Читать книгу Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung - Margrit Stamm - Страница 11

Оглавление

3 Kognitive, soziale und emotionale Entwicklung

Die Entwicklungspsychologie ist von verschiedenen Philosophen wie Descartes, Locke, Kant oder Marx geprägt. Descartes (1596 – 1650) beispielsweise ging vom Menschen als einem vernunftbegabten Wesen aus, das von Gott eine Art «Grundausstattung» von angeborenen Ideen mitbekommt. Dazu gehören etwa die Gesetze der Logik und der Mathematik. Descartes erachtete Erkenntnis als Wiedererkennen von bereits in der Seele schlummernden Vorstellungen. Locke (1632 – 1704) wiederum ging davon aus, dass der Mensch als tabula rasa, als leeres Blatt, das Licht der Welt erblickt und erst durch die Erfahrungen des Lebens geformt wird. Rousseau (1712 – 1778) war überzeugt, dass jeder Mensch Stufen der Entwicklung vom Neugeborenen bis zum Erwachsenen universell durchläuft, weil sie von der Natur weitgehend vorgegeben sind. Deshalb ging er davon aus, dass Versuche pädagogischer Einflussnahme eher schaden als nützen, weil die Entfaltung der förderlichen Anlagen des Menschen damit behindert werde.

Im vorhergehenden Kapitel ist dargestellt worden, dass die Pädagogik der frühen Kindheit seit vielen Jahren dazu tendiert, für eine bestimmte Zeit auf eine oder zwei große Theorien zu fokussieren, um dann zu einer anderen zu schwenken. So wurde aufgezeigt, dass in den 1960er-Jahren behavioristische Perspektiven und positive Verstärkung federführend waren, während es heute vor allem kognitionspsychologische und sozialanthropologische, mit den Erkenntnissen der Hirnforschung verknüpfte theoretische Ansätze sind. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb es keine lineare Verbindung zwischen einer einzelnen Entwicklungstheorie und einem einzelnen pädagogischen Zugang gibt. Die nachfolgenden Ausführungen fokussieren deshalb auf allgemeine, teils traditionelle, teils neue, Erkenntnisse zur kognitiven, sozialen und emotionalen Entwicklung sowie auf Entwicklungs- und Sozialisationsrisiken.

3.1 Kognitive Entwicklung

Vor fast 40 Jahren waren es Kohlberg und Mayer (1972), die in den USA die hauptsächlichen theoretischen Positionen der frühkindlichen Bildung mit Begriffen wie Romantizismus, kulturelle Transmission und Progressivismus herausarbeiteten. Unter Romantizismus verstanden sie eine innengerichtete Reifungsperspektive und unter kultureller Transmission eine außengesteuerte behavioristische Perspektive. Der Progressivismus wiederum war eine Kennzeichnung der selbst konstruierten, phasenbestimmten Position.

|37◄ ►38|

Im Verlaufe der 1970er-Jahre wurde Piagets Phasentheorie in den USA bekannt. Sie setzte beim Progressivismus an und bildete einen Meilenstein in der Entwicklungspsychologie. Etwa gleichzeitig erlangte Wygotskis soziokulturelle Theorie (1971) eine gewisse Beachtung, doch blieb sie lange hinter dem Primat Piagets zurück. Heute sind beide Ansätze etwas in den Hintergrund getreten. FBBE-Konzepte werden weit stärker mit der Hirnforschung als mit den Erkenntnissen Piagets oder Wygotskis legitimiert. In der Tat ist die Hirnforschung ein faszinierendes neues Wissenschaftsfeld. Drei ihrer vielen Botschaften sind sicher sehr bedeutsam für die frühkindliche Bildung:

• dass wir die geistige Leistungsfähigkeit unserer jungen Kinder bislang stark unterschätzt haben,

• dass die Sinnesorgane – gesunde Augen und Ohren – besonders wichtig sind für eine gute Entwicklung,

• dass die Lernumwelt anregend und anspruchsvoll sein soll.

Selbstverständlich ist auch das vielfach formulierte Argument gewichtig, dass sich in den ersten Lebensjahren die Verbindung der Nervenzellen im Gehirn in weit höherem Maße verdichten als in späteren Jahren und dass die Lernkapazität in dieser Zeit deshalb besonders groß ist. Aber dieses Argument verdeckt die Tatsache, dass es auch ein stark reifungsabhängiges Lernen gibt, so wie dies Piaget immer wieder betont hat. Ein Sauberkeitstraining beispielsweise ist erst möglich, nachdem sich bestimmte Nervenverbindungen herausgebildet haben. Im Ergebnis müssen viele Erkenntnisse der Hirnforschung als noch ungesichert bezeichnet werden, sodass eine angemessene Zurückhaltung ihrer Postulate am dienlichsten erscheint.

3.1.1 Piagets kognitive Entwicklungstheorie

In Kapitel 1.1 ist dargelegt worden, dass die kognitive Entwicklung bereits bei Fröbel und Montessori eine bedeutsame Rolle gespielt hat. Fröbels Bildungsanspruch (1839/1982) manifestiert sich in seiner Pädagogik dort, wo er von Bewusstseinssteigerung oder von kategorialer Bildung spricht und dabei betont, dass der Schule eine frühere geistige Bildung vorauszugehen habe, ohne dass sie die Kinder früher erfassen solle. Bei Montessori zeigt sich der kognitive Fördergedanke dort, wo sie ihr Verständnis des inneren Bauplans um eine Theorie der selektiven Wahrnehmung ergänzt, d. h. um die Vorstellung, dass sich das System der Intelligenzleistung durch die selektive Wahrnehmung und Verarbeitung selbst aufbaut und strukturiert.

Den signifikantesten Einfluss auf die entwicklungspsychologische Forschung hatte jedoch das Werk von Piaget (1981). Mit seinem Denkmodell schuf er eine der |38◄ ►39| bis heute einflussreichsten Theorien des menschlichen Denkens und Schlussfolgerns. Piaget erachtete die kognitive Entwicklung als selbstkonstruktiven Prozess. Dieser entwickelt und vollzieht sich immer durch Interaktion zwischen Subjekt und Umwelt. Gemäß Piaget entwickelt sich das Denken jedoch nicht kontinuierlich, sondern in Stufen bzw. in Stadien oder Phasen. Jede Phase entspricht einem langen Plateau, während kognitive Veränderungen selten oder moderat sind und von großen, manifesten Veränderungen im Denken abgelöst werden, zugleich aber die nächste Phase andeuten. Piaget unterscheidet die folgenden vier Stufen, wobei für die frühkindliche und vorschulische Entwicklung die ersten beiden Stadien von Bedeutung sind:

• das sensumotorische Stadium (erstes und zweites Lebensjahr),

• das voroperationale Stadium (zweites bis siebtes Lebensjahr),

• das konkret-operationale Stadium (siebtes bis elftes Lebensjahr),

• das formal-operationale Stadium (ab dem elften/zwölften Lebensjahr).

Das erste Hauptstadium ist das sensumotorische, das sich über die beiden ersten Lebensjahre erstreckt. Wie der Name dieses Stadiums verdeutlicht, ging Piaget von der Vorstellung aus, dass Kinder mit allen ihren Sinnen – fühlend, sehend, riechend, tastend – denken. Deshalb sah er in dieser Phase eine Vorstufe zum Denken und bezeichnete diese ersten Vorläufer kognitiver Strukturen als sensumotorische Schemata. Kinder leben in dieser Phase sehr stark im Moment und haben nur ein rudimentäres Verstehen von Raum, Zeit und Kausalität. Am Ende dieser Phase können sie praktische und alltägliche Probleme lösen und ihre Erfahrungen mittels Sprache, Spiel und Gestik darstellen. Unter Schemata verstand Piaget abstrahierte Formen menschlicher Handlungen und Denkprozesse, die sich in ihrer Grundstruktur gleichen und die eine organisierte, sinnstiftende Verarbeitung von Erfahrungen erfordern. Ab dem zweiten Lebensjahr werden auch kognitive Schemata entwickelt, z.B. die Fähigkeit, Dinge aufgrund bestimmter Eigenschaften wie Farbe oder Größe in «Klassen» zu ordnen.

In der zweiten Stufe, der präoperationalen Stufe, die eine Zeitspanne zwischen dem dritten Lebensjahr und dem Schuleintritt umfasst, müssen Handlungen nicht mehr zwingend physisch vollzogen werden. Sie erfolgen mehr und mehr geistig, was zur Entwicklung des Sprach- und Symbolverständnisses führt. Voraussetzung dafür ist die kindliche Fähigkeit, ein Objekt oder Phänomen durch ein Symbol zu ersetzen. Nach und nach werden die Symbole komplexer und durch abstrakte Zeichen ersetzt. Das können Wörter sein oder Zahlen. Kinder sind auch in der Lage, mentale Symbole zu nutzen. Beispielsweise können sie sich vorstellen, dass im Spiel ein Objekt etwas anderes ist als in der Wirklichkeit. Dennoch ist ihre Fähigkeit, die Symbole in |39◄ ►40| einer organischen Art und Weise zu nutzen, nicht vollständig. Eine Beschränkung besteht beispielsweise in der Tendenz, auf einen Aspekt in einer komplexen Situation zu fokussieren. Wenn wir einem fünfjährigen Kind identische Gläser mit der gleichen Menge Wasser zeigen, dann sagt es, dass diese Mengen die gleichen seien. Wenn jedoch das Kind sieht, dass wir die Inhalte von einem Glas in ein höheres, schmaleres Glas umgießen, dann sagt es, dass im engen Glas nun mehr Wasser sei als im anderen. Das Kind macht diesen Fehler, weil es auf die Höhe des Wassers fokussiert und dabei das andere wichtige Merkmal, die Breite ignoriert. Kinder im präoperationalen Stadium haben auch Schwierigkeiten zu verstehen, dass andere die Welt nicht so wie sie sehen. Dies ist ein Phänomen, das Piaget «Egozentrismus» nannte. Gemeint ist damit eine Haltung junger Kinder, die Welt nur aus der eigenen Perspektive wahrzunehmen. Dies gilt sowohl für physikalische als auch für soziale und emotionale Phänomene.

Auf der Stufe der konkreten Operationen (sieben/acht bis elf/zwölf Jahre) erwirbt das Kind die Konzepte der Invarianz – eine Voraussetzung des Zahlbegriffs – und der Seriation, d. h., es kann Reihen bilden, erweitern oder unterscheiden. Zudem ist es gemäß Piaget in diesem Entwicklungsstadium in der Lage, logisch über konkrete Dinge nachzudenken. Es weiß nun, dass Wasser, das in verschiedene Gefäße geschüttet wird, in der gleichen Menge vorhanden sein muss, jedoch unterschiedlich aussehen kann. Allerdings haben Kinder in diesem Alter immer noch Schwierigkeiten, über stark abstrakte Simulationen nachzudenken. So haben sie Mühe, differente Konzeptionen der Gerechtigkeit anzusehen oder unterschiedliche Welten zu verwenden, wie sie etwa in den science fictions vorkommen.

Das letzte Stadium der Entwicklung ist das der formalen Operationen, welches mit zwölf Jahren beginnt und bis zum Erwerbsalter dauert. Piaget glaubte, dass Kinder in dieser Phase über pure Abstraktionen nachdenken und ausgeklügelte Denkstrategien anwenden können. Er ging beispielsweise davon aus, dass Kinder in diesem Alter über Moral abstrakt denken und die damit verbundenen Implikationen aus einer unterschiedlichen Sicht von Moralität betrachten können. Ebenso überzeugt war er, dass sie systematisch über komplexe Situationen nachdenken können. Als grundlegend für alle vier Phasen erachtete Piaget folgende Merkmale:

• Jede Entwicklungsstufe bildet ein für sich abgeschlossenes Ganzes. Sie ist die Grundlage für die nächste Stufe, auf der die Elemente der vorangehenden Stufe zu einem neuen Ganzen verwoben werden.

• Die Stufen werden immer in der gleichen Reihenfolge durchlaufen. Sie sind universell, d. h. in allen Kulturen gleich.

|40◄ ►41|

• Das Überspringen einer Stufe ist nicht möglich. Doch können sie in unterschiedlicher Geschwindigkeit durchlaufen werden.

Laut Piaget ist die kognitive Entwicklung durch eine allgemeine Äquilibrationstendenz gekennzeichnet. Gemeint ist damit der Wunsch, einen Gleichgewichtszustand zu erreichen. Jeder Mensch möchte in Einklang mit sich und seiner Umgebung leben: Was er nicht versteht, ruft eine gewisse Spannung hervor, die er durch Lernen überwinden will. Dies geschieht mittels der Adaption. Sie besteht aus zwei komplementären funktionalen Prozessen:

• die Veränderung der Umwelt, um diese den eigenen Bedürfnissen und Wünschen anzupassen (Assimilation). Ein Beispiel ist die Nachahmung der Eltern durch das Kind.

• die Veränderung des eigenen Verhaltens, um sich selbst den Umweltbedingungen anzupassen (Akkommodation). Ein Beispiel ist die Anpassung im symbolischen Kinderspiel: «Ich wäre jetzt die Mutter, und du wärst jetzt das Baby …»

Während der Assimilation benutzt das Kind seine gegenwärtigen Schemata, um die äußere Welt zu interpretieren. Bei der Akkommodation schafft das Kind neue Schemata oder passt alte an, wenn es bemerkt, dass die gegenwärtigen Denkweisen nicht vollständig der Umwelt angepasst sind. Gemäß Piaget variiert das Gleichgewicht (Äquilibration) zwischen Assimilation und Akkommodation über die Zeit hinweg. Befinden sich Kinder in einer «stabilen Phase», so assimilieren sie mehr, als sie akkommodieren. Verändern sie sich in kognitiver Hinsicht jedoch rasch, dann befinden sie sich in einem Desäquilibrationsprozess, in welchem sie merken, dass neue Informationen nicht in ihr gegenwärtiges Schema passen. Deshalb müssen sie sich von der Assimilation hin zur Akkommodation bewegen.

Zur Kritik an Piagets Theorie

Insgesamt hatte Piagets Theorie eine bahnbrechende Breitenwirkung. Dies gilt auch heute noch. Fast alle neueren Theorien zur kognitiven Entwicklung fußen mehr oder weniger auf seinen Grundlagen. Sie untermauern das Bild des Kindes als aktiven Lerners und emsigen Entdeckers, der sein eigenes Wissen durch die Interaktion mit der Umwelt konstruiert und sich dieses nicht durch die Übernahme passiven Wissens aneignet. Trotzdem wird heute zunehmend Kritik laut, dass Piaget verschiedene Aspekte stiefmütterlich behandelt oder unterschätzt habe. Dazu gehören

• seine Vorstellungen zu den Lernpotenzialen junger Kinder: Vor allem Kinder mit akkumuliertem substanziellem Wissen in spezifischen Bereichen erbringen |41◄ ►42| auf einem höheren Niveau Leistungen, als dass dies aufgrund ihres Alters und Entwicklungstands erwartet werden könnte. Die Entwicklung schreitet somit möglicherweise nicht im von Piaget erwarteten Sinn in Phasen fort. Bekannt geworden sind dabei die Dinosaurierstudien. Solche Kinder sind beispielsweise in der Lage, Dinosaurier auf der Basis multipler Kriterien (auf dem Land oder im Wasser lebend; karnivor oder herbivor, etc.) einzuteilen. Damit demonstrieren sie eine Klassifikationsfähigkeit, welche jenseits der Erwartungen liegt (Gobbo & Chi, 1986).

• die Anlagefaktoren: Kritisiert wird beispielsweise, dass Piaget der individualisierenden Wirkung von Anlagefaktoren und der Tatsache, dass jedes Kind ein einmaliges Individuum mit eigenen Begabungen, Talenten und Neigungen ist, zu wenig Rechnung getragen hat.

• die kulturspezifischen Faktoren: Ähnlich kritisiert wird, dass Piaget die differenzierenden Wirkungen des kulturellen Hintergrunds und die sozioökonomischen Bedingungen, in denen ein Kind auf wächst und die seine Entwicklung mit beeinflussen, zu wenig in seine Überlegungen einbezogen hat.

• die fehlende Flexibilität des Stufenmodells: Kritisiert wird, dass sich ein Kind je nach Situation oder Aufgabe einmal auf der einen, ein andermal auf der anderen Stufe befinden kann. Kinder sind somit weniger abhängig von reifebedingten Einschränkungen und können Fähigkeiten gleichmäßiger und allmählicher entwickeln. Auch wird heute verstärkt postuliert, dass Kinder von der unstrukturierten Erkundung ihrer Umwelt stärker profitieren als von strukturierter Übung.

• die Übernahme von Perspektiven anderer: Kinder, so wird verschiedentlich kritisiert, seien schon vor der Schulzeit in der Lage, Perspektiven anderer einzunehmen. Repacholi und Gopnik (1997) haben beispielsweise nachgewiesen, dass das Denken junger Kinder zwar tatsächlich egozentrisch ist, aber unsere Wahrnehmungen über das, was Kinder wissen, von der Aufgabe abhängen, mit der wir ihr Wissen überprüfen. So verwendeten die Autoren eine neue Aufgabe, um den Egozentrismus zu untersuchen.

In ihrem Experiment hatten 14 und 18 Monate alte Kleinkinder die Gelegenheit, das Essen zu bestimmen, das junge Kinder typischerweise lieben respektive nicht lieben: Kartoffelchips und Brokkoli. Vorauszusehen war, dass die meisten Kinder Kartoffelchips bevorzugten. Im Verlaufe des Experiments beobachtete jedes Kind eine erwachsene Person, welche die beiden Speisen probierte. In der zentralen Phase sah das Kind, wie die Person nach dem Probieren der Kartoffelchips |42◄ ►43| ein deutliches Missbehagen zeigte und eine große Zufriedenheit beim Genuss von Brokkoli. Später saß die gleiche erwachsene Person dem Kind gegenüber und stellte eine Schale mit Kartoffelchips und eine mit Brokkoli auf den Tisch, legte ihre Hände jeweils in äquidistanter Entfernung auf den Tisch neben die beiden Schalen und fragte: «Kannst du mir einige geben?» Wenn das Kind egozentrisch ist, dann ist es nicht in der Lage zu begreifen, dass die Experimentierperson Brokkoli möchte. Deshalb wird es ihr Kartoffelchips geben. Tatsächlich gaben ihr mehr als 90% der Kinder Kartoffelchips, obwohl sie gesehen hatten, dass sie eine Abneigung gegenüber diesen hatte. Die Autoren schlossen daraus, dass diese Kinder nicht in der Lage gewesen waren zu verstehen, dass andere Personen eine unterschiedliche Präferenz haben. 18 Monate alte Kinder verfügten jedoch bereits über dieses Verständnis, denn diese boten zu 70% Brokkoli an.

• die fehlenden pädagogischen Schlussfolgerungen: Kritisiert wird schließlich, dass Piaget kaum pädagogische Konsequenzen gezogen habe, die sich aus seinen Experimenten und Erfahrungen eigentlich aufgedrängt hätten und der pädagogisch-psychologischen Praxis hätten zur Verfügung gestellt werden sollen.

3.1.2 Wygotskis soziokulturelle Theorie

Die Theorie Piagets findet sich in den Arbeiten Lev Wygotskis wieder (1987), wenn auch mit anderem Fokus. Dieser bezeichnete die kognitive Entwicklung als ein Hineinwachsen in eine bestimmte Kultur. Der Aufwachsprozess von Kindern ist deshalb immer in einen sozialen Kontext eingebunden und beeinflusst die Strukturierung ihrer kognitiven Welt. Wygotski ging davon aus, dass die geistigen Aktivitäten des Kindes (Aufmerksamkeit, geübtes Gedächtnis, Problemlösen etc.) von sozialen Interaktionen abhängig sind. Wenn Kinder mit Erwachsenen interagieren, lernen sie auf eine Art und Weise zu handeln und zu denken, die in ihrer Kultur bedeutsam ist.

Damit hat Wygotski darauf verwiesen, dass es die Erwachsenen sind, welche die Interaktion mit dem Kind derart strukturieren, indem sie es so an die Aufgaben heranführen, dass diese etwas über seinen Kompetenzen liegen. Dabei ist das Maß an direktem Engagement und Führung der Erwachsenen der kritische Punkt. Dazu hat Wygotski den Begriff der Zone der nächsten (oder proximalen) Entwicklung (ZNE) eingeführt. Damit ist «das Gebiet der noch nicht ausgereiften, jedoch reifenden Prozesse» gemeint (Wygotski, 1987, S. 83). Das unterste Niveau der ZNE ist definiert durch die unabhängige Leistung des Kindes und ihr oberes Niveau durch das Mögliche, was das Kind mithilfe eines Erwachsenen tun kann. So lange, wie das Wissen des Kindes dort verbleibt, wo Verbesserungen mit Erwachsenenunterstützung immer noch möglich sind, verbleibt es innerhalb der ZNE. Mit der Hilfe von Erwachsenen kann es |43◄ ►44| sich in Richtung unabhängigen und autonomen Denkens entwickeln. Die zentralen Merkmale der ZNE erfordern somit, dass Kinder in diesem Bereich angesprochen werden, damit sie unter der Führung von fortgeschritteneren Peers oder Erwachsenen lernen können. Diese strukturieren das Lernen so, dass das Kind durch die Aufgaben geführt wird, welche gerade unterhalb ihrer aktuellen Kapazität liegen.

In der Praxis sind solche Strategien allerdings wenig verbreitet. Denn in der Regel beurteilen Erwachsene nur den aktuellen Entwicklungsstand des Kindes. Sie beobachten, was es alleine kann, welche Kenntnisse und Fähigkeiten es besitzt. Selten fragen sie sich jedoch, welchen Bereich sich das Kind als Nächstes aneignen wird, was also seine ZNE ist. Damit werden Gelegenheiten individueller Förderung ausgeblendet. Werden jedoch junge Kinder in der ZNE gezielt gefördert, schreitet nicht nur ihre kognitive Entwicklung schneller voran, sondern es wird oft auch ersichtlich, dass Kinder viel weiter in ihrer Entwicklung sind als angenommen. Wygotski sagt: «Wenn wir also untersuchen, wozu das Kind selbständig fähig ist, untersuchen wir den gestrigen Tag. Erkunden wir jedoch, was das Kind in Zusammenarbeit zu leisten vermag, dann ermitteln wir damit seine morgige Entwicklung» (ebd., S. 83). Hierfür gilt das sogenannte Scaffolding als wichtige Strategie, welche die erwachsene Person nutzen kann. Unter Scaffolding wird eine Methode zur Unterstützung des Lernprozesses durch (a) die Bereitstellung einer Orientierungsgrundlage in Form von Anleitungen, Denkanstößen und anderen Hilfestellungen verstanden und (b) durch die schrittweise Wiederentfernung dieses Gerüsts, sobald das Kind fähig ist, eine bestimmte Teilaufgabe eigenständig zu bearbeiten (vgl. hierzu auch Kapitel 6). In einer bestimmten Art und Weise ist das Scaffolding auch eine Antwort auf die Feststellung Piagets, das Kind würde sich von einem Stadium ins nächste weiterentwickeln. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass in Wygotskis Theorie die Kompetenzentwicklung nicht so sehr von einem endogenen Entwicklungsprozess, sondern stärker von der Instruktion abhängig ist.

3.1.3 Bedeutsame Weiterentwicklungen

Seit den 1990er-Jahren haben sowohl die Entwicklungspsychologie als auch die Kognitionsforschung dazu beigetragen, das frühpädagogische Wissen weiter zu differenzieren. Nachfolgend werden einige Bereiche diskutiert, welche für die frühpädagogische Bildungsförderung besonders relevant sind. Es sind dies Diskurse zum kompetenten Säugling, die Unterscheidung privilegierter und nicht privilegierter Wissensdomänen sowie die Theory of Mind.

|44◄ ►45|

Der kompetente Säugling

Im vorhergehenden Kapitel wurde erläutert, dass Piaget die ersten beiden Lebensjahre des Kindes als «sensumotorisch», als nicht symbolisch, sondern vollkommen handlungsgebunden und als lediglich mit Reflexen und sensorischen Fähigkeiten ausgestattet, bezeichnet hat. Diese grundlegende Annahme ist heute überholt. Die Entwicklungspsychologie und die Säuglingsforschung gehen davon aus, dass wesentliche Grundelemente numerischen und psychologischen Wissens bereits in den ersten Lebensmonaten nachweisbar oder vielleicht gar angeboren sind (Pauen, 2006). Wenn dem so ist, dann bestehen die Grundlagen für lebenslanges Lernen schon sehr früh. Demzufolge müsste die Stufentheorie Piagets, nach der sich das logische Denken in Stufen und bereichsübergreifend vollzieht, relativiert werden.

Die moderne Forschung enthüllt damit Erstaunliches und Verblüffendes: Das Bild des unbedarften, teilnahmslosen, vor sich hin dämmernden, gefühlslosen und undifferenzierten Säuglings scheint nicht der Realität zu entsprechen. Auf der Basis von Direkt- und Videobeobachtungen und von faszinierenden Experimenten in der natürlichen Umgebung des Neugeborenen entstand die neue Vorstellung des «kompetenten Säuglings» (Dornes, 2001a; b). Mit kompetent ist gemeint, dass wir uns von Anfang an einem beziehungsfähigen, initiativen, differenzierten jungen Wesen gegenübersehen, das bereits mit verschiedensten Gefühlen ausgestattet ist und seine Entwicklung aktiv wählend mitgestaltet. Kompetent heißt natürlich nicht, dass dieses kleine Wesen nun alles selbst gestaltet und ein gleichberechtigter Partner ist, den man mehr oder weniger sich selbst überlassen kann.

Den Mittelpunkt dieser neuen Erkenntnisse bilden drei Paradigmen: das Präferenzparadigma, das Habituierungsparadigma und das Überraschungsparadigma. Sie stehen stellvertretend für Experimente, mit deren Hilfe man Fragen an die Säuglinge stellen und das beobachtete Verhalten als Antwort auf die gestellte Frage verstehen kann (Stern, E. 2002).

• Das «Präferenzparadigma» stellt die Frage, ob ein Säugling zwei Dinge unterscheiden kann und eines davon vorzieht. Im Experiment zeigt man ihm zwei verschiedene Gesichter nebeneinander und misst die Zeitdauer, während deren er sie fixiert. Blickt er eines länger an als das andere, signalisiert er, dass er unterscheidet und eines bevorzugt. Wenn ihm hintereinander, mit einer Pause dazwischen, zwei Reize gezeigt werden, kann festgestellt werden, dass er auch diese unterschiedlich lange fixiert, d. h. einen vorzieht.

• Das «Habituierungsparadigma» stellt die Frage, ob die Aufmerksamkeit auf einen Reiz nach einer gewissen Zeit erlahmt, respektive ob sich der Säugling

|45◄ ►46|

daran gewöhnt. Im Experiment werden u. a. dazu die Schnuller der Säuglinge mit dem Abspielen eines Films gekoppelt. Dabei zeigt sich, dass nach einer bestimmten Zeit die Saugaktivität abnimmt. Wird hingegen ein neuer Film gezeigt, nimmt die Saugaktivität wieder zu. Wenn also ein neuer Reiz auftaucht, kehrt die Aufmerksamkeit wieder zurück.

• Das «Überraschungsparadigma» stellt die Frage, ob der Säugling Erwartungen hat und Abweichungen bemerkt. Im Experiment wird den Säuglingen hinter einer schalldichten Glasscheibe das Gesicht einer Frau gezeigt, die spricht. Der Ton der Stimme wird so eingespielt, dass er nicht aus dem Mund, sondern von der Seite kommt. Bereits im ersten Monat reagieren die Säuglinge erstaunt, was bedeutet, dass sie eine Erwartung hatten. Das Erstaunen wird am veränderten Gesichtsausdruck, an Unruhe und einer Pulsfrequenzänderung abgelesen. Dies bedeutet außerdem, dass die Wahrnehmung eines Unterschieds psychische Bedeutung haben kann. Sie drückt sich durch erhöhte Erregung aus. Wenn Mütter angewiesen werden, ihr natürliches Interaktionsverhalten zu ändern und ohne Veränderung ihrer Gesichtsmimik auf die Annäherungsgesten ihres Kindes zu reagieren, so stellt man schon bei drei Monate alten Säuglingen darüber Erstaunen fest. Sie bemerken also, dass sich die Mutter nicht benimmt wie gewohnt, und sie unternehmen nachdrückliche, von starken motorischen Äußerungen begleitete Versuche, die Mutter umzustimmen.

Diese Forschungsresultate machen deutlich, wie sehr die neue Säuglingsforschung die alten Vorstellungen über die Neugeborenen- und Säuglingszeit revolutioniert hat. Sie bestätigen aber auch wissenschaftlich, was viele Mütter und andere Betreuungspersonen von Neugeborenen und Kleinstkindern schon immer wussten: Durch die Geburt kommt ein Menschenwesen auf die Erde, das von Beginn an in sehr differenzierter Weise am Leben teilhat. Als beziehungsfähiges und aktives Individuum steht es von Anfang an mit seinen Eltern und seiner Umgebung in Beziehung. Der Austausch und die Beeinflussung erfolgen gegenseitig.

Privilegierte und nicht privilegierte Wissensdomänen

Mit der Beschreibung des «kompetenten Säuglings» hat die Säuglingsforschung dazu beigetragen, das Bild der hilflosen Frühgeburt zu revidieren. Mit diesem Sichtwechsel wurde die erneute intensive Erforschung des Lernens von jungen Kindern möglich. Eine bedeutende Relevanz hat dabei die Unterscheidung privilegierter von nicht privilegierten Wissensdomänen (Stern, 2004). |46◄ ►47|

• Der Erwerb von privilegiertem Wissen geschieht intuitiv, «aus sich heraus», ohne besondere Anstrengung oder Unterweisung. Die Tatsache, dass Menschen – ähnlich wie Tiere – mit Instinkten ausgestattet sind, die ihnen das Lernen erleichtern, ist jedoch lange Zeit vernachlässigt worden. Erst in jüngerer Zeit stellte man fest, dass Kinder von Geburt an eine Lernbereitschaft mitbringen und sie somit in sehr vielen Bereichen gut vorbereitet sind. So braucht das Neugeborene für die komplizierte Motorik des Saugens kein Lernprogramm, sondern nur bestimmte «start up»-Mechanismen. Den aufrechten Gang erwerben junge Kinder ohne Anleitung oder bewusste Strategie. Solche Lernvorgänge sind biologisch programmiert und stehen allen Menschen aller Kulturen von Anfang an zur Verfügung.

• Nicht privilegiertes Wissen ist uns nicht in die Wiege gelegt. Dessen Erwerb erfordert den Einsatz von Lernstrategien, von bewusster Zielsetzung und Anstrengung. Nicht privilegiertes Lernen wird intentional, motiviert und systematisch erworben. Weil es stark von der Qualität der jeweiligen familiären, sozialen, pädagogischen und kulturellen Umgebung und der dort handelnden Personen beeinflusst wird, ist es störanfällig. Der Kontext, in dem wir aufwachsen, kann uns den Zugang zu diesen Wissensdomänen öffnen, aber auch erschweren oder gar blockieren.

Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Wissensdomänen ist von großer Tragweite. Weil sich herausgestellt hat, dass nicht privilegiertes Lernen zeitaufwendig ist und weil solche Wissensdomänen Kompetenzen umfassen, die in unserer Wissensgesellschaft bedeutsam sind – viele Kinder mit Minoritätshintergrund jedoch gerade nicht in genügendem Ausmaß über sie verfügen –, ist frühkindliche Bildungsförderung für sie besonders relevant. Zu den nicht privilegierten Wissensdomänen gehören die Schrift, das Zahlensystem und naturwissenschaftliche Phänomene, aber auch frühe Formen der Metakognition und Selbstregulation. Metakognition meint das eigene Wissen einer Person über die kognitiven Vorgänge und über lernrelevante Eigenschaften. Die Förderung der Entwicklung metakognitiver und affektiver Lerndimensionen kann die Kinder befähigen, schulbereite, lernwillige und fähige Lerner zu werden. Als frühe Form der Selbstregulation gilt die private Sprache (private speech). Beobachtet man junge Kinder bei alltäglichen Verrichtungen, dann entdeckt man, dass sie oft laut mit sich selbst sprechen. Piaget nannte dieses Phänomen egozentrische Sprache. Er begründete sie damit, dass ein junges Kind Schwierigkeiten hat, die Perspektive anderer einzunehmen und die egozentrische Sprache deshalb den Sinn eines Selbstgesprächs bekommt. Die kognitive Reifung und bestimmte Sozialerfahrungen mit Gleichaltrigen – so seine Annahme – würden diese egozentrische Sprache beenden.

|47◄ ►48|

In seiner Publikation «Denken und Sprechen» entwarf Wygotski (1971) eine andere Sichtweise. Er ging davon aus, dass Kinder selbstangeleitet mit sich selbst sprechen und dass die private Sprache die kognitiven Aktivitäten lenkt und aufrechterhält. Deshalb erachtete er sie als Grundlage für alle höheren kognitiven Prozesse und nicht wie Piaget als Mangel an Reife und an Perspektivenübernahme. Fast alle Untersuchungen der letzten Jahre haben Wygotskis Sicht bestätigt. Sie verweisen darauf, dass Kinder diese private Sprache mit zunehmendem Alter dann benutzen, wenn sie schwierige Aufgaben zu lösen haben und nicht genau wissen, wie sie vorgehen sollen.

Theory of Mind

Die sogenannte Theory of Mind meint die Fähigkeit, sich Bewusstseinsvorgänge in anderen Personen vorzustellen und diese in der eigenen Person zu erkennen, also Gefühle, Bedürfnisse, Ideen, Absichten, Erwartungen und Meinungen zu vermuten. Dieses Konzept der Überzeugung ist ein Grundelement unserer naiven Alltagspsychologie. Kinder entwickeln es relativ spät, erst im Alter von drei bis vier Jahren, dann nämlich, wenn sich das Gedächtnis und Problemlösefähigkeiten weiter entfalten und sie beginnen, über ihr eigenes Denken nachzudenken. Konkret lernt das etwa drei- bis vierjährige Kind, sich zu überlegen, was andere Personen denken. Im Alter von fünf Jahren können Kinder Perspektivenübernahmen durchführen und auf den Wissensstand eines Zuhörers Rücksicht nehmen. Sie können zwischen Wirklichkeit und Schein unterscheiden. Zwar sind Dreijährige schon dazu in der Lage. So verstehen sie zum Beispiel, dass man einen realen Hund, nicht aber einen imaginären Hund, streicheln kann. Sie lernen nun, dass man etwas denken kann, ohne dies zu sehen oder zu berühren. Sie denken aber noch, dass sich Menschen immer so verhalten, dass dies mit ihren Wünschen übereinstimmt. Sie sehen noch nicht, dass auch Annahmen ihre Handlungen beeinflussen können. Mit etwa vier Jahren merken sie, dass das Verhalten sowohl von Wünschen als auch von Annahmen bestimmt wird. Die Maxi-Geschichte von Wimmer und Perner (1983) belegt diesen markanten Entwicklungsfortschritt. Sie bildet das Instrument zur Erfassung des Verständnisses eines falschen Glaubens.

«Maxi und seine Mutter kommen vom Einkaufen nach Hause. Maxi hilft seiner Mutter, die Einkäufe auszupacken. Er legt die Schokolade in den grünen Schrank. Maxi merkt sich genau, wo er die Schokolade hingetan hat, damit er sich später welche holen kann. Dann geht er auf den Spielplatz. Während er weg ist, braucht seine Mutter etwas Schokolade zum Kuchenbacken. Sie nimmt die Schokolade aus dem grünen Schrank und tut ein wenig davon in den Kuchen. Dann legt sie sie zurück, aber nicht in den grünen, sondern in den blauen Schrank. Sie geht aus der Küche, um Eier zu holen. Dann kommt Maxi hungrig vom Spielplatz zurück.

|48◄ ►49|

Testfrage: Wo wird Maxi die Schokolade suchen? (Die Geschichte wird mit Puppen und einer Puppenhausküche ausagiert. In der Küche gibt es nur zwei Schränke, einen grünen und einen blauen.)

Ergebnisse: Nahezu alle dreijährigen Kinder antworten auf die Testfrage: ‹Im blauen Schrank› (wo die Schokolade tatsächlich ist), während 40 bis 80% (je nach experimenteller Bedingung) der Vier- bis Fünfjährigen korrekt ‹im grünen Schrank› antworten.»

Kinder lernen somit zwischen drei und fünf Jahren, die Überzeugungen einer Person mit einzubeziehen. Davor verstehen sie nicht, dass subjektive Überzeugungen von der Realität abweichen können. Deshalb berücksichtigen sie diese nicht bei ihrer Handlungsvorhersage.

3.1.4 Hirnforschung und FBBE

Eine Maxime der Hirnforschung lautet: Die intensive Förderung und Anregung bereits ab der frühesten Kindheit schafft ein differenzierteres neuronales Netzwerk. Ein solches Netzwerk ist grundlegend für das soziale, emotionale und kognitive Lernen. Im Mittelpunkt stehen mittlerweile vor allem die Befunde, wonach nicht nur Lernprozesse, sondern auch das Entstehen emotionaler Bindungen mit Hirnfunktionen erklärt und analysiert werden können. Postuliert wird dabei, dass Prägungen der frühen Kindheit – erworben in schmalen Zeitfenstern – später kaum revidierbar seien und so Kompetenzen bereits früh festgelegt würden. Gerade im Zuge der Diskussion um frühkindliche Bildung drängen solche Erkenntnisse in die bildungspolitische Debatte, die noch vor 20 Jahren kaum jemand mit Bildung in den ersten Lebensjahren in Zusammenhang gebracht hätte.

Wie glaubwürdig sind solche Erkenntnisse? Welche konkreten Konsequenzen haben sie für den bisher klassisch pädagogisch geprägten Bildungsbegriff? Muss die Idee der (humanistischen) Erziehung zugunsten eines umfassenden Optimierungsprogramms für das kindliche Hirn aufgegeben werden? Oder lassen sich Erkenntnisse der Hirnforschung in bisherige pädagogische Ansätze problemloser integrieren, als vorschnell angenommen wurde? Nachfolgend werden solche Fragen angeschnitten, indem zur Entwicklung des Gehirns, zu seiner Plastizität grundlegende Informationen zusammengestellt werden und dabei auch die aktuell besonders brisanten Fragen nach den frühen Bindungserfahrungen, der angemessenen Stimulierung und den Zeitfenstern angeschnitten werden.

Gehirnentwicklung: Heute wissen wir, dass das Gehirn enormen Veränderungen ausgesetzt ist und sich dieses im Säuglings- und Kleinkindalter in ganz erstaunlicher Geschwindigkeit, schneller als alle anderen Körperorgane, entwickelt. Haben Nervenzellen|49◄ ►50| erst einmal den für sie vorgesehenen Platz eingenommen, dann bilden sie eine hohe Anzahl an Synapsen oder Verbindungen. Während der Hauptwachstumsperiode in den Hirnregionen sterben viele Nervenzellen ab, um Raum für neue synaptische Verbindungen zu schaffen. Die Stimulierung legt dabei fest, welche Nervenzellen überleben werden und fortfahren, neue Synapsen zu bilden. Mit zwei Jahren hat ein Kleinkind etwa so viele Synapsen wie Erwachsene und mit drei Jahren doppelt so viele. Bis zum Alter von zehn Jahren bleiben sie konstant, dann wird bis zirka 15 Jahre die Hälfte abgebaut. Von da an bleiben sie bei einer Anzahl von etwa 100 Billionen stabil. Die doppelt so hohe Zahl von Synapsen mit drei Jahren erklärt, wieso das Gehirn eines Dreijährigen mehr als doppelt so aktiv ist wie das eines Erwachsenen.

Plastizität: Hinlänglich bekannt ist, dass der zerebrale Kortex (Großhirnrinde) in zwei mit unterschiedlichen Funktionen ausgestattete Hemisphären unterteilt ist («Lateralisierung»). Jede empfängt sensorische Informationen nur von einer bestimmten Seite des Körpers und steuert auch nur diese. Es ist dies die Seite der gegenüberliegenden Hemisphäre. Überwiegend ist die linke Hemisphäre der Sitz verbaler Aktivitäten und positiver Emotionen, während dies für die räumliche Fähigkeiten und negative Emotionen die rechte ist. Die linke Hemisphäre verarbeitet Informationen besser auf eine analytische und sequenzielle Art, während die rechte Hemisphäre Informationen ganzheitlich verarbeitet. Junge Kinder haben eine sehr große Hirnplastizität. Neville und Bruer (2001) haben herausgefunden, dass frühe Kindheitserfahrungen die Struktur des Gehirns beeinflussen und eine Spezialisierung bestimmter Areale bewirken können. In ihrer Entwicklung weit fortgeschrittene Kinder im Krabbelalter weisen eine stärker spezialisierte linke Hemisphäre auf als gleichaltrige nicht akzelerierte Kinder. Die Autoren schließen daraus, dass Spracherwerb die Lateralisierung fördert. Zur Organisation des Gehirns tragen sowohl Vererbung wie auch frühe Erfahrungen bei.

Frühe Bindungserfahrungen und angemessene Stimulierung: Frühe Bindungserfahrungen wirken sich auf die kindliche Gehirnentwicklung aus. Damit sich neuronale Netzwerke verdichten und daraus bleibende Strukturveränderungen entstehen, ist eine gleichzeitige Stimulation bestimmter Gehirnareale wichtig. Becker-Stoll (2008) verweist in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung feinfühliger Interaktion der Bezugsperson mit dem Kleinkind. Sie beeinflusst die frühkindlichen emotionalen Erfahrungen und diese die funktionelle Gehirnentwicklung, welche zur Entstehung neuer Schaltkreise – wie der sensorischen, motorischen und limbischen (der Verarbeitung von Emotionen dienend) – im Gehirn führen. Unzulängliche Stimulierung von Säuglingen und Kleinkindern – gemeint sind damit die fehlenden und vielfältigen Erfahrungen eines liebevollen Umfelds – führen zu Entwicklungsbeeinträchtigungen. Daraus lässt sich schließen, dass die Qualität des emotionalen Umfelds und |50◄ ►51| der Grad der frühkindlichen Förderung die späteren sozioemotionalen und intellektuellen Fähigkeiten eines Kindes beeinflussen. Es sind aber nicht nur Verarmung oder Deprivation, welche sich negativ auf seinen Entwicklungsgang auswirken. Es sind auch die vielen frühen Lernangebote, welche jungen Kindern und ihren Eltern, häufig in fraglicher, d.h. nicht entwicklungsangemessener Art, angeboten werden. Obwohl die meisten dieser Angebote auf eine «optimale frühe Förderung» zielen, damit die «Zeitfenster der Entwicklung» ausgenutzt werden sollten, wirkt sich eine Stimulation, für die das Kind noch nicht bereit ist, eher so aus, dass es sich zurückzieht und auf diese Weise sein Interesse am Lernen verliert.

Zeitfenster der Entwicklung: In Phasen enormer Entwicklung ist die Stimulierung des Gehirns entscheidend. Ein Argument, das vor allem von bildungs- und gesellschaftspolitischer Seite her immer wieder verwendet wird, um für die frühkindliche Bildung zu plädieren, fokussiert auf die kritischen Zeitfenster, in denen das junge Kind maximal beeinflussbar sei. Bleibe zu dieser Zeit die Stimulation aus, so komme es zu nicht optimalen und kaum mehr kompensierbaren Entwicklungsverzögerungen. Zwar gilt es heute als unumstritten, dass bestimmte sensorische Erfahrungen früh in der Entwicklung gemacht werden müssen, damit sich das Gehirn optimal ausbilden kann. Solche Aussagen basieren jedoch nur auf normaler Stimulation. Deshalb lässt sich daraus nicht schließen, es seien besondere Anstrengungen oder Stimulationsprogramme nötig, damit die Gehirnentwicklung unterstützt werden könnte. Verschiedene Studien kommen vielmehr zum Schluss, dass Überstimulation durch besondere Trainingsprogramme beim Kleinkind negative Auswirkungen haben kann und dass die Befunde der Hirnforschung nicht die spezifische Fokussierung der frühkindlichen Bildung im Sinne expliziter Stimulierung legitimieren (Stern, 2008). Als gesichert gilt jedoch die Bedeutung sensibler Perioden für den Spracherwerb.

Fazit

Die Entwicklungspsychologie und die Hirnforschung haben nachgewiesen, dass das Denken junger Kinder demjenigen der Erwachsenen ähnlicher ist, als man früher annahm, und dass die Lernfähigkeiten von Säuglingen beeindruckend sind. Daraus folgt, dass die Annahme, Wissen könne erst auf genug weit entwickelten Strukturen aufgebaut werden, relativiert werden muss. Die Befunde liefern darüber hinaus auch Hinweise auf Altersbereiche, in denen Kinder besonders von Lernangeboten profitieren können. Die Bedeutung der Zeitfenster ist jedoch eher auf den Erwerb sensorischer Fähigkeiten und den Spracherwerb eingeschränkt und gilt kaum für kulturell vermittelte Wissensbestände.

|51◄ ►52|

Im Hinblick auf die aufgeworfene Frage, ob der traditionelle Bildungsbegriff zugunsten eines umfassenden Optimierungsprogramms für das kindliche Hirn aufgegeben werden müsse oder ob sich Erkenntnisse der Hirnforschung in bisherige pädagogische Ansätze problemlos integrieren lassen, lässt sich folgende Bilanz ziehen (vgl. dazu auch Viehhauser, 2010): Die Neurowissenschaften zeigen die biologischen Aspekte von Lernprozessen, Gedächtnisfunktionen und dem Verhalten und auch die Verluste und Gewinne auf, wenn Nervenzellen verkümmern und wenn sich Hirnstrukturen durch qualitativ gehaltvolle Anregungen festigen. Was jedoch wünschenswerte Lernprozesse oder die Qualität von Anregungen auszeichnet und wie hochwertige Anregungen zu vermitteln sind, bleibt allein der Pädagogik der frühen Kindheit reserviert. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse können dazu nur sehr wenig direkte Aussagen machen. Ziel von frühpädagogischen Bestrebungen muss die Heranbildung des jungen Kindes zur Person im gesellschaftlichen Kontext bleiben. Es geht demnach weder darum, dass sich die Frühpädagogik zu einer «Pädagogik des Gehirns» entwickelt, noch um eine bloße Zurückweisung biologischer Erkenntnisse. Ziel ist die kritische Übersetzung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse in die Pädagogik der frühen Kindheit. Basis bilden die folgenden neurowissenschaftlich fundierten Thesen:

• Das Lernen der Kinder wird unterstützt durch die Förderung von Bewegung, Wahrnehmen, Kommunikation sowie durch Interesse und Rückmeldung anderer.

• Lernen ist für Kinder dann nachhaltig, wenn es für sie bedeutungsvoll und lebensnah, d. h. auf ihre Erfahrungen, Wünsche oder Alltagsprobleme bezogen, ist.

• Kinder lernen unterschiedlich, in unterschiedlichem Tempo, in unterschiedlichen sozialen Konstellationen (z.B. allein oder in der Gruppe). Sie brauchen die Rücksichtnahme auf ihre Lernstile und Lerntypen.

3.2 Soziale und emotionale Entwicklung

Die frühe Kindheit ist nicht nur eine Zeit unerhörten kognitiven, sondern auch sozialen und emotionalen Wachstums. Eriksons Theorie der psychosozialen Entwicklung (1973) hat die bedeutsamsten Erkenntnisse für die Thematik frühkindlicher Bildungs- und Betreuungsprozesse geliefert. Dabei hat er wesentliche Teile der psychoanalytischen Theorie Freuds verfeinert, spätere Lebensabschnitte einbezogen und sein Konzept der Entwicklungsaufgaben ausdifferenziert. Eriksons Theorie zufolge findet |52◄ ►53| Entwicklung ein Leben lang statt, von der Geburt bis ins hohe Alter. Den Lebenslauf untergliedert Erikson in acht Stufen. Auf jeder dieser Stufen hat der Mensch spezifische Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Gelingt dies nicht, resultieren daraus möglicherweise bleibende Entwicklungsstörungen. Die für die frühe Kindheit relevanten Stufen sind:

• Vertrauen versus Misstrauen (erstes Lebensjahr),

• Autonomie versus Scham/Zweifel (zweites bis drittes Lebensjahr),

• Initiative versus Schuldgefühl (viertes bis sechstes Lebensjahr).

Im ersten Lebensjahr geht es um den Aufbau des Urvertrauens. Damit der zentrale psychische Konflikt des Urvertrauens versus Urmisstrauens positiv aufgelöst werden kann, ist eine warmherzige und einfühlsame Fürsorge zentral. Im zweiten und dritten Lebensjahr geht es um das Erlernen von Selbstkontrolle. Hier gilt es, eine Balance zu finden zwischen dem eigenen Willen, der sich als Trotz und Protest manifestieren kann, und der Befolgung der elterlichen Gebote. In der dritten Phase, zwischen dem vierten und sechsten Lebensjahr, steht der Aufbau des Vertrauens in die eigene Initiative und Kreativität im Mittelpunkt. Das Vorschulkind lernt, sich an Vorbildern zu orientieren (Eltern, Erziehenden, Geschwistern, Peers) und sich mit ihnen zu vergleichen. Eine Aufgabe dieser Phase ist es auch, mit Schuldgefühlen und Angst vor Strafe umgehen zu lernen. Eine gesunde Eigeninitiative kann das Kind dann entwickeln, wenn es die Welt durch Spielen explorieren kann und in allgemein gute Beziehungen eingebettet ist.

Zahlreiche neuere und neue Studien bestätigen Eriksons Theorie insofern, als sie empirische Belege dafür liefern, dass mit unzureichendem Vertrauen und mangelnder Autonomie ausgestattete Kinder später erhöhte Anpassungsprobleme haben. Die drei zentralen Größen Freude, Wut und Furcht gehören heute zu den am häufigsten untersuchten Themenbereichen der frühkindlichen Forschung (Berk, 2005). So wissen wir, dass sich im Verlauf des ersten Lebensjahres diese Grundemotionen zu klaren, gut organisierten Signalen entwickeln. Das soziale Lächeln erscheint zwischen der sechsten und zehnten Lebenswoche, das Lachen zwischen dem dritten und vierten Lebensmonat. Die Freude unterstützt nicht nur die Bindungsstrukturen zwischen Eltern und Kind, sondern auch die kognitiven und physischen Lernprozesse. Ärger und Furcht – als «Fremden» oder «Fremdenangst» gekennzeichnet – nehmen in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres zu. Diese Fremdenangst gilt als Schutz des Kindes vor fremden Personen, welchen es aufgrund der enorm gewachsenen motorischen Fähigkeiten ausgeliefert sein kann.

|53◄ ►54|

Nachfolgend werden die wichtigsten Bausteine der sozial-emotionalen Entwicklung dargestellt. Es sind dies die Temperamentsentwicklung des jungen Kindes, die Bindungsentwicklung, das Selbstkonzept und die Aggressionsentwicklung.

3.2.1 Temperamentsstrukturen und emotionale Entwicklung

Ist von Persönlichkeitsunterschieden zwischen Kindern die Rede, dann sind häufig Merkmale gemeint, die sich mit dem Begriff «Temperament» in Verbindung bringen lassen. Angeborene Temperamentsfaktoren bestimmen in einem gewissen Umfang mit, in welche Richtung sich Kinder in ihren ersten Lebensjahren entwickeln und welche Persönlichkeitseigenschaften sie dabei ausbilden. Heute unterscheidet man vier Dimensionen von Temperament:

• Bereitschaft zur positiven Annäherung: reflexartige Hinwendung zu neuen, nicht vertrauten Reizkonstellationen.

• Bereitschaft, auf negative Affekte und Irritationen zu reagieren: Man unterscheidet Kleinkinder mit langen und solche mit kurzen Habituationszeiten (Gewöhnungszeiten).

• Kontrollbereitschaft: Gemeint ist damit, Erregungsniveaus so zu regulieren, dass sie eine mittlere Bandbreite weder über- noch unterschreiten. Solche Fähigkeiten werden dann allmählich zur Selbstkontrolle ausgebaut.

• Soziale Orientierung: Bereitschaft und spätere Fähigkeit, auf Menschen freundlich und gegebenenfalls mit Hilfe zu reagieren.

Säuglinge unterscheiden sich in ihren Temperamentsstrukturen, insbesondere in der Qualität und Intensität ihrer Emotionen, ihrem Aktivitätsniveau, ihrer Aufmerksamkeit und ihrer emotionalen Selbstregulation. Thomas und Chess (1977) teilten aufgrund ihrer Beobachtungsstudien Kinder im ersten Lebensjahr drei unterschiedlichen Temperamentskategorien zu: das einfache Kind, das schwierige Kind und das gehemmte Kind. 35% der Kinder ließen sich jedoch nicht eindeutig zuordnen. Das einfache, «pflegeleichte» Kind (40%) entwickelt rasch regelmäßige Routinen und ist zumeist fröhlich. Die Anpassung an neue Situationen fällt ihm leicht. Das «schwierige» Kind (10%) lässt Unregelmäßigkeiten in seiner täglichen Routine erkennen, akzeptiert neue Erfahrungen nur langsam und neigt dazu, negativ mit übermäßiger Intensität zu reagieren. Das «gehemmte» Kind, das nur langsam aktiv wird (15%), zeigt wenig Aktivität, lässt undeutliche, wenig intensive Reaktionen auf Umweltstimuli erkennen, seine emotionale Disposition ist eher negativ und die Anpassung an neue Situationen langsam.

|54◄ ►55|

Was jedoch beeinflusst Temperament? Zum einen sind es genetische Einflüsse inklusive ethnischer und geschlechtsbedingter Unterschiede, zum anderen umweltbedingte (Familie, Erziehungsstil, familienexterne Betreuung) sowie kulturbedingte Unterschiede. Temperament und Umweltbedingungen sind immer verschränkt in ihrem Einfluss auf die zukünftige kindliche Entwicklung. Da sich jedoch das Temperament mit zunehmendem Alter verändert, muss angenommen werden, dass Umweltbedingungen nicht per se das schon vorhandene Temperament erhalten oder sogar intensivieren. Das Modell der guten Passung (goodness-of-fit-model) von Thomas und Chess (ebd.) verdeutlicht, wie Temperament und Umwelt in ihrer Interaktion zu günstigen Ergebnissen führen können. Eine gute Passung umfasst eine adäquate sozial-emotionale Umgebung, die sowohl auf das Temperament des Kindes ausgerichtet ist als auch die adaptiven Funktionen betont. Damit ist gemeint, dass ein gutes Passungsmodell sanft und nachdrücklich auf fehlangepasstes Verhalten einwirkt. Schwierige oder schüchterne Kinder, welche zunehmend ein adaptives Funktionsniveau erreichen, haben häufig Eltern, die eine Erziehung praktizieren, welche die optimale Passung in den Mittelpunkt stellt.

Temperament und elterliches Rollenmodell respektive der Erziehungsstil wirken sich auch auf die Fähigkeit des Vorschulkindes aus, mit negativen Emotionen umzugehen. Parallel mit der Entwicklung des Selbstkonzepts beginnt das Kind auch häufiger, selbstbezogene Emotionen wahrzunehmen. Die Eltern spielen dabei eine wichtige Rolle, denn die von ihnen ausgehenden Botschaften beeinflussen sowohl die Situationen, in denen Emotionalitäten auftauchen, als auch deren Intensität. Auch Empathie tritt nun vermehrt auf. Das kindliche Temperament und der elterliche Erziehungsstil beeinflussen das Ausmaß, in welchem prosoziales oder altruistisches (selbstloses, aufopferndes) Verhalten gezeigt wird.

3.2.2 Bindungsentwicklung

Um das erste Lebensjahr herum gewinnen Reaktionen auf Trennungen von der Hauptbezugsperson und deren Verarbeitung besondere Bedeutung. Initiiert durch die Arbeiten von John Bowlby (1909 – 1990) und Mary Ainsworth (1913 – 1999), hat dieses Bindungsverhalten in der Forschung große Beachtung gefunden. Es erlaubt die Einteilung in Bindungsklassen und die Beurteilung von Bindungsqualität. Das kindliche Bindungsverhalten ist auch für die außerfamiliäre Betreuung zentral.

Die am meisten akzeptierte Sichtweise der Bindungsentwicklung ist die ethologische Theorie (Bowlby, 1969). Sie basiert auf dem Verständnis, dass Säuglinge biologisch darauf vorbereitet sind, sich aktiv an eine Person zu binden, und dass die kindliche Reaktion bei der Bindungsperson ein Fürsorgeverhalten auslöst. Eine ganze |55◄ ►56| Reihe angeborener Verhaltensweisen macht die Anwesenheit der Bezugsperson in den ersten Monaten nötig. Ein Kind kann, jedoch erst wenn sich eine Personpermanenz entwickelt hat (was nach dem sechsten Lebensmonat der Fall ist), emotional ausdrücken, dass es seine Bezugsperson vermisst. Diese Art und Weise der emotionalen Reaktion liefert zugleich die Grundlagen für späteres Bindungsverhalten.

Dass sich eine sichere Bindung entwickelt hat, zeigt sich beispielsweise an der mit sechs bis acht Monaten auftauchenden Fremdenangst und der Reaktion auf die Bezugsperson. Die Nähe zu ausgewählten Bezugspersonen entspricht dem angeborenen Bedürfnis nach einer sicheren Basis oder – wie Bowlby sagt – einem haven of safety. Der Wunsch nach Nähe zur vertrauten Person ist für das Kleinkind überlebensnotwendig, geht aber einher mit dem entgegengesetzten Bedürfnis nach Autonomie, sich von der Mutter (oder dem Vater) zu entfernen und die Umwelt zu erforschen. Manche Kinder reagieren sehr emotional und heftig, wenn sie von ihrer Mutter oder dem Vater für kurze oder längere Zeit verlassen werden, anderen merkt man kaum etwas an. Bowlby und Ainsworth vertraten die Ansicht, dass die Art und Weise, wie ein Kind auf die Trennung von ihrer Bezugsperson reagiert, Hinweise auf die Bindungsqualität liefert.

Mary Ainsworth entwickelte den klassisch gewordenen Fremde-Situation-Test (Bowlby & Ainsworth, 1985). Dabei handelt es sich um ein entwicklungspsychologisches Experiment, das die Kriterien Bowlbys für eine sichere Bindung zwischen Kind und Mutter nachweisen soll. Dieser Test ermöglicht die Messung der Qualität der Bindungsbeziehung auf der Basis des kindlichen Verhaltens in einer fremden Situation. Der Test – im Idealfall in einem durch Einwegscheiben beobachtbaren Raum durchgeführt – gliedert sich in acht Phasen von jeweils drei Minuten. Zu bemerken ist, dass es sich nicht ausschließlich um die Mutter, sondern um die wichtigste Bindungsperson, handeln muss.

1.Die Mutter setzt ihr Baby beim Spielzeug auf einer Matte am Boden ab.

2.Die Mutter setzt sich auf einen Stuhl und liest eine Zeitschrift. Mutter und Kind sind allein im Raum. Das Kind spielt.

3.Eine fremde Frau tritt ein, setzt sich zur Mutter, unterhält sich mit ihr und befasst sich auch mit dem Kind.

4.Die Mutter verlässt unauffällig den Raum. Die fremde Frau geht auf das Kind ein.

|56◄ ►57|

5.Die Mutter kommt zurück, während die fremde Frau den Raum verlässt. Die Mutter beschäftigt sich mit dem Kind.

6.Die Mutter verlässt den Raum wieder, diesmal verabschiedet sie sich vom Kind. Das Kind bleibt allein zurück.

8.Die fremde Frau tritt wieder ein. Sie versucht, falls nötig, das Kind zu trösten.

9.Die Mutter kommt zurück, die fremde Frau verlässt den Raum.

Je nachdem, wie einfühlsam die Mutter respektive die Bezugsperson handelt und reagiert, entwickelt sich einer der nachfolgend angeführten Bindungstypen. Die Prozentsatzzahlen stammen aus der Untersuchung von Van Ijzendoorn und Bakermans-Kranenburg (1996).

• (A) Sicher: Eltern, die mit ihren Kindern feinfühlig interagieren, erhalten sicher gebundene Kinder. Die gefühlsmäßige Betroffenheit ist zu sehen. Das Kind sucht die Nähe und die Kommunikation zur Person. Das Kind lässt sich rasch trösten, jedoch nicht von der fremden Frau (ca. 55%).

• (B) Vermeidend-unsicher: Reagiert die Bezugsperson auf Trostbedürfnisse oder auf freudige Ereignisse eher reserviert und zurückweisend, erhalten die Eltern verstärkt vermeidend gebundene Kinder. Im Test zeigt das Kind einen eingeschränkten Gefühlsausdruck. Es meidet die Bezugsperson, äußert nur wenig Betroffenheit und setzt sich neugierig mit dem Spielzeug auseinander. Es begrüßt die Mutter bei der Rückkehr eher distanziert (ca. 23%).

• (C) Ambivalent-unsicher: Das Kind äußert eine starke Betroffenheit und sucht die Nähe, gemischt mit Ärger und Kontaktwiderstand. In der fremden Situation zeigt es vor allem Passivität, erkundet das Spielzeug wenig und lässt sich nach der zweiten Trennung von der Bezugsperson nur schwer trösten. Eltern solcher Kinder reagieren teils feinfühlig, gelegentlich zurückweisend (ca. 8%).

• (D) Desorganisiert-desorientiert: Die Kinder von desorganisierten Eltern zeigen deutliches, nicht auf eine Bezugsperson bezogenes und bizarres Verhalten wie Grimassenschneiden, Einfrieren der Mimik oder Erstarren. Das Verhalten ist insofern außergewöhnlich, als Abbruch, Wiederaufnahme und erneuter Abbruch der Kontaktaufnahme beobachtet werden können (ca. 15%).

Diese vier Qualitäten (sicher, vermeidend, ambivalent, desorganisiert) sind in den letzten 20 Jahren vielfach empirisch bestätigt worden. Im internationalen Vergleich zeigt sich dabei immer wieder, dass sich Erziehungs- und Sozialisationspraktiken unterschiedlich auf das Bindungsverhalten auswirken. In den USA und in Europa ist die Bindungsklasse A häufiger als Bindungsklasse B anzutreffen, während in Japan und Israel die Bindungsklasse C häufiger als Bindungsklasse B nachgewiesen werden |57◄ ►58| konnte. In vielen Studien hat sich ferner gezeigt, dass sicher gebundene Kinder aus Mittelschichtfamilien, die unter positiven Lebensumständen auf wuchsen, ihr Bindungsmuster häufiger behielten als unsicher gebundene Kinder. Eine Ausnahme bildeten desorganisiert gebundene Kinder, welche eine ausgesprochen hohe Stabilität zeigten.

Für die Entwicklung von Bindungsqualität zentral ist somit die Möglichkeit des Säuglings, zu einer oder mehreren erwachsenen Personen eine enge Bindung einzugehen. Eine große Rolle spielen jedoch auch die feinfühlige Fürsorge dieser Personen, die Passung des Umgangs mit dem Kind und seinem Temperament sowie die kontextuellen Aufwachsbedingungen. Insgesamt belegen diese empirischen Befunde, dass die Bindungsqualität keine Persönlichkeitseigenschaft des Kindes ist, sondern ein Beziehungsmerkmal, das sich im Laufe der Zeit wandeln kann. Allgemein gilt sie jedoch als stabiles Merkmal, das ein guter Prädiktor für problematisches Verhalten in der Schulzeit darstellt.

Bedeutet dies somit, dass sich eine sichere Bindungsqualität auf die nachfolgende kognitive, soziale und soziale Kompetenzentwicklung auswirkt? Dazu sind die Forschungsergebnisse nicht schlüssig. Sicher ist, dass die kontinuierliche Fürsorge ein Faktor von großer Bedeutung ist, um die Bindungssicherheit in den folgenden Jahren erhalten zu können. Unsicher gebundene Kinder zeigen in familienexterner Betreuung häufig Verhaltens- oder Anpassungsprobleme, während sich sicher gebundene Kinder deutlich häufiger als sozialkompetent erweisen, die in Konfliktsituationen besser mit Gleichaltrigen umgehen können als unsicher gebundene Kinder.

Was bedeutet Bindungssicherheit für ein Kind, das familienextern betreut wird? Diese Frage wird in Kapitel 9 ausführlich diskutiert. An dieser Stelle seien lediglich zwei Bemerkungen festgehalten:

a. dass hierzulande bildungs- und sozialpolitisch viel über diese Thematik gestritten wird, nicht zuletzt deshalb, weil die gesellschaftliche Akzeptanz von familienexterner Betreuung nicht besonders hoch ist. In anderen Ländern – wie Italien, Frankreich oder den skandinavischen Ländern – ist sie deutlich höher.

b. dass im Ergebnis nur geringe Unterschiede zwischen fremdbetreuten und in der Familie aufwachsenden Kindern ermittelt werden konnten. Von enormer Bedeutung scheint hingegen die Sensibilität und Responsivität der Mutter zu sein: Sie bestimmen die Bindungsqualität. Fremdbetreuung hat darauf fast keinen Einfluss – außer, wenn die Beziehung vorbelastet ist. Kommen solche Kinder in qualitativ hochstehende Fremdbetreuung, dann können sie ihre Bindungsunsicherheit jedoch stabilisieren. Werden unsicher gebundene Kinder zusätzlich ungünstig fremdbetreut, vergrößert sich das Risiko; sind sie besonders günstig, dann vermindert es sich.

|58◄ ►59|

3.2.3 Die Entwicklung des Selbstkonzepts

Der früheste Hinweis auf ein während des zweiten Lebensjahres auftauchendes Selbstbewusstsein ist das Ich, ein Gefühl für das eigene Selbst als sich selbst erkennendes, handelndes Subjekt. Während des zweiten Lebensjahres beginnt das Kleinkind, ein Selbst zu konstruieren. So wird sich das Kind beispielsweise seines Aussehens bewusst, und im Alter von zwei Jahren beginnt es, seinen Namen oder ein Personalpronomen zu verwenden, wenn es sich selbst meint. Diese Selbstaufmerksamkeit ist es auch, welche zu seinen ersten Bemühungen führt, die Sichtweise anderer Menschen zu verstehen und diese mit der eigenen zu vergleichen. In der Sprache beginnen sich soziale Kategorien zu zeigen. Das Selbstkonzept des Vorschulkindes entwickelt sich in erster Linie in der zunehmenden Selbstwahrnehmung weiter. Diese geht beispielsweise einher mit Streitereien mit Peers um gewünschte Gegenstände, aber auch mit ersten Kooperationsversuchen mit anderen Kindern. Nach drei Jahren beginnt sich der Selbstwert auszudifferenzieren. Obwohl das Selbstkonzept bei Vorschulkindern bisher nur rudimentär untersucht worden ist, verweisen verschiedene Längsschnittstudien auf ein insgesamt hohes Selbstwertgefühl (Weinert & Helmke, 1997; Weinert, 1998).

3.2.4 Peerbeziehungen

Während der frühen Kindheit wird die Interaktion zwischen Kleinkindern immer wichtiger (Viernickel, 2010). Bereits sehr junge Kinder zeigen Gleichaltrigen gegenüber ein deutlich anderes Verhalten als gegenüber materiellen Objekten. Babys unter einem Jahr versuchen, Gleichaltrige anzulächeln, Laute zu äußern, sich anzunähern und sie zu berühren. Solche sozial ausgerichteten Verhaltensweisen kann man allerdings noch nicht als Interaktionen bezeichnen. Um solche handelt es sich erst dann, wenn das Gegenüber auch eine soziale Reaktion zeigt. Dies ist gegen Ende des ersten Lebensjahres der Fall (z.B. Austausch von Spielobjekten, gegenseitige Nachahmung; erste einfache Spiele). Im zweiten Lebensjahr manifestieren sich dann enorme Entwicklungen. Zunächst findet eine Entwicklung von vorwiegend nicht sozialer Aktivität auf das Parallelspiel hin statt. Mit Parallelspiel gemeint ist, dass Kinder Seite an Seite sitzen und ähnliche Materialien verwenden, jedoch alleine vor sich hin sprechen und vom Gegenüber wenig Kommunikatives aufnehmen.

Auch bei drei- und vierjährigen Kindern bleiben Allein- und Parallelspiel weiterhin bestehen. Fast alle Interaktionen finden in dieser Altersgruppe zwischen lediglich zwei Kindern statt. Die komplexe Situation, in der mehrere Kinder in einem Gruppenprozess ein Spiel initiieren, ihre Rollen darin finden und das Spiel flexibel abwandeln und weiterentwickeln, übersteigt sowohl die kognitiven als auch die sozialen Fähigkeiten vieler sehr junger Kinder. Sie stellt sich erst mit etwa vier bis fünf |59◄ ►60| Jahren ein. Zu beachten ist allerdings, dass Kleinkinder, die sich regelmäßig treffen, früher schon erste Beziehungsmuster entwickeln. So kommt es in stabilen Gruppen zu einer nachweisbaren Bevorzugung bestimmter Interaktionspartner. Die meisten Kinder bevorzugen ein oder zwei andere Kinder der Gruppe und treten mit diesen verstärkt in einen sozialen Austausch, während zu anderen wenig oder kein Kontakt entsteht. Diese Tendenz verstärkt sich im Verlauf der Vorschulzeit. Auch die Qualität der Interaktionen variiert in Abhängigkeit vom Partner. Es entstehen spezielle Beziehungen zwischen zwei Kindern, die von besonders positiver und kooperativer Natur sind. Auch wenn man gemäß Viernickel (2000) vorsichtig damit sein sollte, bei Kindern in einem Alter, in dem sie zur Selbstauskunft noch nicht fähig sind, bereits von Freundschaften zu sprechen, gibt die empirische Forschung doch Hinweise darauf, dass schon Kleinkinder zwischen mehreren Interaktionspartnern differenzierte Wahlen treffen und im Kontakt mit ihnen unterschiedliches Verhalten realisieren. Eltern haben auf die sozialen Beziehungen ihrer Kinder sowohl eine direkte (über die Beeinflussung der Peerbeziehungen) als auch indirekte Auswirkung (über ihre Erziehungspraktiken). Sichere Bindungsmuster und positive Eltern-Kind-Gespräche korrelieren mit positiven Peerinteraktionen. Für die FBBE-Thematik besonders relevant sind solche Befunde, weil dadurch die familienergänzende Betreuung die große Chance bekommt, durch die Erweiterung des Peerkreises insbesondere die Idee der frühkindlichen Bildung proaktiv zu unterstützen. Kinder lernen auf diese Weise nicht nur, wie man sich sozial austauscht, wie man einen Dialog führt, wie man sich eingliedert, wie man Regeln einhält und auch Kompromisse schließen kann, sondern sie lernen in solchen Settings auch den Erwerb vieler Vorläuferkompetenzen (sprachlicher und mathematischer Art). In vielen Untersuchungen hat sich dabei gezeigt, dass sozial kompetente Kinder über bessere Vorläuferfähigkeiten verfügen als sozial weniger kompetente Kinder (Osborn & Milbank, 1987; Sylva, Melhuish, Sammons, Siraj-Blatchford & Taggart, 2004; 2008).

Einer der beeindruckendsten Befunde ist, dass frühe positive Peerbeziehungen späteren Schulproblemen inklusive gesundheitlicher Störungen entgegenwirken können. Heute wissen wir, dass die soziale Positionierung der Kinder im Kindergarten ein starker Prädiktor für die soziale Stellung und die Schulleistung in der Primarschule darstellt, teilweise sogar für das Jugendalter (Stamm, 2005). Daraus folgt, dass soziale Interaktionen und Peerbeziehungen von Vorschulkindern bereits in diesem entwicklungspsychologisch relevanten Stadium genau betrachtet werden müssen.

|60◄ ►61|

3.2.5 Entwicklung der Moral und ihre Kehrseite: Die Aggression

In den letzten Jahren ist die Frage, wie und ob sich Kinder von Erwachsenen vorgegebene Standards überhaupt anzueignen in der Lage sind, zu einer im bildungs- und sozialpolitischen Bereich hoch aktuellen Thematik geworden. Freuds Theorie besagt, dass der Mensch mit mächtigen sexuellen und aggressiven Trieben geboren wird und diese erst im Alter von fünf Jahren, wenn eine Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil gelingt und er dessen Werte und Verhaltensstandards übernimmt, unter Kontrolle bringt. Disziplinierung, die sich aus Angst vor Strafe und dem Verlust elterlicher Liebe ergibt, ist der Gewissensbildung somit nicht förderlich. Der Behaviorist Watson wiederum stellte sich den Menschen als «unbeschriebenes Blatt», als «tabula rasa» vor, weshalb das Kind erst durch Belohnung bzw. Bestrafung das «richtige» bzw. «falsche» Verhalten lernt. Anders die soziale Lerntheorie: Sie betrachtet die Verstärkung und das Modelllernen als Grundlage moralischen Handelns. Daraus folgt, dass erwachsene Rollenmodelle für moralisches Handeln besonders effektiv sind, wenn sie sich als warmherzig erweisen, positive Autorität ausstrahlen und das, was sie dem Kind demonstrieren, auch selber tun. Häufige und harte Bestrafung wirkt sich auf die Internalisierung nicht förderlich aus und führt auch nicht zum Erlernen sozial akzeptablen Verhaltens, sondern zu vielen unerwünschten Nebenwirkungen. Die kognitive Entwicklungstheorie schließlich betont das Denken, d. h. die Fähigkeit des Kindes, vernünftig über Gerechtigkeit und Fairness nachzudenken. Schon in den Vorschuljahren sind junge Kinder in der Lage, moralische Urteile zu fällen und zu entscheiden, was richtig und was falsch ist.

Alle diese Theorien moralischer Entwicklung erkennen an, dass das Gewissen in der frühen Kindheit entsteht. Die meisten Theorien unterstützen die Sichtweise, dass die kindliche Moral zunächst durch Erwachsene kontrolliert und erst nach und nach durch innere Standards reguliert wird. Dies geschieht über die Internalisierung der vorgegebenen Standards. Obwohl die Theorien in verschiedenster Hinsicht ähnliche Aussagen machen, legen sie andere Schwerpunkte. Die Psychoanalyse beispielsweise betont die emotionale Seite der Gewissensentwicklung, die soziale Lerntheorie betont das moralische Verhalten und wie es durch Verstärkung und Modellbeobachtung gelernt wird, und die kognitive Entwicklungstheorie das Denken. Diese kognitive Sichtweise mit den beiden Vertretern Piaget und Kohlberg hat die Forschung zur Moralentwicklung entscheidend geprägt. Gemäß Piagets Entwicklungstheorie (1976) verläuft die Entwicklung des moralischen Urteils beim Vorschulkind wie folgt: Aus einem amoralischen Stadium kommt es in ein Stadium des Respekts gegenüber unverletzlich scheinenden Regeln. Wer sich im Einklang mit diesen Regeln verhält, ist «lieb», wer nicht, ist «böse». Sein kindlicher Realismus bewirkt jedoch, dass es solche Regeln |61◄ ►62| allerdings wie andere Dinge betrachtet und unfähig ist, zwischen subjektiven und objektiven Aspekten der Umwelt bzw. seiner Erfahrung mit ihr zu unterscheiden (Egozentrismus). Während das Vorschulkind von einer autoritätsbestimmten (heteronomen) Moral geleitet wird, entwickelt sich gegen Ende des Grundschulalters eine selbstbestimmte (autonome) Moral, die unabhängig von den erwachsenen Bezugspersonen wirksam ist.

Aufbauend auf Piagets Modell, entwickelte Lawrence Kohlberg (1927 – 1987) ein differenziertes Stufenmodell mit drei Hauptniveaus und sechs Stadien moralischen Verhaltens (Kohlberg & Turiel, 1978). Er legte Kindern und Jugendlichen eine Reihe von hypothetischen moralischen Konfliktsituationen vor (etwa, ob man ein teures Medikament stehlen darf, um den Tod seiner eigenen Frau abzuwenden) und ordnete die Reaktionen den einzelnen Stufen bzw. Stadien zu. Zwar ergab sich eine gute Übereinstimmung mit den theoretischen Annahmen, doch zeigte sich auch, dass es große Unterschiede im Entwicklungsverlauf der einzelnen Kinder gibt. Das moralische Urteil entwickelt sich dementsprechend über drei Niveaus. Jedes dieser Niveaus enthält Stufen: (1) das präkonventionelle Niveau, (2) das konventionelle Niveau und (3) das postkonventionelle Niveau. Das erste Niveau ist dadurch gekennzeichnet, dass das junge Kind Moralität als von Belohnung, Bestrafung und Autorität kontrolliert versteht. Das zweite Niveau betrachtet die Konformität als Notwendigkeit, um positive menschliche Beziehungen und eine gewisse soziale Ordnung garantieren zu können. Im postkonventionellen Niveau entwickelt das Individuum abstrakte, universelle Gerechtigkeitsprinzipien.

Vorschulkinder, die wegen ihres aggressiven Umgangs mit anderen Kindern nicht besonders beliebt sind, übertreten moralische Regeln häufig. Dass Kinder von Zeit zu Zeit Aggressionen zeigen, ist jedoch normal. Allerdings gibt es junge Kinder – insbesondere impulsive oder überaktive –, die gefährdet sind, langfristige Verhaltensprobleme zu entwickeln. Diese negative Entwicklung ist jedoch abhängig vom Erziehungsstil der Eltern und dem Aufwachskontext des Kindes. Im Vorschulalter sind zwei Formen von Aggression zu unterscheiden:

• die häufig auftretende instrumentelle Aggression: Zu ihr gehören Schubsen, Anschreien oder Wegdrängen, wenn es um die Eroberung eines bestimmten Objekts oder eines Platzes geht.

• die feindselige Aggression: Bei ihr geht es darum, jemanden anderen zu verletzen. Sie kann sich auf zwei Arten äußern: als offene, direkte Aggression, die auf die Zufügung körperlicher Verletzungen ausgerichtet ist, und als relationale Aggression, welche auf die Beziehungen zu Gleichaltrigen ausgerichtet ist. Erstere Form ist eher bei Jungen, letztere bei Mädchen zu beobachten. Da relationale Aggressionen|62◄ ►63| meist verdeckt sind, werden Mädchen häufig als weniger aggressiv wahrgenommen.

Was jedoch fördert Aggression? Zuerst einmal ineffektive Disziplinierungsmaßnahmen der Eltern, dann aber auch konfliktreiche Familienverhältnisse und Gewalt im Fernsehen. Kleinkinder verstehen Gewalt im Fernsehen nur rudimentär. Dies führt zu Nachahmungen und zur unkritischen Annahme des Gesehenen. Es gibt jedoch verschiedene Maßnahmen, aggressives Verhalten zu reduzieren: (a) effektive Erziehungsmaßnahmen der Eltern respektive der Erziehungsberechtigten, (b) kindliche Trainingsprogramme, welche das Ziel haben, soziale Problemlösestrategien einzuüben, (c) Verminderung der Feindseligkeit innerhalb der Familie, (d) Abschirmen der Kinder vor gewaltgeladenen Sendungen im Fernsehen.

3.3 Entwicklungs- und Sozialisationsrisiken

Die Entwicklung junger Kinder geht einher mit einer ausgeprägten Beeinflussbarkeit und Verwundbarkeit (Vulnerabilität). Aus diesen Gründen hat die Forschung schon vor vielen Jahren von einer besonderen Gefährdung der frühen Kindheit gesprochen und Risikofaktoren definiert, welche die kindliche Entwicklung beeinträchtigen. Solche Risikofaktoren bilden sich im Rahmen der unterschiedlichen Sozialisationsbedingungen heraus. Ahnert (2006) macht jedoch darauf aufmerksam, dass es auch Wechselwirkungen gibt und junge Kinder aktiv in ihre eigenen Lebenskontexte einwirken und damit die Wirkung von Risikofaktoren reduzieren oder verhindern können. Not tut deshalb anstatt einer defizitorientierten, auf die kindlichen Gefährdungen eingeschränkten Sichtweise eine ganzheitliche Sicht auf die Frühsozialisation des Kindes und auf die sich daraus ergebenden Chancen.

Heute wird unter Entwicklung die kontinuierliche Wechselwirkung von umweltbezogenen und genetischen Faktoren verstanden. Beide wirken wechselseitig und verändernd aufeinander ein. Dies geschieht in einem langen, störanfälligen Sozialisationsprozess. Frühe Erfahrungen beeinflussen dabei die weiteren Entwicklungsbedingungen. Diese sind bereits vorangehend anhand des Modells der Kind-Umwelt-Passung beschrieben worden. Von Passung spricht man dann, wenn die Kontextbedingungen den vorhandenen Fähigkeiten, Temperaments- und Verhaltensmerkmalen des Kindes derart entsprechen, dass sie weiter entfaltet und wiederum von der Umwelt stimuliert werden können. Wie entstehen jedoch Fehlentwicklungen? Aus der Sicht dieses Kind-Umwelt-Passungsmodells dann, wenn Fähigkeiten stimuliert werden sollen, für die es keine Grundlage gibt, oder wenn die Umwelt nicht angemessen auf Fähigkeiten oder andere Merkmale reagiert.

|63◄ ►64|

Im Mittelpunkt der aktuellen Diskussion steht das Zusammenspiel von vulnerablen und protektiven Faktoren und damit das Stichwort «Resilienz». Resilienz wird definiert als psychologische Widerstandsfähigkeit, trotz biologischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungsrisiken internale und externale Ressourcen erfolgreich zu nutzen und Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Mit dem Konzept der Resilienz verwandt sind Konzepte wie Salutogenese und Coping. Unter Vulnerabilität werden Eigenschaften verstanden, die zu verfehlten Anpassungsleistungen prädisponieren. Sie können sowohl genetisch als auch umweltbedingt sein. Bestimmte Sozialisationsbedingungen können zur Verstärkung oder Milderung von Vulnerabilität beitragen. Gleiches gilt für bestimmte Lebensphasen (z.B. sensible Phasen). Auch wenn Vulnerabilität vorwiegend genetisch bedingt sein sollte, kann sie durch bestimmte Sozialisationseinflüsse oder Lebensphasen verändert werden. Ferner geht die Resilienzforschung davon aus, dass trotz vorhandener Vulnerabilität störende Einflüsse dann minimierbar sind, wenn protektive Faktoren wirksam werden können oder auf sie zurückgegriffen werden kann. Umgekehrt wird jedoch auch angenommen, dass sich im Falle nur vereinzelt zur Verfügung stehender Schutzfaktoren Störungen entwickeln und Fehlentwicklungen kaum vermieden oder zurückgehalten werden können.

Welches sind entwicklungsförderliche Beziehungskontexte? Sowohl Resilienzals auch Vulnerabilitätsfaktoren können nur über Beziehungskontexte des Kindes wirksam werden. Die kindliche Beziehungsfähigkeit steht somit im Zentrum der Entwicklung und der Pädagogik der frühen Kindheit. Betreuungspersonen und Vorschullehrkräfte müssen wissen respektive lernen, wie ein entwicklungsfördernder Beziehungskontext aufgebaut werden kann und wie kindliche Signale und Verhaltensabsichten sensitiv beantwortet und interpretiert werden können. Papoušek, Schieche und Wurmser (2004) sprechen dabei von sensitiven Betreuungsmustern und von emotional positiven Zuwendungsformen, denen eine ausgeprägte Sicherheits- und Schutzfunktion zukommt. Für die FBBE-Thematik und die Frage nach Chancengleichheit besonders wesentlich ist, dass entwicklungsfördernde frühe Beziehungskontexte auch im späteren Leben beibehalten oder gestärkt werden können. Folglich braucht es Erziehungsprinzipien, welche auf die kindliche Kompetenz- und Bedürfnisentwicklung ausgerichtet sind und als Leitplanke dienen. Auf diese Weise kann das Kind handlungskompetent und gestaltungsfähig werden. Neben der Bindungssicherheit und der liebevollen Zuwendung gehören vier Erziehungsprinzipien dazu:

• die Beachtung der kindlichen Individualität und des zunehmenden Autonomiestrebens,

|64◄ ►65|

• die Orientierung an verbindlichen Verhaltenserwartungen,

• vielfältig und herausfordernde Förder- und Anregungsmöglichkeiten,

• die partizipative Einbindung in eine gemeinsame Lebensgestaltung.

3.4 Zusammenfassende Bilanz

Die bildende, integrierende, betreuende und erziehende Umwelt kann Entwicklungsmuster bereits in den frühen Lebensjahren bedeutsam verändern. Diese soziale Tatsache lässt vermuten, dass eine angemessene vorschulische Förderung enorme Wirkungen auf die kindliche Entwicklung erzielen kann. Dazu liegen heute vielfältige Forschungsergebnisse vor. Sie belegen jedoch, dass solche Wirkungen nur dann positiv sein können, wenn vorschulische Förderung gleichermaßen auf die kognitive, soziale und emotionale Entwicklung ausgerichtet ist. Entsprechend wurde in diesem Kapitel die Bedeutung der Beziehung junger Kinder zu Erwachsenen diskutiert und darauf verwiesen, dass emotional sichere Beziehungen in frühkindlichen Bildungs-und Betreuungssettings zentral sind, aber auch prädiktiv für die späteren sozialen Beziehungen zu Gleichaltrigen, für die Manifestation von Verhaltensproblemen und für Schulleistungen.

Die Hauptbotschaft in diesem Kapitel war die, dass Entwicklung nicht einfach nur eine Entfaltung angeborener Fähigkeiten ist, sondern nach sozialem Kontext variiert. Piaget hat den Einfluss der Kultur, in der ein Kind lebt, auf die kognitive Entwicklung noch weitgehend vernachlässigt. Erst seine Kritiker, insbesondere auch Wygotski, haben erkannt, dass Entwicklungsveränderungen aus einer sozial-kulturellen Perspektive betrachtet und erklärt werden müssen. Die kognitive, soziale und emotionale kindliche Entwicklung ist somit eine Angelegenheit, in der die Natur – was das Kind auf die Welt mitbringt – und die Förderung – die Beziehungen und andere Aspekte des kindlichen Kontexts – interagieren.

Insgesamt liefern sowohl die Hirnforschung als auch die neue kognitive Entwicklungspsychologie viele Argumente, welche die Forderungen nach der Implementation von FBBE-Konzepten unterstützen. Beide Forschungsrichtungen haben nachweisen können, dass das Denken junger Kinder demjenigen der Erwachsenen ähnlicher ist, als beispielsweise Piaget angenommen hatte, und dass ihre Lernfähigkeiten bereits in den ersten Lebensmonaten bemerkenswert sind. Demzufolge kann davon ausgegangen werden, dass junge Kinder bereits über kognitive Strukturen verfügen, welche Wissen aufzubauen in der Lage sind. Auch im Hinblick auf die viel diskutierte Frage, ob es bestimmte Phasen oder Zeitfenster gibt, in denen ein junges Kind von FBBE-Angeboten|65◄ ►66| besonders profitiert, liefert die Forschung einige Hinweise. Die Wirksamkeit kompensatorischer Programme ist mehrfach belegt, jedoch nur, wenn die Angebote auch während der folgenden Lebensjahre aufrechterhalten und die Familien umfassend einbezogen werden. Darauf wird in Kapitel 9 eingegangen.

Anlage und Umwelt sind für jedes Kind einmalig. Deshalb lassen sich zwischen Kindern auch bemerkenswerte Variationen bereits im frühen Alter beobachten. Weil darüber hinaus die Responsivität der Umgebung gegenüber dem Entwicklungsstand des Kindes und seinen Charakteristika der Schlüssel zur Förderung der weiteren Entwicklung ist, fokussiert das nächste Kapitel auf einige Variationen zwischen Vorschulkindern im sprachlichen und mathematischen, im körperlich-emotionalen und im kulturellen Bereich. Auf solche Disparitäten sollte das pädagogische Fachpersonal angemessen reagieren.

|66◄ ►67|

Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung

Подняться наверх