Читать книгу Mandoria - Die zwölf Amulette - Maria Meyer - Страница 5
2.
ОглавлениеIch blieb einen Moment mit geschlossenen Augen liegen. Es fühlte sich einfach gut an. Nach ein paar Sekunden bemerkte ich auch woran das lag. Es war warm, vom Gewitter keine Spur mehr. Ganz kurz genoss ich die Sonnenstrahlen auf meiner Haut, dann richtete ich mich auf, schlug die Augen auf und blinzelte ins Licht.
Die Sonne stand hoch am blauen Himmel. Ich lag auf einem mit Gras bewachsenen Hügel und konnte irgendwo Wasser rauschen hören. Der Boden war trocken und nichts deutete daraufhin, dass es geregnet hatte, nur meine Klamotten waren nach wie vor klitschnass.
„Hey, da ist jemand endlich aufgewacht!“, rief Finns Stimme. Der Elf saß auf einem Apfelbaum, grinste und baumelte mit den Beinen, „Du hättest dir den harten Aufprall erspart, wenn du einfach in den Kreis gegangen wärst. Aber wer nicht hören will, muss fühlen.“ Er klang wie die Hausmutter im Internat.
„Mmmh“, machte ich, streifte meine Regenjacke ab und sah mich verwirrt um. Die einzige Erklärung für all das hier war völlig unglaubwürdig. Andererseits würde mir auch kein normaler Mensch glauben, dass ich mitten in der Nacht mit einem Elfen durch den Wald spaziert war.
Ich rappelte mich auf und klopfte Gras von meiner Hose. „Finn, haben wir... eine Zeitreise gemacht?“
„Eine Zeitreise?“, lachte er, „So ein Quatsch, so was geht doch gar nicht.“ Ich fand er hatte kein Recht mich auszulachen und antwortete ein wenig trotzig: „Woher soll ich das denn wissen? Immerhin bist du...“ „Ein Elf!“, beendete er meinen Satz, „Aber nicht mal Zauberer haben es je geschafft durch die Zeit zu reisen. Auch wenn manche das behaupten, aber das ist natürlich völliger Blödsinn. Nichts als Werbung.“
„Okay, okay!“, ich beschloss die Sache mit den Zauberern erst mal zur Seite zu schieben. „Wir haben also keine Zeitreise gemacht. Aber wo sind wir?“
„In Mandoria“, erklärte Finn feierlich und breitete seine Arme mit großer Geste aus, „Und zwar nicht irgendwo in Mandoria, sondern so gut wie in der Hauptstadt. Früher soll die Stadt selbst Mandoria geheißen haben, aber als die neue Welt entstanden ist, hat man unsere Welt so getauft. Die Stadt nennt man seitdem einfach nur „die Hauptstadt““, er beendete seinen Redeschwall, als er mein verständnisloses Gesicht bemerkte, „Komm her und sieh sie dir an!“
Er flatterte von seinem Ast und flog den Hügel weiter hinauf, bis er ganz oben angekommen war. „Moment mal!“, ich joggte hinter ihm her. Ich hatte kaum ein Wort von dem verstanden, was er gerade gesagt hatte. Das musste er mir nochmal langsam erklären. „Finn...“, begann ich ein wenig außer Atem und lief die letzten Schritte zur Hügelkuppe hinauf. „Tadaaa!“, krakeelte er, statt zuzuhören und fuchtelte wild mit den Armen.
„Wow“, flüsterte ich. Etwa einen Kilometer vor uns erhob sich ein flacher Berg, der über und über von schneeweißen Marmorgebäuden bedeckt war, die in der Sonne leuchteten. Die Häuser erinnerten an altgriechische oder -römische Baukunst. Allerdings nahmen sie, vor allem zur Spitze des Berges hin, eher die Form von modernen Hochhäusern an. Auf dem höchsten Punkt des Berges thronte ein Palast, der so riesig war, dass man ihn auch von hier bestens erkennen konnte. Statt einem Dach trug er eine gewaltige Kuppel aus Glas, die kunstvoll mit Gold verziert war und im Licht funkelte.
„Das ist unglaublich“, brachte ich beeindruckt hervor, „Das ist...“ Ich riss mich vom Anblick der Stadt los: „Aber Finn, wo bin ich hier? Und warum?“ Der Elf winkte schmunzelnd ab: „Geduld! Ich soll dich Zalador vorstellen, der wird dir mit dem größten Vergnügen alles erklären, was du wissen willst. Glaub mir.“ Ich schnaubte. Das war ja wohl auch das Mindeste.
Plötzlich fiel ein riesiger Schatten über die Wiese. Ich sah zum Himmel hinauf und erschrak. Statt einer schweren Wolke schwebte ein riesiger Vogel über uns. Seine Flügel, die etwa die Größe von Ruderbooten hatten, waren majestätisch ausgebreitet und sein rötliches Gefieder bildete einen irgendwie interessanten Kontrast zum blauen Himmel. Auf den zweiten Blick wirkte der Vogel gar nicht mehr so furchteinflößend, sondern auf eine merkwürdige Art wunderschön. Andererseits würde ich das sicher nicht mehr so sehen, wenn er plötzlich Hunger bekäme und der Meinung wäre, dass Finn und ich von da oben ziemlich lecker aussahen.
Finn merkte, dass ich den Vogel fasziniert anstarrte. „Das ist ein Rokh“, belehrte er mich, „Eindrucksvoll nicht? Aber glaub mir, die willst du nicht wütend machen.“ „Das glaub ich dir gerne“, meinte ich.
Plötzlich fiel mir etwas auf: „Sag mal, hier in... Mandoria?“ Er nickte. „Also, hier in Mandoria gibt es Elfen und... und Zauberer und... Riesenvögel und so. Aber da unten in der Stadt leben doch... Menschen, oder?“
Der Elf lachte leise: „Natürlich leben da auch Menschen, was denkst du denn?“
Was er mit auch gemeint hatte, zeigte sich bald darauf. Als wir den Hügel hinabgeklettert und auf einer breiten Pflasterstraße, die in die Stadt hineinführte, ein Stück weit gegangen waren, rollte uns eine Kutsche entgegen. Auf dem Kutschbock saß ein Mann, der Jeans und ein kariertes Holzfällerhemd trug. Auch das schwarze Pferd, das die Kutsche zog, sah – bis auf die rot glühenden Augen – ziemlich normal aus. Allerdings war das nicht alles. Als die Kutsche auf uns zu gekommen war, hatte ich von weitem gedacht, neben ihr wäre ein Reiter. Als sie aber näher kam und gemächlich an uns vorbeizuckelte, erkannte ich, dass es kein Mann auf einem Pferd war. Es war ein Mann mit einem Pferdekörper.
Dort wo der Hals des hellen braunen Pferdes hätte sein müssen, saß der Oberkörper eines jungen Mannes, der eine braune Lederweste trug. Als das Wesen uns passierte, starrte ich ihm mit großen Augen nach. Er musste das wohl aus dem Augenwinkel gesehen haben, denn er drehte sich mit gerunzelter Stirn zu mir um und ich lenkte meinen Blick schnell auf die ersten Häuser der Stadt, die vor uns auftauchten.
Dann ging ich ein Stück näher an Finn heran und zischte: „War das gerade ein Zentaur? Das kann doch jetzt nicht wahr sein.“
Finn lachte leise. „Und wie das wahr ist. Du wirst hier sicher noch vielem begegnen, was du nicht für möglich gehalten hättest.“
Natürlich sollte er damit Recht behalten. Das zeigte sich, als wir in die Hauptstadt kamen. Eigentlich hätte es eine normale Stadt sein können, wenn sie nicht komplett aus weißem Marmor bestanden hätte. Es gab kleine Läden, Restaurants, Wohnungen, Büros... allerdings waren nur zum Teil Menschen auf den Straßen unterwegs. Es flatterten Elfen umher, die Finn mir alle im Vorbeigehen vorstellte: „Das da vorne ist Max. Netter Kerl. Ah und da kommt Mary. Sie hat mit mir zusammen die Ausbildung gemacht. Oh, das ist Carl“, er unterbrach seinen Redeschwall und schwirrte um mich herum, sodass ich ihn von den Blicken des anderen Elfen abschirmte, und antwortete auf meinen verwunderten Blick, „dem schulde ich noch Geld. Lange Geschichte.“
Aber auch sonst war die Stadt von den merkwürdigsten Wesen bevölkert. Ich sah Riesen, Zwerge, weitere Zentauren und sogar einen Mann mit einem Falkenkopf.
Nach einer Weile stellte ich fest, dass mein Magen knurrte. Da es bei unserem Aufbruch Nacht gewesen war, als wir in „Mandoria“ ankamen aber schlagartig Mittag, wusste ich nicht genau, wie viel Zeit vergangen war. Jedenfalls hatte ich ziemlich lange nichts gegessen. Ich fand, wenn Finn mich schon hierher entführt hatte, sollte er wenigstens dafür sorgen, dass ich nicht verhungerte. Also wandte ich mich an ihn: „Kriegt man hier irgendwo was zu essen?“
„Klar, wir sind hier in der Hauptstadt! Was willst du essen?“
„Ähm, keine Ahnung. Was gibt’s hier denn so?“
Finn zeigte auf ein kleines, mit einer blau-weiß gestreiften Markise überspanntes Haus: „Wie wär’s mit einem Sandwich?“
„Einem Sandwich?“, irgendwie hatte ich nicht erwartet, dass in dieser Stadt Sandwiches verkauft würden, „Klar, gerne!“
In dem kleinen Restaurant befanden sich eine saubere Theke und einige Steh- und Sitztische. Es hätte ganz normal ausgesehen, wenn sich an dem einzigen besetzten Tisch nicht zwei Frauen unterhalten hätten, deren Haut blassgrün schimmerte, genau wie ihre langen Kleider, und in deren Haare Blätter und Zweige geflochten waren.
Der Mann hinter dem Tresen schien allerdings durch und durch menschlich zu sein. „Morgen“, grüßte er und wischte sich die Hände ab, „Bitte?“
Finn deutete auf die mit Schildchen beschrifteten Sandwiches, die hinter einer Glasscheibe zu sehen waren. Neben merkwürdigen Zutaten wie „Nektar“ oder „blutigem Steak“ gab es auch Sorten, die man in der Schulcafèteria kaufen könnte. Ich bestellte ein Putensandwich und Finn ein vegetarisches. Dann reichte er dem Verkäufer einige Münzen.
„Du musst nicht für mich bezahlen“, wehrte ich ab.
Er grinste. „Doch muss ich, du hast kein Geld. Jedenfalls kein mandorisches.“
„Okay“, mir fiel ein, dass ich auch kein anderes Geld hatte, weil ich absolut nichts aus dem Internat mitgenommen hatte, „...Danke.“
„Passt schon“, meinte er gönnerhaft, flatterte vor mir aus der Tür, biss in sein Miniatursandwich und fügte mit vollem Mund hinzu: „Beeilen wir uns. Zalador müsste im Palast sein. Das ist noch ein gutes Stück Weg.“ Er deutete auf das riesige Gebäude mit der Glaskuppel, das über allen anderen Häusern aufragte. Da gingen wir also hin?
„Also dieser... Zalador“, fragte ich, „der wohnt da drin?“
Finn lachte. „Quatsch! Der König wohnt im Palast. Zalador ist nur ein Zauberer... ‚Nur’ natürlich in Anführungsstrichen. Deshalb hat er auch so einen merkwürdigen Namen. Wenn jemand mit magischem Talent seine Ausbildung zum Zauberer beginnt, legt er seinen Namen ab und nimmt den Vornamen eines der ersten Zauberer an. Einen Nachnamen braucht er nicht. So viele Zauberer gibt es nämlich nicht... In der Königsfamilie ist das genauso. Alle haben Namen des ersten Königsgeschlechtes von Mandoria“, er hielt inne, als er meinen verwirrten Gesichtsausdruck sah, „Naja, wie auch immer. Jedenfalls ist Zalador nicht der König.“
„Also was macht er dann da oben?“
„Der König braucht ihn bezüglich einiger derzeitiger... Ereignisse als Berater.“
„Aha...“, es war klar, dass er dazu nichts weiter sagen wollte, also wechselte ich das Thema, „das Sandwich ist super. Aber gibt es wirklich Leute, die Sandwiches mit blutigen Steaks bestellen?“
Finn zählte an seinen Fingern ab: „Vampire, Werwölfe, manche Mischwesen... ne ganze Menge um ehrlich zu sein.“
Ich schluckte, „Und du bist sicher, dass du mir nicht erklären willst, wo ich hier bin?“
„Absolut“, meinte er vergnügt, „Ich liefere dich bei Zalador ab und damit ist mein Auftrag erledigt.“
„Finn!“, dröhnte eine Stimme, „Was für eine Überraschung!“ Finn fuhr herum und lächelte gequält, als er einen dicken Elfen mit Schnurrbart entdeckte. „Barry. Was machst du denn hier?“
„Ich wurde befördert“, polterte Barry, „Sitze jetzt hier in der Hauptstadt. Einer der Leiter der MKZ. Zuständig für das Gebiet Antera.“
Finn nickte höflich: „Das ist toll für dich.“
Ich sagte nichts. Da mich der dicke Elf geflissentlich ignorierte, hatte ich keine besondere Lust am Gespräch teilzunehmen. Stattdessen starrte ich zu der vergoldeten Glaskuppel des Palastes hinauf, auf den die breite Straße, an der wir standen, zulief und spielte gedankenverloren mit dem Amulett, das Finn mir gegeben hatte.
Plötzlich keuchte Barry auf, riss die Augen auf und seine Mütze vom Kopf. Einen peinlichen Moment lang dachte ich, er würde meine Brust anstarren, aber dann begriff ich, dass es das Amulett war, das ihn so faszinierte. ‚Einer der mächtigsten Gegenstände die existieren. Oder je existiert haben’, hatte Finn gesagt. Ich ließ den Anhänger los, als hätte ich mich schon wieder an ihm verbrannt.
„Ist das...?“, japste der Elf. „Genau das“, meinte Finn mit plötzlich stolzgeschwellter Brust, „und ich bin ihre Eskorte. Du wirst also verstehen, dass wir leider nicht viel Zeit haben.“ Der Elf nickte heftig und flatterte davon, wobei er immer wieder über die Schulter zurücksah.
„Mein Cousin Barry“, erklärte Finn und flog weiter in Richtung Palast, „nerviger Angeber. Du hast ihn ganz schön geschockt.“ Er grinste. „Aber jetzt steck das lieber weg“, er deutete auf das Amulett und ich ließ es unter meinem T-Shirt verschwinden.
Schließlich standen wir vor dem Palast. „Okay, ich werde Zalador holen“, meinte Finn, „Warte hier einen Moment.“ Er schwirrte auf das vergoldete Tor zu, dass sich von selbst vor ihm öffnete und hinter ihm wieder schloss.
So plötzlich alleingelassen ließ ich mich auf den Marmorstufen nieder und lehnte mich gegen eine Säule. Mir schwirrte der Kopf, aber ich war mir nicht sicher ob ich krank war oder ob das an der Verwirrung lag. Vielleicht war ich wirklich krank. Vielleicht hatte ich mir das alles im Fieberwahn zusammengeträumt und würde am nächsten Morgen im Krankenflügel des Internates aufwachen. Anderseits bezweifelte ich, dass mein fieberkrankes Gehirn so viel Fantasie hätte.
Ich hob den Kopf, aber als ein Mann mit Ziegenbeinen vor mir die Straße entlangspazierte, schloss ich lieber wieder die Augen. Einen Moment versuchte ich den Lärm der Stadt auszublenden und den kühlen Marmor der Säule an meiner Wange zu fühlen. Aber plötzlich ertönte hinter mir ein ohrenbetäubendes Krachen und Scheppern. Ich fuhr herum. Der Krach kam aus dem Inneren des Palastes. Ich erstarrte vor Schreck, als das riesige goldene Tor mit einem Knall aus den Angeln gestoßen wurde und ein schlangenartiger, über fünf Meter langer, schwarzer Drache daraus hervorstieß. Ich registrierte noch, dass er etwas Glitzerndes in den Klauen hielt, bevor ich mich reflexartig auf den Boden warf und das Monster über mich hinwegzischte. Bevor ich wieder auf die Beine kam, schoss etwas Goldenes an mir vorbei und warf sich auf den Drachen.
Ich sprang auf und rannte, versteckte mich hinter einer Säule. Mein Herz raste. Das konnte nicht wahr sein. Das Ungeheuer war das gleiche, das Nacht für Nacht in meinen Albträumen erschienen war.
Ich atmete tief und spähte hinter der Säule hervor. Ein großer Löwe war auf den Kopf des Drachen zugesprungen. Er grub seine Zähne in den Hals des Ungeheuers, das aufbrüllte und versuchte ihn abzuschütteln.
Eine ältere Frau stürzte über die Straße in eines der Hochhäuser und knallte die Tür hinter sich zu. In anderen Häusern, die den kleinen Platz vor dem Palast umgaben, wurden Fensterläden zugeschlagen. Ich schob mich um die Säule herum, um versteckt zu bleiben, als der Drache den Kopf zur Seite riss und der Löwe wenige Meter von mir entfernt mit einem hässlichen Knirschen auf die Marmorstufen geschleudert wurde. Ich biss die Zähne zusammen, um nicht laut zu schreien.
Auf einmal wurde das schon halb aus den Angeln hängende Palasttor mit lautem Quietschen aufgestoßen und ein schwarzhaariges Mädchen mit einem weißen Top, Camoshorts und einem Pferdeschwanz, aus dem sich einige Strähnen gelöst hatten, stürmte auf den Platz, gefolgt von einem Wolf, der die Ohren angelegt und die Zähne gebleckt hatte. Das Mädchen rannte geradewegs auf den schwarzen Drachen zu. Ich wollte schreien, sie solle weglaufen und sich verstecken, aber ich brachte kein Wort zustande. Meine Kehle war wie zugeschnürt.
Das Mädchen streckte die Hand aus und der Drache wurde wie von einer heftigen Windböe gegen eine Hauswand gestoßen. Wütend entblößte er seine Fangzähne, aber schon sprang der Wolf hervor und stürzte sich knurrend auf ihn.
Ich warf einen Blick auf den Löwen, der das Kampfgeschehen beobachtete und mühsam versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Eines seiner Vorderbeine schien verletzt zu sein. Es knickte immer wieder unter ihm weg.
Der Wolf griff erneut an und schnappte nach dem glitzernden Gegenstand, den das Monster fest in seinen Klauen hielt, aber als es den mächtigen Schwanz schwenkte, zog er sich mit gesträubtem Fell ein Stück zurück. Der Drache erhob sich in die Luft, brüllte triumphierend und stieß Rauch aus seinen Nüstern. Verzweifelt stemmte sich der Löwe auf die Beine. Als der Drache das Maul öffnete und eine Feuersäule auf den Wolf und das Mädchen spie, sprang der Löwe und warf sich dem Feuer in den Weg. Ich sah, wie die Flammen sein goldenes Fell auflodern ließen. Eine enorme Hitzewelle schlug mir entgegen und ich zog den Kopf zurück und lehnte mich mit dem Rücken an die Säule.
Mein Herz bebte in meiner Brust. Der Löwe war verbrannt. Tot. Die beiden anderen wohl auch. Das Mädchen war gestorben. Ich hatte gerade mit angesehen, wie ein Mensch gestorben war. Ich spürte, wie kühlende Tränen an meinen Wangen hinunterliefen, wahrscheinlich noch mehr aus Verwirrung als aus Trauer. „Wach auf!“, flehte ich mich selbst an, „Bitte, wach jetzt auf!“ Aber auch, wenn ich es nicht glauben wollte, wusste ich, dass es kein Traum war. Vielleicht war alles andere ein Traum, was ich bisher für wahr gehalten hatte. Das Internat, die Sommerferien in den Bergen. Aber das hier war real. Es war wirklich passiert. Sie alle drei mussten tot sein.
Das Tor des Palastes wurde erneut aufgestoßen und ein alter Mann mit wehendem, schlohweißem Bart und einer hellen Kutte blieb auf der obersten Stufe stehen. In seinem Gesichtsausdruck spiegelten sich Wut und Angst, aber merkwürdigerweise auch Erleichterung und über seiner Schulter flatterte... „Finn!“, stieß ich leise hervor. Aus irgendeinem Grund war ich so erleichtert, ein bekanntes Gesicht zu sehen, dass ich erneut zu weinen begann.
Ein Husten ertönte. Überrascht spähte ich um die Marmorsäule herum und traute meinen Augen nicht. Das schwarzhaarige Mädchen kniete auf dem Pflasterboden. Sie schien völlig unversehrt, nur ihr Gesicht wirkte erschöpft und entsetzt. Sie atmete sehr schnell und strich sich die Haare aus der Stirn.
Der schwarze Drache war spurlos verschwunden. Der Löwe und der Wolf ebenso. Stattdessen waren dort zwei Jungen, ein oder zwei Jahre älter als ich. Irgendein Teil meines Gehirns, der hinter den Bereichen „Angst“ und „Verwirrung“ weit zurückstecken musste, meldete, dass sie beide sehr gut aussahen. Allerdings hätten sie ansonsten kaum unterschiedlicher sein können.
Einer der beiden hatte kurze, zerzauste blonde Haare, gebräunte Haut und blaugrüne Augen, die an das türkisfarbene Meer erinnerten, mit dem Reisekataloge für irgendwelche Inselparadiese werben. Er trug Jeans und ein schlichtes weißes Shirt. Um seinen Hals baumelte ein goldenes Amulett, in das ein roter Stein eingelassen war. Meine Hand fuhr automatisch zu dem Amulett um meinen Hals. Auch die beiden anderen trugen ein Amulett, aber ihre waren aus Silber, genau wie meins. Der andere Junge trug trotz der sommerlichen Temperaturen eine schwarze Lederjacke. Er war blass und hatte etwas längere schwarze Haare und dunkle, fast ebenfalls schwarze Augen. Sie waren kaum mehr als einen Meter von der Säule entfernt, hinter der ich stand, aber irgendwie war ich wie versteinert und wagte es nicht hervorzukommen.
„Wie ist das passiert?“, rief der alte Mann aufgebracht und überquerte den Platz mit wenigen weiten Schritten, „Habt ihr...?“
Der blonde Junge rappelte sich auf: „Zalador! Es macht keinen Sinn. Er kann nirgendwo reingekommen sein. Bist du sicher, dass du das Zimmer richtig abgeschirmt hast?“ Der Alte, der offenbar der Zalador war, von dem Finn erzählt hatte, winkte ab: „Daran liegt es nicht.“
Auch die anderen beiden erhoben sich. Der dunkelhaarige Junge klopfte sich mit gerunzelter Stirn den Staub von der Hose. „Wir hatten keine Chance gegen Varos“, erklärte das Mädchen, „Er hätte Aaron und mich fast umgebracht.“
Zalador stampfte wütend mit seinem Stock auf dem Boden auf.
„Verdammt“, zischte das Mädchen frustriert, „Was machen wir jetzt?“ Der Zauberer schüttelte den Kopf. „Alles Weitere muss der König entscheiden“, meinte er resigniert, „Ist jemand verletzt?“
„Nichts“, meinte der dunkelhaarige Junge. Auch das Mädchen schüttelte den Kopf. „Mein Arm“, sagte der andere Junge und verzog ein wenig das Gesicht, als er den rechten Arm anhob, der aufgeschürft und blutig war, „Wahrscheinlich gebrochen.“
Wie bitte? Ich hatte mir in der Grundschule mal das Bein gebrochen und das hatte sich ungefähr so angefühlt, als ob bei jeder Bewegung ein Messer in mein Bein gerammt würde. Ich hatte den ganzen Weg zum Krankenhaus geheult, aber der Junge verzog kaum das Gesicht.
„In Ordnung“, sagte Zalador, offenbar um Beherrschung bemüht, „Wir müssen dem König Meldung machen.“
„Ähm“, Finn räusperte sich und murmelte dem Zauberer etwas zu. „Natürlich!“, Zalador sah sich um, „Wo ist sie denn?“
„Wer?“, fragte das Mädchen, „Meinst du...?“
„Emily“, rief Finn und sah sich ein wenig besorgt um.
Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass ich gemeint war. Als ich hinter der Säule hervorkam, richteten sich sofort alle Blicke auf mich. „Äh... hi“, sagte ich leise. Ich hasste es, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen.
Finn flatterte zu mir hinüber. „Das ist Emily Morgan“, verkündete er und warf den anderen einen bedeutungsvollen Blick zu.