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1 FBBE: Was sie meint und was sie leisten soll

1.1 Was ist FBBE?

Jedes Kind hat ein Recht auf Bildung, Betreuung und Erziehung – von Geburt an. Die UN-Kinderrechtskonvention, welche dieses Bildungsrecht explizit festhält, fußt auf dem Grundgedanken, dass alle Rechte in erster Linie auf das Wohl des Kindes abzielen sollen. Das bedeutet, dass die Bedürfnisse des Kindes und nicht die Bedürfnisse der Eltern respektive der Erziehungsverantwortlichen im Mittelpunkt stehen müssen. FBBE muss deshalb im Hier und Jetzt gedacht werden. Nicht zufällig hat Janusz Korczak vom «Recht des Kindes auf den heutigen Tag» (Korczak, 1981, S.64) gesprochen. Gerade weil Kinder unsere Zukunft sind, müssen wir sie vom ersten Tag an, ohne Rücksicht auf ihre Herkunft, so fördern, dass sie sich kreativ und ihrem Potenzial entsprechend entwickeln können. Hinter dieser Vorstellung verbirgt sich das humboldtsche Bildungsverständnis des Kindes als «Aneignung von Welt» oder als Selbstbildung (Schäfer, 2004). In dieser Tradition ist Bildung von der subjektiven Eigenleistung abhängig. Sie ist es, die einen Lernprozess zu einem Bildungsprozess macht. Diese Sichtweise bekommt nun auch durch die Befunde der Hirnforschung, der Entwicklungsneurologie und der Systemtheorie Auftrieb.

Humboldts Grundgedanken bilden bis heute die regulative Grundidee des Bildungsbegriffs. Sie versteht Bildung als Verhältnis zwischen dem individuellen Ich und der Welt, wobei die Individualität nur durch das Gegenüber, durch das sie sich konturieren kann, entsteht. Die Bildung der Kräfte zu einem Ganzen kann dabei nur gelingen, wenn das junge Kind nicht mit funktionalen Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft gedacht wird. Für die Diskussion grundlegend ist auch Fröbels, Montessoris oder Piagets Verständnis der frühen Kindheit. Fröbel (1839/1982) spricht von der frühen Kindheit als früher Bildungszeit und vom selbsttätigen Handeln des Kindes im Rahmen seines Bildungsprozesses. Diesen Gedanken hat Montessori (Helming, 2002) weitergedacht und hat auf der Basis von Beobachtungen autodidaktisches, auf Sinneserfahrung basierendes Material entwickelt, das Kinder selbstständig nutzen können. Auf diese Weise können sie ein Verständnis der Welt entwickeln. Die Unterstützung der Erwachsenen im kindlichen Bildungsprozess versteht Montessori dabei als Hilfe zur Selbsthilfe. Von besonderem Interesse für die frühkindliche Bildung ist dabei, dass sie in den ersten zwei bis drei Lebensjahren von einem inflationären Reichtum kindlicher Eindrücke ausgeht, der erst durch die Führung der Erwachsenen in eine Ordnung gebracht werden kann. Diese Ordnung wird jedoch nicht durch die Persönlichkeit der erziehenden Person hergestellt, sondern durch die Sache selbst. |19◄ ►20| Piagets (1981) Kernaussage wiederum besagt, dass die kognitive Entwicklung einem selbstkonstruktiven Prozess entspricht, in welchem das Kind auf der Basis seiner kognitiven Fähigkeiten Wissen konstruiert. Erwachsene spielen dabei eine lediglich sekundäre Rolle.

Zwar sind sowohl Humboldt als auch Fröbel, Montessori oder Piaget für die aktuelle frühkindliche Bildungsdiskussion von großer Bedeutung. Sie alle berücksichtigen soziale Prozesse – jedoch nur insoweit, als Erwachsene die Eigenständigkeit des Kindes akzeptieren müssen. Diese Perspektive genügt allerdings kaum. Wenn Pluralität ein konstitutives Element unserer Gesellschaft und Diversität eine soziale Tatsache darstellt, dann kann es kaum universelle Gesetzmäßigkeiten – so wie von Piaget postuliert – geben. Frühkindliche Bildung muss vielmehr als sozialer und kulturell bestimmter Prozess verstanden werden, an dem das gesamte gesellschaftliche Umfeld beteiligt ist. Bildungskonzepte müssen deshalb auf den Kontext und auf die Tatsache ausgerichtet werden, dass jedes Kind anders ist.

Darauf verweisen auch verschiedene empirische Befunde zur vorschulischen Förderung. Seit der internationalen PISA-Studie wird sie verstärkt im Hinblick auf ihre Fähigkeit, Startchancengleichheit bei Schuleintritt zu erreichen, diskutiert. Bekanntlich liegen verschiedene Untersuchungen vor, welche auf die großen Kompetenzunterschiede von Vorschulkindern bereits bei Eintritt in den Kindergarten (Stamm, 2004) und auf die Schwierigkeiten verweisen, diese Unterschiede bis zum Schuleintritt zu egalisieren (Moser et al., 2008). Deshalb besteht heute in der scientific community weitgehend Einigkeit, dass eine langfristig wirksame Förderung früher einsetzen muss. Wenn somit frühkindliche Bildung einen Beitrag zur Minimierung der sozialen Differenz respektive zur Umsetzung von Startchancengleichheit leisten soll, dann greift das humboldtsche Verständnis, aber auch Fröbels und Montessoris Ideen frühkindlicher Bildung als Selbstbildung zu kurz, weil sie keine Aussagen zur soziokulturellen Diversität und sozialen Komplexität machen.

Wie jedoch soll der frühkindliche Bildungsbegriff weiterentwickelt werden? Einen ersten Vorschlag formuliert Fthenakis, indem er ihn als «ko-konstruktiven Bildungsprozess» (2002) bezeichnet. Dabei spricht er vom kompetenten Kind, das sich Wissen selbst konstruiert, aus sich heraus lernt, die Welt erkundet und den aktiven Dialog sucht. Dies sind Aktivitäten und Kompetenzen, die im Hinblick auf die sprachliche, soziale und emotionale Entwicklung besonders wichtig sind. Allerdings ist dieser Perspektive entgegenzuhalten, dass kindliche Eigenaktivität und Selbsttätigkeit nur so lange Gültigkeit haben können, wie das Kind in einem geschlossenen, der Mehrheitsgesellschaft entsprechenden Familiensystem lebt und keine direkte Steuerung von außen braucht. Dies trifft in erster Linie für Kinder mit privilegiertem Bildungshintergrund zu, die in anregungsreichen Milieus aufwachsen und deshalb vieles |20◄ ►21| beiläufig lernen. Für Kinder, die in Armut oder in sozial deprivierten Verhältnissen – unter Umständen kumuliert mit Benachteiligungen aufgrund eines Migrationshintergrunds – aufwachsen, genügt auch das Modell der Ko-Konstruktion kaum. Geeigneter erscheint hingegen das von Rauschenbach (2006) beschriebene Konzept der Koproduktion. Gemeint ist damit, dass Kinder zwar «selbst konstitutiv am Bildungsgeschehen zu beteiligen sind, dass sie auf der anderen Seite auch gezielte Lernstimuli und gestaltende Lernumgebungen benötigen, wenn erfolgreiche Bildungsprozesse mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zustande kommen sollen» (S.76). Dieses koproduktive Konzept überwindet sowohl das Konzept der Selbstbildung als auch dasjenige der Kokonstruktion auf zweifache Weise:

• indem es explizit den Austausch zwischen den Selbstbildungsfähigkeiten des Kindes und der Bereitstellung und Anregung von Bildungsmöglichkeiten durch die Umwelt, in Interaktion mit Gleichaltrigen und Erwachsenen, betont;

• indem es den gesellschaftlichen Blickwinkel einbezieht und die für eine erfolgreiche Schul- und Berufslauf bahn erforderlichen instrumentellen und sozialen Kompetenzen herausstreicht.

Was bedeutet eine solche Bildungskonzeption für das pädagogische Fachpersonal in familienexternen Betreuungsinstitutionen? Erstens erfordert sie ein neues, grundlegend anderes Betreuungs- und Instruktionsverständnis, das nicht mehr wie bis anhin ausschließlich auf Pflege und Versorgung respektive auf Begleitung, Unterstützung und Anregung ausgerichtet ist, sondern auf die behutsam-provokative Stärkung des Eigenanteils des Kindes an seiner vorschulischen Bildung. Zweitens erfordert sie eine Verstärkung schulvorbereitender Bildungsanstrengungen, die in erster Linie auf das junge Kind mit Minoritätshintergrund ausgerichtet sein sollen. Damit sind alle Kinder gemeint, die von sozialer Benachteiligung betroffen sind und durch Lebensbedingungen und Lebensführung von der anerkannten schulischen Wissens- und Lernkultur weit entfernt aufwachsen.

1.2 Was soll FBBE leisten?

Nicht nur die UN-Kinderrechtskonvention erachtet Bildung als den zentralen Schlüssel, um sozialer Ausgrenzung vorzubeugen und ihr entgegenzuwirken. Auch die UNESCO hat in ihrem Aktionsplan «Bildung für alle» sechs Bildungsziele festgehalten, deren erstes die frühe Bildung, insbesondere für Kinder aus benachteiligten Familien, darstellt (UNESCO, 2007). Was bedeutet dies für Deutschland und die Schweiz, |21◄ ►22| wo die PISA-Studie gezeigt hat, dass die späteren Chancen eines jungen Kindes davon abhängen, welchen Bildungsstand seine Eltern haben, wie viel sie verdienen und welche Sprache in der Familie gesprochen wird? In erster Linie bedeutet dies die Verpflichtung, Rahmenbedingungen bereitzustellen, welche die Rechte jedes Kindes – auch und insbesondere desjenigen aus benachteiligten Familien – auf Wohlergehen und Bildung garantieren. FBBE kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Sie ist deshalb eine demokratische Verpflichtung, die auf drei miteinander eng verwobenen Ebenen zum Ausdruck kommt: auf der gesamtgesellschaftlichen, der organisatorischen und der praxisbezogenen Ebene.

• Auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene ist die Aufgabe von FBBE dreigeteilt: Erstens geht es darum, herkunftsbedingte Chancenungleichheit auszumerzen und damit das verfassungsmäßig verbriefte Recht aller Menschen auf Gleichbehandlung konsequent zu realisieren. Zweitens hat sie den Auftrag, in volkswirtschaftlicher Hinsicht in das Aufwachsen junger Kinder zu investieren. Dass sich solche Investitionen in den Vorschulbereich aufgrund ihrer hohen Bildungsrendite lohnen, ist eine vielfach belegte Tatsache (Stamm et al., 2009; Burger, 2010). Die dritte gesamtgesellschaftliche Aufgabe liegt in der breiten, allen Sozialschichten zugänglichen Verankerung von FBBE-Angeboten.

• Auf der Ebene der Organisationsstrukturen kommt FBBE die Aufgabe zu, unterschiedliche Betreuungs- und Bildungskonstellationen zu ermöglichen: Dazu gehören innerfamiliäre Konstellationen, Betreuungsverhältnisse durch Dritte (Verwandte, Babysitter, Au-pairs) sowie institutionalisierte Betreuungsverhältnisse (Krippen, Tageseltern etc.). Notwendig ist dabei, dass die Diskussion im Hinblick auf die optimale Form von FBBE zwar auf der Gleichberechtigung dieser Betreuungskonstellationen beruht, jedoch von entwicklungspsychologisch vorgegebenen und sozioökonomisch bedingten Besonderheiten der frühen Kindheit geleitet wird. So sind beispielsweise familienexterne Betreuungskonstellationen bei benachteiligt aufwachsenden Kindern dann besonders wichtig, wenn diese sprachliche oder soziale Defizite aufweisen, die innerfamiliär nicht behoben werden können.

• Die Ebene der konkreten Praxis fragt nach der praktischen Ausgestaltung von FBBE. Im Mittelpunkt stehen sowohl der Ausgleich von Bedürfnissen, die sich bei einzelnen Kindern aufgrund ihrer sozialen und kulturellen Herkunft ergeben, als auch die Förderung individueller Potenziale, Talente und Begabungen. Herzstück ist dabei die pädagogische Professionalität des Fachpersonals und die Qualität des Angebots, der Inhalte und der Prozesse. Diese «pädagogische» Qualität

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meint, dass FBBE entwicklungsadäquat ausgerichtet, kulturell angemessen und hochwertig sein soll. Auf diese Weise wird durch FBBE Chancengerechtigkeit realisierbarer.

Die Beantwortung der normativen Frage, was FBBE leisten soll, orientiert sich letztlich an ihrer Wirksamkeit. Diese ist in dreifacher Hinsicht nachgewiesen: in Bezug auf (a) den internationalen Vergleich der Bildungssysteme, (b) Modellprojekte zur frühen Förderung benachteiligter Kinder und (c) den volkswirtschaftlichen Ertrag.

• Dass FBBE Startchancengleichheit schaffen kann, wenn Bildungsprozessen bereits in den ersten Lebensjahren eine grundlegende Bedeutung beigemessen wird, zeigen verschiedene der erfolgreichsten PISA-Länder im Vergleich: Kanada oder Finnland zeichneten sich nicht nur durch die Leistungen ihrer 15-Jährigen in Lesen, Mathematik oder Naturwissenschaften aus, sondern verfügen auch über gut ausgebaute FBBE-Systeme und fördern darüber hinaus auch Kinder aus unterprivilegierten, bildungsfernen Schichten nicht nur besonders gut, sondern auch besonders kontinuierlich während der gesamten Schulzeit. Insbesondere in Kanada werden dabei FBBE-Angebote mit kognitiven Inhalten verknüpft, d. h. nicht nur mit Betreuung und Pflege, sondern auch mit intellektueller Anregung in spezifisch lernförderlich gestalteten Umgebungen.

• Dass ein solcher Weg besonders erfolgreich ist, zeigt auch die Wissenschaft auf: Der Großteil der verfügbaren Untersuchungen zu Modellprojekten belegt, dass FBBE-Angebote für benachteiligte Kinder besonders wirksam sein können. Sind sie von hoher Qualität, dann sind sie nicht nur in der Lage, die von der Bildungspolitik vielfach eingeforderte Startchancengleichheit bei Schuleintritt umzusetzen, sondern auch einen Beitrag zum späteren Schulerfolg dieser Kinder zu leisten. Denn sie brauchen weniger sonderpädagogische Stützmaßnahmen, müssen seltener Klassen wiederholen und zeigen später auch weniger abweichendes und delinquentes Verhalten (vgl. Burger, 2010, sowie Kapitel 10).

In volkswirtschaftlicher Perspektive wird in vielen Studien nachgewiesen, dass frühe Bildungsförderung genau an der richtigen Stelle ansetzt: Gemäß Cunha und Heckman (2007) sind die ökonomischen Effekte enorm, wenn man Kinder, insbesondere benachteiligte, sehr früh fördert. Unterstützt man sie hingegen erst im Jugendalter, dann sind die Effekte minimal. Eine umfassende Investition in den Frühbereich vermag somit nicht nur Chancenungleichheit bestmöglich auszubalancieren, sondern auch Humankapital durch mehr Wachstum zu fördern (vgl. Kapitel 10).

Zusammenfassend lässt sich aus diesen Befunden folgern, dass mit einem gut ausgebauten FBBE-System das Wachstumspotenzial einer Volkswirtschaft jährlich |23◄ ►24| bedeutsam gesteigert, das Ausmaß von Bildungsarmut und Kinderarmut hingegen gesenkt werden kann. Um dieses Ziel zu erreichen, sind jedoch ein Ausbau der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, eine bessere Qualität frühkindlicher Förderung durch eine Höherqualifizierung des Fachpersonals sowie eine Finanzierung erforderlich, die sich stärker an bildungsökonomischen Leitlinien orientiert. Auf diese Weise kann eine qualitativ hochstehende FBBE die Grundlage für das in einer Wissensgesellschaft wesentliche lebenslange Lernen schaffen. Dieses wiederum fördert die soziale, emotionale, physische, sprachliche und kognitive Entwicklung.

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Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung

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