. Mein bestes Stück springt zuverlässig an, so schnell es der Rückwärtsgang zulässt stoße ich hinaus in die Auffahrt. Im Licht der Scheinwerfer sehe ich einen ersten Schatten um die Hausecke biegen.
Die Autobahn ist nah, es werden schon keine Streifenwagen unterwegs sein. Ich trete das Gaspedal bis zum Anschlag durch und rase mit Tempo neunzig durch die einsamen Straßen der Stadtrandsiedlung. Immer wieder werfe ich einen Blick in den Rückspiegel. Noch sind keine Scheinwerfer hinter mir zu sehen. Aber wie lange werden sie brauchen, um in ihre eigenen Fahrzeuge zu springen und hinter mir her zurasen?
Auf der A7 schöpfe ich Hoffnung. Das Auto ist brandneu. Laut Händler macht er 220 spitze. In diesem Moment bin ich gewillt auszuprobieren, ob es halten kann was es verspricht. Doch wohin soll ich fliehen?
Am Flughafen werden sie mich als erstes suchen. Was mir bleibt ist die Straße. Mit wie vielen Wagen werden sie gekommen sein? Zwei? Drei? Einer wird direkt nach Fuhlsbüttel fahren, einer Richtung Dänemark. Aber was macht der dritte? Hannover. Sie werden glauben, dass ich in diese Richtung fahre.
Ich grinse. Die werde ich austricksen. An der nächsten Ausfahrt verlasse ich die Autobahn, mache mir nicht einmal die Mühe nachzusehen, wo es hier langgeht. Gemächlich zuckele ich über die Dörfer. Ich habe sie abgehängt.
Schließlich komme ich zu einem Gasthof. Es ist spät, aber auf mein Klingeln wird geöffnet. Man gibt mir ein Einzelzimmer für zwei Nächte. Erleichtert streife ich Schuhe und Jacke ab und falle todmüde ins Bett.
Am Morgen werde ich spät wach. Ich dusche ausgiebig und schlüpfe dann wieder in meine zerknitterten Kleider. Nun ist also der gefürchtete Tag gekommen. Der Gasthof ist nicht gerade das Versteck meiner Träume, aber unter diesen Umständen darf man nicht wählerisch sein.
Den Tag verbringe ich in meinem Zimmer mit einem Krimi, den ich mir von den Wirtsleuten geliehen habe. Erst am Abend gehe ich hinunter in die Gaststube. Dort geht es bereits hoch her. Ich setze mich an einen Tisch in der Ecke und bestelle mir mein Abendessen. Während ich warte, beobachte ich die fröhlichen Menschen um mich herum.
Viele der Männer und Frauen sind bereits gehörig angeheitert. Offenbar kennt hier jeder jeden. Immer wieder wandern neugierige Blicke zu mir, dem Fremden. Schließlich kommt einer der Männer herüber.
"Was sitzt du denn hier so trübselig rum? Komm doch zu uns rüber."
Ein bisschen ziere ich mich noch, aber warum eigentlich nicht. Sie wissen ja nicht Bescheid. Hier bin ich auch heute nur einer unter vielen. So greife ich nach Bier- und Bommiglas und folge meinem neuen Freund.
Was folgt ist ein ausgelassener Abend. Schon bald bin ich mit allen per du. Keiner fragt hier, wer ich bin und woher ich komme. Zum ersten Mal seit Tagen fühle ich mich wieder wohl in meiner Haut.
"Mensch Johann", sagt einer, "Nächste Woche ist Schützenfest, da geht hier erst richtig die Post ab. Kommst du wieder?"
Ich möchte ja. Aber werde ich auch dann noch den Mut haben, aus dem Alltag auszubrechen? "Ich bin ja nicht freiwillig hierhergekommen. Genau genommen bin ich auf der Flucht."
"Echt? Vor den Bullen?"
"Nein." Ich seufze. "Vor meinen Freunden. Gestern bin ich dahinter gekommen, dass sie eine Überraschungsparty zu meinem sechzigsten Geburtstag geplant hatten."
"Und dann haust du einfach ab?"
Hätte ich doch nur den Mund gehalten, denn schon springt er auf einen Stuhl und verkündet dem ganzen Saal: "Leute, der Johann hier, der hat heute Geburtstag."
Verlegen blicke ich zu Boden, als sich alle um mich versammeln und mehr laut als schön "Happy birthday to you" anstimmen. Also bin ich diesem Albtraum doch nicht entkommen. Doch als ich später die zweite Lokalrunde schmeiße merke ich, dass so eine Party gar nicht so schlimm sein muss, wie ich sie mir vorgestellt habe.