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Bis zum letzten Atemzug

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Piep - piep piep. Der Ton ist immer derselbe. Seit einer Ewigkeit. Wie lange weiß ich nicht, ich habe jedes Zeitgefühl verloren. Wenn ich aufwache, ist es manchmal dunkel und manchmal hell. Aber heißt das, dass es Tag ist oder Nacht? Mit mir redet ja niemand.

Manchmal kommt eine Schwester herein und überprüft die Werte oder wechselt einen Infusionsbeutel. Und manchmal kommen Ärzte, die so leise miteinander reden, dass ich sie nicht verstehen kann.

Am Anfang kam auch Marie. Marie, meine Geliebte Marie. Sie trug ein schwarzes Kleid und einen Hut mit einem Schleier. Wie zu einer Beerdigung. Und sie weinte und wischte sich dekorativ ihre veilchenblauen Augen mit einem Spitzentaschentuch.

"Johann", hauchte sie. "Oh Johann! Was soll ich nur ohne dich tun?"

Sie nahm meine Hand und legte sie an ihre Wange. Spüren konnte ich es nicht, ich fühle gar nichts mehr. Aber sehen konnte ich es. Wie gerne hätte dir ihr ein Zeichen gegeben, oh meine Marie.

Dann kam sie seltener. Ich weiß es, weil es zwischen ihren Besuchen immer öfter hell und dunkel wurde. Sie trug auch wieder andere Kleider. Das Rote, das ich ihr zwei Tage vor dem Unfall gekauft hatte und das mir so gefällt. Oder das Grüne mit dem Spitzenkragen, das sie an meinem letzten Geburtstag trug. Sie sah darin umwerfend aus, wie immer. Wenn ich es ihr nur hätte sagen können.

Vielleicht wäre er dann nie gekommen, der Tag, an dem sie Paul mitbrachte. Sie war lange nicht da gewesen und zuerst freute ich mich, dass sie sich endlich mit meinem Sohn aus erster Ehe versöhnt hatte. Und nicht genug damit, sie hatte ihn dazu gebracht, zu mir zu kommen, damit auch ich meinen Frieden mit ihm schließen konnte. Bestimmt war sie deshalb so lange nicht gekommen, weil sie all ihre Energie darauf verwandt hatte, ihn zu überzeugen.

Eine heiße Welle der Liebe durchströmte mich und ich versuchte, ihr mit einem Augenzwinkern ein Zeichen zu geben. Endlich gelang es mir, die Lider um einen Bruchteil zu senken, aber ihr schautet gerade nicht zu mir. Ihr standet am Fenster und hieltet euch eng umschlungen, um euch gegenseitig Kraft zu geben.

Ach Paul, du Guter! Nie hätte ich gedacht, dass du deine eigenen Gefühle so hintenan stellen könntest, um der Frau, die ich liebe, in dieser schweren Zeit beizustehen. So sehr wandtest du ihr all deine Aufmerksamkeit zu, dass du beim Gehen nur einen kurzen Blick auf mich warfst. Aber das ist in Ordnung so. Ich weiß jetzt, dass du mir vergeben hast.

Und die Geräte hinter mir machen weiter Geräusche. Das Piepen muss mein Herzschlag sein. Das Pfeifen kommt sicher vom Beatmungsgerät. Ich hasse diesen Schlauch in meinem Hals. Warum kann ich ausgerechnet ihn spüren, obwohl ich an allen anderen Stellen meines Körpers das Gefühl verloren zu haben scheine?

Ich höre ein Kratzen an der Tür und Stimmen auf dem Flur. Sie scheinen genau vor der Tür zu meinem Zimmer zu stehen. Verstehen kann ich nichts, aber sie sprechen laut genug, dass ich drei Personen zu unterscheiden glaube.

Die Tür quietscht, als sie aufgeht und jetzt höre ich laut und deutlich Pauls Stimme.

"Vielen Dank für Ihre Ehrlichkeit, Doktor Markus. Ich versuche ja schon seit Wochen, meiner Stiefmutter vorsichtig die Wahrheit beizubringen. Aber sie hofft immer noch."

"Wie gesagt, so leid es mir tut, Herr Kerner, es besteht kein Zweifel. Bei Ihrem Vater zeigt sich keine Hirnaktivität mehr. Die Verletzungen, die er bei dem Unfall erlitten hat, waren zu schwer. Nur die Maschinen erhalten ihn noch am Leben."

Ich höre Marie schluchzen. "Oh Johann, mein Johann! Aber wie könnt ihr von mir verlangen, dass ich diese Entscheidung treffe? Ich liebe ihn doch!"

Verzweifelt versuche ich, ihnen irgendein Zeichen zu geben. Was sagt der Arzt da? Wie kann er behaupten, ich hätte keine Hirnaktivität mehr? Ich lebe. Ich denke. Ich kriege alles mit. Wie kann ich es ihnen nur zeigen?

"Seien Sie jetzt tapfer, Frau Kerner. Sie dürfen jetzt nicht nur an sich denken. Ihr Mann hat doch eine Patientenverfügung aufgesetzt, die deutlich besagt, dass er nicht künstlich am Leben erhalten will, wenn keine Hoffnung mehr besteht. Sie müssen mir glauben, vier der besten Hirnspezialisten haben Ihren Mann untersucht und alle sind zu demselben Schluss gekommen, wie ich."

Vier Ärzte? Sollte ich sie verschlafen haben? Normalerweise bekomme ich doch mit, wenn Visite ist und die letzten Male war immer nur Doktor Markus bei mir. Immer.

"Aber muss es denn heute sein? Warum ausgerechnet heute?"

Ich höre an Maries Stimme, dass sie in Tränen aufgelöst ist. Sie beugt sich über mein Bett und streicht mir über die Wange. Oh wie lange hat sie das schon nicht mehr getan? Wenn ich es nur spüren könnte, aber ich sehe ihren Finger unter meinem linken Auge entlang fahren. Wieder versuche ich, einen Muskel in meinem Lid zu bewegen, aber niemand scheint etwas zu bemerken.

"Sei vernünftig, Marie. Jetzt bin ich noch hier. Jetzt bin ich noch hier und kann dir mit den Formalitäten helfen. In zwei Wochen muss ich zurück. Das weißt du doch."

"Ja, dann ist es vielleicht wirklich das Beste. Ach Paul!"

"Ich lasse Sie dann noch ein wenig mit ihm alleine, damit sie Abschied nehmen und sich von ihm verabschieden können. Wenn Sie soweit sind, finden Sie mich im Dienstzimmer am Ende vom Flur."

Ich höre die Tür ins Schloss fallen.

"Was meinst du, wie lange müssen wir warten, bevor wir ihn holen?"

Maries Stimme klingt nervös. Keine Spur von Trauer schwingt mehr darin.

"Ruhig Blut. Wir dürfen keinen Verdacht erregen. Zumindest nach außen müssen wir den Anschein wahren. Auch wenn Dr. Markus auf unserer Seite ist und uns deckt, es war zu riskant, das ganze Krankenhauspersonal ins Boot zu holen. Einer von ihnen hätte mit Sicherheit nicht mitgespielt."

"Du hast ja Recht, Schatz. Ich wünschte nur, wir könnten endlich heiraten, jetzt wo das Baby jeden Moment kommen kann."

"Und ich wünschte, ich wir hätten das Geld des Alten schon geerbt, du weißt, die Gläubiger sitzen mir schon im Nacken. Lange kann ich sie nicht mehr hinhalten. Aber du willst doch nicht riskieren, dass wir zwei Hübschen im Knast landen?"

Die Schritte entfernen sich von meinem Bett. Ein Kind. Marie erwartet ein Kind - von ihm. Mir hat sie immer gesagt, sie wolle keine Kinder haben. Aber was rege ich mich ausgerechnet darüber auf? Alles war eine Lüge. Alles, was sie je gesagt und getan hat. Was soll ich nur tun?

Und die Maschine piept weiter. Sie zählt meine letzten Sekunden herunter. Die Beiden sind still und die Zeit vergeht. Ich weiß nicht, wieviel.

"Jetzt haben wir wohl lange genug gewartet. Drück dir noch ein paar Tränchen ab Schatz, ich bin gleich mit Doktor Markus wieder da."

Ich höre Maries Schritte, als sie drei Mal die Länge meines Zimmers abschreitet, hin und zurück, hin und zurück, hin und zurück. Dann geht die Tür wieder auf.

"Sie sind sich also einig?" Doktor Markus Stimme klingt geschäftlich. Wieviel mag Paul ihm für das falsche Gutachten geboten haben?

Nun erscheint das Gesicht des Arztes über meinem Bett. Noch einmal dreht er sich zu dem Punkt um, an dem ich Marie und Paul vermute, und nickt fast unmerklich mit dem Kopf. Dann beginnt er, an dem Schlauch zu ziehen, der aus meinem Hals ragt.

Und plötzlich, weiß ich ganz sicher, was zu tun ist. Und ebenso sicher weiß ich, dass ich es immer noch kann. In dem Moment, in dem die künstliche Beatmung aussetzt, schnappe ich nach Luft. Ich atme, ich atme einfach weiter.

Maries Schreie hallen durch das Zimmer. Ich höre Schritte Richtung Tür eilen. Es wird wohl Paul sein, der wieder einmal aus meinem Leben verschwindet. Wenigstens diese letzte Genugtuung habe ich noch, bevor mir die Kraft zum Weiteratmen ausgeht.


Kurze Krimis und mehr

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