Читать книгу Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung - Margrit Stamm - Страница 10
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2.1 FBBE-Systeme
Dass ein Staat frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung als öffentliches Gut betrachten, sie systematisch ausbauen und qualitativ verbessern soll, ist heute international anerkannt. Doch wie sieht es in der Praxis tatsächlich aus? Ein Blick in die bildungs- und sozialpolitischen Agenden zu den Ausgaben für den Vorschulbereich zeigt beispielsweise, dass die Schweiz aktuell höchstens Mittelmaß ist und dass dies im Wesentlichen auch für Österreich, weniger jedoch für Deutschland, gilt. In Ländern wie England, Frankreich, den USA, Holland oder Skandinavien hat Frühförderung in Bildungs- und Sozialpolitik wie auch in der Forschung Tradition, und auch in Deutschland ist sie in den letzten Jahren zu einem Topthema geworden. Große Firmen wie McKinsey («McKinsey bildet: Frühkindliche Bildung») und Stiftungen wie die Naumann-Stiftung («Frühkindliche Bildung – Grundlage einer zukunftsfähigen Gesellschaft») oder die Bertelsmann-Stiftung («Kinder-früher-fördern»), aber auch deutsche Arbeitgeber verbände («Bessere Bildungschancen durch frühere Förderung») zeigen sowohl in finanzieller als auch in ideeller Hinsicht ein großes Engagement. Auch in der Schweiz engagieren sich Stiftungen zunehmend für die frühkindliche Bildung – beispielsweise im Rahmen der Grundlagenstudie «Frühkindliche Bildung in der Schweiz», die im Auftrag der UNESCO-Kommission durchgeführt worden war (Stamm et al., 2009), währenddem sich Engagements von Betrieben bislang eher in Grenzen halten.
2.1.1 Begrifflichkeiten als Abbilder der unterschiedlichen FBBE-Systeme
Bereits in der Einleitung wurde festgehalten, dass international unterschiedliche Begrifflichkeiten verwendet werden, wenn von frühkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung die Rede ist. Tabelle 2.1 präsentiert eine aktuelle Übersicht. Dabei ist zu beachten, dass die Bezeichnungen variieren und oft englischsprachige Begriffe wie childcare, daycare oder early education ohne Übersetzung in die Landessprache in internationalen Untersuchungen zu finden sind. Die Bezeichnungen sprechen sowohl von Bildung und Lernen als auch nur von Betreuung. Zum Beispiel verwendet Österreich noch weitestgehend den Begriff der «Kinderbetreuung». Es sind jedoch Diskussionen im Gang, vermehrt auf frühkindliche Bildung zu setzen (www.bildungsserver.de). |25◄ ►26|
Schweiz | FBBE |
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Deutschland | FBBE; Bildung und Erziehung in Kindertagesbetreuung, frühkindliche Bildung |
■ | Krippen, Kindertagespflege etc. (0 – 3 Jahre) |
■ | Kindergarten mit einem Vorschuljahr (3 – 6 Jahre) |
Österreich | Kinderbetreuung |
■ | Kindertagesstätten, Krippen, Tagesmütter (0 – 3 Jahre) |
■ | Kindergarten (3 – 6 Jahre) |
Frankreich | L’éducation préscolaire |
■ | école maternelle (2 – 6 Jahre) |
■ | cycle des apprentissages premiers (die ersten drei Jahre) |
■ | cycle des apprentissages fondamentaux (die letzten drei Jahre) |
Italien | I servizi educativi per la prima infanzia |
■ | Asili nidi (0 – 3 Jahre) (Kinderkrippen) |
■ | Scuola dell’infanzia (2 – 6 Jahre) (Vorschule) |
■ | Scuola materna (3 – 6 Jahre) (Kindergarten) |
Finnland | Early Childhood Education and Care (in Finnland) |
■ | Child daycare and early childhood education am Departement für Soziales und Gesundheit (finnische Informationsseiten) |
■ | Vorschule (Esikoulu/Förskola) (1 – 7 Jahre) |
Dänemark | Kindertagesbetreuung oder Vor- und Grundschule (Folkeskole) |
■ | Kinderkrippen (vuggestuer) (0 – 3 Jahre) |
■ | Kindergarten (børnehaver) (3 – 6/7 Jahre) |
■ | Kindergartenklasse (børnehaveklasse) (6 Jahre, als Übergang in die Schule) |
Schweden | Vorschulwesen (förskoleverksamhet) |
■ | Vorschule (förskola) (0 – 6 Jahre) |
■ | Familientagesheim (familjedaghem) (für alle Kinder, die weiter weg wohnen von einer förskola oder besondere Bedürfnisse haben) |
■ | Offene Vorschule (öppen förskola) (optionale Tagespflege für Kinder, deren Eltern nicht berufstätig sind und die Kinder nur teilweise abgeben möchten) |
■ | Freizeitzentren (fritidshem) (zusätzliche Betreuung, auch für Schulkinder) |
Großbritannien | Childcare and Pre-School learning (0 – 5 Jahre) |
■ | Besondere Programme und Einrichtungen: |
■ | Programme wie Early Excellence Centre und Sure Start (Bildung und Betreuung sowie Unterstützung von Familien) |
■ | British Association for Early Childhood Education |
■ | Foundation stage 3 – 5 (Bildungsplan vorschulischer Bereich in Großbritannien) |
(seit September 2000) |
Tabelle 2.1: Internationale Bestandsaufnahme zu den Begrifflichkeiten
Dass die Diversität der Begrifflichkeiten letztlich ein Abbild der unterschiedlichen FBBE-Systeme darstellt, ist schon in Kapitel 1 angesprochen worden. Grundlage der nachfolgenden Betrachtung bilden die Ergebnisberichte Starting Strong I (2001) und II (2006). Dabei handelt es sich um eine thematische Untersuchung der OECD, die im März 1998 durch den OECD-Bildungsausschuss ins Leben gerufen worden war und an der sich zwölf Länder (Australien, Belgien [flämischer und französischsprachiger |26◄ ►27| Teil], Großbritannien, Dänemark, Finnland, Italien, die Niederlande, Norwegen, Portugal, Schweden, die Tschechische Republik und die USA) beteiligten. Ziel war es dabei, länderübergreifende Analysen und Informationen über Systeme der Kindertagesbetreuung und der frühkindlichen Bildung in den einzelnen Ländern zu erhalten. In der zweiten Runde im Jahr 2004 nahmen auch Deutschland und Österreich teil, die Schweiz jedoch nicht. Ziel dieser zweiten Studie war es, den beteiligten Staaten Anregungen für die Weiterentwicklung der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung zu geben und die Erkenntnisse auf internationaler Ebene zu kommunizieren. Im Mittelpunkt der zweiten Studie standen neben dem Ländervergleich Herausforderungen und Entwicklungsaufgaben sowie Schlüsselelemente für eine erfolgreiche Kindertagesstättenpolitik, Fragen zur Qualitätsentwicklung und Zukunftsaufgaben.
Tabelle 2.2 gibt einen Überblick über die verschiedenen Systeme in ausgewählten OECD-Ländern. Sie macht beispielsweise ersichtlich, dass in Großbritannien der Staat die alleinige Verantwortung für die sozial- und bildungspolitische Strategie trägt, dass in den anderen Ländern auch die Verantwortung der Regionen dazukommt und dass in Schweden die dezentralisierte Organisation bedeutsamer ist als die Verantwortung des Staates. Auch in Bezug auf die strategische Ausrichtung ist Schweden ein Sonderfall. Während in allen anderen dargestellten Ländern eine dichotome Ausrichtung sowohl auf Bildung als auch auf soziale Wohlfahrt praktiziert wird, ordnet Schweden diese der Bildungsperspektive unter. Gleiches gilt für die bedienten Altersgruppen, welche hier von null bis sechs Jahren alle Kinder umfassen, während sie in einigen anderen Ländern zweigeteilt sind (Schweiz, Deutschland, Österreich). Schweden und Großbritannien sind ferner die einzigen der ausgewählten Länder, die das Angebot auch für Neugeborene sichern, während die anderen Länder eine untere Alterslimite von drei Monaten (Frankreich, Italien), sechs Monaten (Dänemark) oder einem Jahr (Finnland) festlegen. Sowohl das Kriterium der Verfügbarkeit als auch das der Finanzierung verdeutlichen die enorme Heterogenität der adressierten Gruppen und das unterschiedliche staatliche Engagement.
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Tabelle 2.2: Frühkind iche Bildung und Betreung in ausgewählten OECD-Ländern
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2.1.2 Öffentliche Investitionen: Eine Ländertypologie
Das Ausmaß, in welchem sich ein Staat im FBBE-Bereich engagiert, beeinflusst die Finanzierung, den Fokus und den Status, aber auch die Prozesse frühkindlicher Bildung. Um die unterschiedlichen Modelle einzelner Staaten diskutieren zu können, schlägt Bennett (2003) ein Modell vor, das in Tabelle 2.3 dargestellt ist und drei unterschiedliche Typen zutage fördert. Es gruppiert sich um das Niveau der öffentlichen Investitionen: Länder mit hohen Investitionen in öffentliche Angebote, Länder mit mittleren Investitionen in Vorschulmodelle und Länder mit tiefen Investitionen in gemischte Modelle. Der erste Typ umfasst Länder mit einem Bruttosozialprodukt (BSP) größer 1,0 %. Dazu gehören Kanada, Italien, Skandinavien oder Neuseeland. In diesen Ländern sind Angebote sowohl als Unterstützungsleistungen für Eltern und Kinder als auch als bildungsorientierte Vorschulprogramme etabliert. Sie sind von staatlichen Mitteln getragen, und es wird keine Unterscheidung zwischen Betreuungs- und Bildungsdimensionen gemacht. Dabei handelt es sich durchgehend um Ganztagsangebote für alle Kinder. Der zweite Typ charakterisiert Länder mit einem BSP zwischen 0,5 und 1,0% und großen, flächendeckenden Bildungsangeboten für Drei-bis Vierjährige. Dazu gehören Frankreich, Großbritannien, die Niederlande oder die USA. In diesen Ländern werden Kinder üblicherweise mit vier oder fünf Jahren eingeschult. Es gibt eine deutliche politische Unterscheidung zwischen Bildungs- und Betreuungsangeboten. Dies zeigt sich darin, dass Vorschulangebote außerhalb des Schulsystems angesiedelt sind. Viele Angebote schließen eine kompensatorische Bildungsdimension ein. Am bekanntesten sind die US-amerikanischen Head-Start- und Early-Head-Start-Programme (Bowman et al., 2000). Die Mehrheit der Vorschulangebote ist als Betreuungsdienstleistung mit Fokus auf Gesundheit, Sicherheit und Fürsorge konzipiert. Ihre Finanzierung erfolgt meist auf privater Basis, die gewinnorientiert oder gemeinnützig sein kann. Der dritte Typ schließlich fasst Länder mit einem BSP kleiner 0,5% zusammen. Dazu gehören Staaten wie Österreich, Deutschland, die Schweiz, Irland oder Korea. Sie betonen vor allem den freien Markt und erachten als ihr erstes Ziel, die soziale Verantwortung zurückhaltend, bedürfnisorientiert und selektiv zu gestalten. Bildung und Betreuung junger Kinder liegt deshalb in der privaten Verantwortlichkeit der Eltern und gilt als Dienstleistung für arbeitende Mütter und Väter. Entsprechend niedrig sind die öffentlichen Interventionen. Ihre Familienpolitik ist vorwiegend auf arme und risikobehaftete Familien/Kinder ausgerichtet.
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Tabelle 2.3: Paradigmen vorschulischer Betreuungs- und Bildungsinvestitionen (nach Bennett, 2003)
Ungeachtet dieser Typologien haben die gesellschaftlichen Veränderungen, die zunehmend diverse Bevölkerung sowie der Wandel der familiären Bedingungen und ihrer Strukturen zu sozialpolitischen Grundsatzdiskussionen über das Angebot frühkindlicher Bildungs- und Betreuungsleistungen des Staates geführt. Einer der Gründe liegt darin, dass die in den letzten Jahren stark gestiegene Nachfrage nach außerhäuslichen Betreuungsplätzen die großen Schwierigkeiten der Familien ersichtlich gemacht hat, Berufs- und Familienarbeit auszubalancieren. Aufgrund der Notwendigkeit, dass vielfach beide Elternteile verdienen müssen, ist diese Praxis zu einem regulären Familienmuster geworden. Eine Folge davon ist, dass die historische Position der Frauen als Familien- und Haushaltbetreuerinnen und die Tradition vieler Staaten, Kinderbetreuung als private Familienangelegenheit zu betrachten, zunehmend hinterfragt wird. Die Vernachlässigung des frühkindlichen Bereichs hat dazu geführt, dass zu wenig Angebote zur Verfügung stehen, Familien in der Folge nur limitierte und kostenintensive Auswahlmöglichkeiten haben und sie ihre Kinder notgedrungen auch in Angeboten variabler Qualität platzieren müssen, in denen eine entwicklungsangemessene Unterstützung und Förderung nicht immer gewährleistet ist. Diese Problematik wird zu einem virulenten Dilemma. Einerseits ergibt es sich aus dem zunehmenden Druck zu finanziellen Kürzungen, andererseits aus der gewachsenen Erkenntnis, dass die frühkindliche Bildung und Betreuung ein wichtiges Fundament des Gesellschafts-und Bildungssystems darstellt, seine Wirksamkeit jedoch nur entfalten kann, wenn es qualitativ hochstehend ist. Hohe Qualität ist jedoch mit höheren als bisher üblichen Kosten verbunden.
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2.1.3 Schulvorbereitendes versus sozialorientiertes Paradigma
Die in Tabelle 2.2 dargestellten Merkmale der einzelnen Länder stehen auch für unterschiedliche Paradigmen. Das eine Paradigma fokussiert auf schulvorbereitende Wissens- und Kompetenzbereiche wie Sprachförderung (literacy) und Zahlenverständnis (numeracy). Diesem Paradigma liegt ein Verständnis von Bildung als Ressource für die Erzeugung von Humankapital, zur Aufrechterhaltung von Wettbewerbsfähigkeit und Funktionstüchtigkeit zugrunde. Das andere Paradigma betont die Entwicklung des Kindes als ein in verschiedenen Domänen lernendes Individuum. Es warnt ausdrücklich vor einer zu frühen Konfrontation mit akademischen Lehrinhalten und betont den Wert des Spiels und sämtlicher vom Kind selbst ausgehenden kulturell geprägten Aktivitäten. Während das erste Paradigma auf einem instrumentellen Bildungsverständnis beruht, das Bildung auf Wissen und Schulvorbereitung fokussiert und beispielsweise in Frankreich, Großbritannien oder etwa in der französischsprachigen Schweiz zur Anwendung gelangt, basiert das zweite Paradigma auf einem subjektiv-konstruktivistischen Persönlichkeitsverständnis, das in der Tradition der fröbelschen Bildungsidee respektive der Reggio-Pädagogik liegt und die Sozialisation, Selbstbildung sowie Autonomie des Individuums und damit die Abgrenzung von der Schule betont. Dieses Paradigma ist in der deutschsprachigen Schweiz, in Österreich, Deutschland, Italien, Schweden oder Dänemark grundlegend.
Obwohl sich die Schwerpunkte der Vorschulprogrammatik und das Verständnis von Bildungs- und Betreuungsprozessen in den einzelnen Ländern dem vorherrschenden Paradigma entsprechend unterscheiden, lassen sich zwei allgemeine Tendenzen festhalten: Erstens ergeben sich sozusagen in allen Ländern Probleme im Übergangsbereich Vorschule – Primarschule, denen man auf unterschiedliche Art und Weise entgegenzutreten versucht. So ist in Irland bereits im 19. Jahrhundert die Integration der Vorschule in den Primarbereich erfolgt, in den Niederlanden ist dies seit 1985 der Fall. Verschiedene Länder haben in den letzten Jahren auch Bildungspläne für die frühe Kindheit entwickelt, so Neuseeland 1996, Schweden 1998 und England 2000 sowie in jüngster Zeit auch Deutschland. Zweitens wird in vielen Ländern versucht, die Sozialisations- und Bildungsfunktion zu kombinieren. Diejenigen Länder, die traditionell eher auf kognitive Bildung ausgerichtet sind, bemühen sich verstärkt um eine Annäherung an soziale Bildungsziele, während Länder wie die Schweiz oder Deutschland die soziale Funktion besonders betonen, sich jedoch mit neuen Schuleingangsmodellen vermehrt um die Förderung der intellektuellen Entwicklung bemühen (OECD, 2006, S. 33) und sich dabei an einem dynamischen Lern- und Leistungsbegriff orientieren.
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2.2 FBBE-Forschung
2.2.1 Historischer Rückblick
Die FBBE-Praxis hat eine lange Tradition. In den USA umfasst sie seit der Einführung der infant schools, der nursery schools oder der day care centers mehr als 150 Jahre. Ähnliches gilt für den deutschsprachigen Raum: Der erste Kindergarten ist von Fröbel im Jahr 1840 eingeführt worden, die erste Kinderkrippe bereits 1802 von Fürstin Pauline von Lippe. Die FBBE-Forschung jedoch hat eine deutlich kürzere Geschichte. Sie lässt sich in vier Wellen einteilen.
• Bis in die 1960er-Jahre fokussierte die einzige, meist angloamerikanische Forschung zu jungen Kindern ausschließlich auf die Entwicklungspsychologie. Vor allem die Reifungstheorie von Arnold Gesell blieb die akzeptierte entwicklungspsychologische Theorie. Sie postulierte, dass die meisten menschlichen Eigenschaften vorwiegend genetisch determiniert seien und deshalb bereits bei der Geburt festgesetzt seien. Deshalb würde feststehen, dass eine durch Reifungsmechanismen bestimmte Entwicklung in ihrer reinen Form unabhängig von Förderung und Unterricht verlaufe und die Intelligenz eines Menschen nicht verbessert oder modifiziert werden könne. Dementsprechend galt der Kindergarten als Ort, an dem die Kinder betreut werden sollten, damit sie ihre Sozialkompetenz entwickeln konnten. Die Bildung jedoch blieb der Grundschule vorbehalten.
• Grundsätzliche Veränderungen brachten die 1960er-Jahre, in Europa die 1970er-Jahre. Nachdem die Raumfahrtanstrengungen der Sowjetunion die internationale Wettbewerbsfähigkeit der USA auf eine harte Probe gestellt hatten, wurde im Zuge dieses «Sputnikschocks» Bildung und damit die Frage, wie die frühe intellektuelle Entwicklung der Kinder optimal unterstützt werden könnte, zu einem wichtigen Faktor im Wettbewerb des Westens gegen den Osten. In der Folge wurden in den USA und später auch in Europa viele Vorschulinitiativen ergriffen. In den USA hießen sie Head-Start und kompensatorische Erziehung, im deutschsprachigen Raum waren es Programme zur kognitiven Frühförderung, zur Intelligenzentwicklung und zum Frühlesen (Lückert, 1969). Erstmals wurden solche Programme auch wissenschaftlich begleitet.
• Dieser Trend der wissenschaftlichen Fundierung setzte sich mit den Fortschritten in der Entwicklungspsychologie fort, insbesondere in der kognitiven Entwicklungspsychologie Piagets. Allerdings fokussierte diese fast ausschließlich auf kognitive Funktionen, weshalb der umfassende Bildungsgedanke verloren
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ging. Dazu trugen auch die neuen Ansätze von Hunt (Bedeutung der Umweltstimulierung), Bloom (Analysen zur Intelligenzentwicklung), Roth (dynamischer Begabungsbegriff), Bronfenbrenner (Ökologie der menschlichen Entwicklung als Wechselwirkungen) oder Bruner (entdeckendes Lernen durch Umweltstimulierung) bei (vgl. zur Geschichte der Entwicklungspsychologie Montada, 1987, S. 11 ff.).
• In den 1970er- und 1980er-Jahren kehrte die Situation mit dem sogenannten Situationsansatz fast ins Gegenteil. Er gilt bis heute gewissermaßen als «pädagogische Theorie» des Kindergartens. In seinem Mittelpunkt steht das soziale Lernen, dem andere Kompetenzen – wie beispielsweise sprachliche oder mathematische Vorläuferfähigkeiten – lediglich zugeordnet werden. Allerdings wurden viele Modelle entwickelt, sodass man nicht von dem Situationsansatz sprechen kann. Zwischenzeitlich wurde der Situationsansatz mit viel Kritik belegt. Bemängelt wurden vor allem seine Offenheit, die immensen Anforderungen an das Personal, die Missverständlichkeit der Konzepte, welche leicht zu einem Laisser-faire-Stil respektive zu einer Benachteiligung bestimmter Kindergruppen führen könnten, und dass er die Bildungsförderung der Kinder insgesamt vernachlässige (vgl. dazu auch Fried, 2003). Ein im Hinblick auf die FBBE-Thematik besonders gewichtiger Vorwurf ist der, dass der Situationsansatz vom starken, vom von sich aus aktiv mit der Umwelt sich auseinandersetzenden Kind ausgehe und den Gedanken ausblende, dass es Kinder gebe, welche auf Unterstützung und Hilfe angewiesen seien.
• Seit den 1990er-Jahren, vor allem jedoch seit der Jahrhundertwende, konzentriert sich nun auch die deutschsprachige Forschung, vor allem auch im Zuge der Entwicklung der Neurowissenschaften sowie der Entwicklungs- und Kognitionspsychologie, zunehmend auf die frühe Kindheit und den damit verbundenen Bildungsgedanken. So sind verschiedene Forschungsinitiativen lanciert worden, welche auf die Mulitdimensionalität der frühen Kindheit verweisen. Dazu gehören beispielsweise die im Jahr 2005 begonnene BiKS-3 – 8-Studie («Bildungsprozesse, Kompetenzentwicklung und Selektionsentscheidungen im Vorschulalter») an der Universität Bamberg oder die FRANZ-Studie («Früher an die Bildung – erfolgreicher in die Zukunft ?»), die im Februar 2010 an der Universität Fribourg (Schweiz) gestartet ist.
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2.2.2 Schwerpunkte der aktuellen Forschung
Welche Bildungs- und Betreuungsangebote junge Kinder brauchen und welche Konzepte vorschulische Institutionen ihnen vorlegen sollten – diese Frage ist auch heute nicht gelöst. Trotzdem besteht mehrheitlich Konsens, dass aufgrund unserer diversifizierten Gesellschaft Förderangebote flexibel auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten des Kindes und auf ihre Kontexte ausgerichtet werden müssen. Die nachfolgend dargestellten Schwerpunkte der aktuellen Forschung zur Pädagogik der frühen Kindheit spiegeln diesen Konsens. Sie fokussieren auf die kulturelle Diversität und ihre Folgen, auf Eltern- und Familienbildungsarbeit und damit verbundene Betreuungsfragen sowie auf die frühere Förderung junger Kinder.
1. Sensitivität gegenüber kulturellen Differenzen und Hinwendung zu Risikogruppen: Das Bewusstsein, allen Kindern einen chancengleichen Zugang zu einer qualitativ hochstehenden Vorschuleinrichtung zu ermöglichen, ist in den letzten Jahren stark angestiegen. Als Erstes hat es sich in der Sprachforschung niedergeschlagen. Grundlegend war dabei die in den Sozialwissenschaften verbreitete Annahme, dass Kinder, die nicht so sprechen, handeln und denken, wie dies die Gesellschaft von ihnen erwartet, in der Schule benachteiligt werden. Solche Annahmen haben sich in zahlreichen empirischen Studien bestätigt. Nachdem lange Jahre diese Defizithypothese Bestand hatte, ist in den letzten Jahren ein Wandel zu pluralistischeren Entwicklungsmodellen in Gang gekommen. Daraus haben sich neue Perspektiven ergeben, welche zwischen Kompetenz und Entwicklung unterscheiden und auf unterschiedliche Lebenserfahrungen in den Vorschuljahren hinweisen. In diesem Zusammenhang hat sich auch die empirisch breit abgestützte Erkenntnis etabliert, dass vorschulische Interventionen zur Ausbalancierung von sozialen Benachteiligungen beitragen oder sie gar verhindern können. Erste Interventionsprogramme richten sich auf Kinder mit Sprachproblemen und/oder solche aus benachteiligten familiären Milieus. Ein Teil der Angebote arbeitet ausschließlich mit Kindern, während andere größere Bedeutung auf die Unterstützung der Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungskompetenz der Familie legen. «Mit ausreichenden Deutschkenntnissen in den Kindergarten» ist beispielsweise ein Schweizer Projekt, das im Kanton Basel-Stadt lanciert worden ist. Es zielt darauf ab, dass Kinder, deren Erstsprache nicht Deutsch ist bzw. die aus sozial benachteiligten oder bildungsfernen Familien stammen, vorschulische Förderung erhalten, damit sie bei Eintritt in den Kindergarten und anschließend in die Schule die gleichen Startchancen haben wie nicht benachteiligte Kinder.
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2. Eltern- und Familienbildungsarbeit und die Frage der Betreuung: Dass das Elternhaus die kindliche Entwicklung maßgebend beeinflusst und alle schulischen und extrafamiliären Interventionen seine Qualität nicht ersetzen können, war zwar bereits eine wesentliche Erkenntnis des Coleman- und des Plowden-Reports (Coleman et al., 1966; Plowden, 1967) und wurde nachfolgend in vielen Untersuchungen bestätigt (Holodynski & Oerter, 2002), doch verstärkte sich das Interesse an Eltern- und Familienbildung erst in den letzten Jahren. Elternbildung gilt heute als eine Form der Familienbildung, die auf die Stärkung der Familie als Erziehungsinstanz ausgerichtet ist und die Eltern darin anleitet, wie sie ein entwicklungsförderndes Sozialisationsumfeld schaffen können. Die Effekte vieler Elternbildungsprogramme sind jedoch recht bescheiden. Einer der Hauptgründe liegt darin, dass elterliche Erziehungspraktiken schwierig zu verändern sind. Weil Familienwerte in sozioökonomische Kontexte eingebaut sind, verändern sie sich nur, wenn auch bedeutsame Veränderungen in anderen Dimensionen des täglichen Lebens stattfinden. Dazu gehören Veränderungen in Einkommen und Haushalt sowie in der sozialen Referenz auf Gruppenwerte und Verhaltensweisen.
3. Familienergänzende Betreuung: Inwiefern familienergänzende Betreuung dem Kind schadet oder seiner Entwicklung förderlich ist, wird auf der Basis widersprüchlichster Positionen debattiert. Gegner der familienergänzenden Betreuung argumentieren mit Entwicklungsrisiken, Befürworter mit Entwicklungsvorteilen für die Kinder. Von beiden Seiten kaum zur Kenntnis genommen werden jedoch die wissenschaftlichen Erkenntnisse, wonach das junge Kind in seinen ersten drei Lebensjahren wegen seiner körperlichen und seelischen Verletzlichkeit ganz besonders auf eine schützende und stabile Umgebung angewiesen ist. An die ihm am verlässlichsten zur Verfügung stehenden Personen bindet es sich. Die Stabilität seiner Beziehungen fördert die soziale und kognitive Entwicklung. Verschiedentlich problematisiert die Forschung deshalb hohe zeitliche Anteile von Krippenbetreuung im ersten Lebensjahr.
4. Frühere Förderung: Die aktuelle Forschung erhält weiteren Auftrieb durch bildungspolitische Pläne, das Schuleintrittsalter vorzuverlegen (in der Schweiz), die Schuleingangsphase neu zu gestalten (in der Schweiz und in Deutschland) und die kognitive Bildungsfunktion vorschulischer Einrichtungen generell zu verstärken (Roßbach, 2005). Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb der diskursive Spannungsbogen so groß ist und von Befürchtungen reicht, die frühe Kindheit würde verschult und familienexterne Betreuung führte zu Verhaltensproblemen, bis zu euphorischen Hoffnungen, FBBE könne per se
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sowohl die Sicherung einer langfristigen kognitiven Neugier als auch einer besseren Sozialkompetenz aller Kinder garantieren und darüber hinaus auch einen wesentlichen Beitrag zur Herstellung von Startchancengleichheit für benachteiligte Kinder bei Schuleintritt leisten.
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