Читать книгу Mandoria - Die zwölf Amulette - Maria Meyer - Страница 6
3.
Оглавление„Hi“, das Mädchen lächelte freundlich und schüttelte mir die Hand, „Ich bin Lucy.“ Aus der Nähe konnte man erkennen, dass sie helle, blaue Augen und ein paar Sommersprossen hatte. „Sam“, stellte sich der blonde Junge vor. Er wollte mir die Hand schütteln, aber da sein verletzter Arm offenbar rebellierte, gab er mir die linke Hand und lächelte etwas entschuldigend. „Das ist Aaron“, fügte er mit einem Nicken in Richtung des anderen Jungen hinzu. Ich wollte auch ihm die Hand geben, tat aber schnell so als wolle ich mir nur die Haare aus dem Gesicht streichen, denn Aaron ließ beide Hände in den Hosentaschen und nickte nur.
Nachdem Zalador und Finn einen weiteren bedeutungsschweren Blick getauscht hatten, meinte der alte Zauberer: „Eine Schande, dass deine Ankunft durch solch ein Ereignis überschattet wird. Sicher bist du ziemlich verwirrt. Du wirst dich nur noch ein kleines bisschen gedulden müssen, dann werde ich mich bemühen, dir alles zu erklären.“
Zalador bedankte sich bei Finn für die Erfüllung seines Auftrags. Der Elf verkündete, er würde dem König Bericht erstatten und dann jemanden holen, um das verbogene Tor zu reparieren, und verschwand, scheinbar sehr zufrieden mit sich, im Gedränge auf der breiten Hauptstraße.
„Ich geh mit Phalon trainieren“, meinte Aaron. „Was, jetzt?“, Lucy sah ihn an, als wäre er verrückt geworden. „Hast du ’ne bessere Idee?“, ohne eine Antwort abzuwarten, schob er sich an einer Kutsche vorbei und war nicht mehr zu sehen.
„Ist das zu fassen?“, Lucy schnappte empört nach Luft. Sam zuckte die Achseln, „Du kennst ihn. Und wir können erst mal sowieso nichts machen.“
„Doch, wir müssen uns um deinen Arm kümmern“, meinte Zalador, der in den Taschen seiner Kutte herumwühlte, „und zwar schnell, wie gerade du weißt, betäubt das Amulett den Schmerz nicht ewig, und ich habe auch keine Schmerzmittel dabei.“ Sam nickte und versuchte vorsichtig seinen Arm hin und her zu drehen. „Lass das“, befahl der Zauberer, „du machst es nur noch schlimmer.“ Dann sagte er an mich gewandt: „Du solltest am besten mitkommen. Ich muss mit dir reden.“
Da mir nicht wirklich eine andere Wahl blieb, folgte ich Ihnen.
Zalador und Sam begannen eine Diskussion, bei der ich nicht einmal die Hälfte verstand, daher war ich dankbar, als Lucy sich zurückfallen ließ und neben mir herging.
Sie betrachtete mich eine Weile neugierig von der Seite, dann strich sie sich eine Strähne, die sich aus dem Pferdeschwanz gelöst hatte, aus dem Gesicht und fragte: „Und du kommst wirklich aus der neuen Welt?“ Ich blinzelte, „Was? Aus der neuen Welt? ...meinst du Amerika?“ Jetzt schien sie ebenfalls verwirrt zu sein. „Ameri-was?“ „Amerika.“ War es möglich, dass sie nicht wusste, was Amerika war? „Aber da komme ich gar nicht her“, fügte ich hinzu.
„Aha“, meinte Lucy, jetzt offenbar völlig verwirrt. Sie beschleunigte ein bisschen, sodass wir neben Zalador und Sam hergingen, und flüsterte Sam etwas zu, als sie glaubte, dass ich nicht hinsah. Der zuckte nur mit den Achseln. Ich musste lächeln. Ich hatte den starken Verdacht, dass sie ihn gefragt hatte, wer oder was Amerika war.
Eine Weile gingen Lucy und ich schweigend nebeneinander her, während Zalador mit gedämpfter Stimme auf Sam einredete. Ich suchte nach einem Thema, das vielleicht für ein sinnvolleres Gespräch sorgen würde als Amerika. Lucy spielte mit ihrem Amulett herum. Es kam mir irgendwie komisch vor, dass Lucy und Sam auch eines besaßen. Finn hatte gesagt, dass mein Amulett unglaublich mächtig war und sein dicker Cousin Barry hatte fast hyperventiliert. Vielleicht trugen alle Menschen hier so etwas und es war nur für die Elfen etwas Besonderes.
„Wie viele von diesen Amuletten gibt es eigentlich?“, fragte ich Lucy und deutete auf ihren Anhänger, den ein heller blauer Stein schmückte.
Sie sah mich überrascht an. „Du weißt nicht, was die Amulette sind?“ „Naja“, ich kam mir ziemlich dämlich vor und war deswegen gleich darauf wütend auf mich selbst. Woher sollte ich auch all diesen Kram wissen, wenn mir hier niemand etwas erklärte? Andererseits wirkte Lucy wirklich nett und schien ehrlich überrascht zu sein, dass ich so wenig Ahnung hatte.
„Eigentlich meinte ich, wie viele es sind... aber was sie sind, weiß ich auch nicht, um ehrlich zu sein.“ Sie blinzelte und versuchte anscheinend, nicht allzu erstaunt auszusehen. „Also es gibt zwölf Amulette“, erklärte sie. „Dieses hier ist das Amulett des Himmels.“ Sie zeigte mir ihren Anhänger. Ein paar winzige weiße Wolken zogen über die Oberfläche des blauen Steines. Ich war mir nicht ganz sicher, ob es Spiegelungen der wenigen echten Wolken am Himmel waren. Einen Moment starrte ich das Amulett fasziniert an. „Jedes Amulett steht für ein Element der Natur“, fuhr Lucy fort. „Naja, sie stehen nicht nur dafür. Sie sind aus den Steinen selbst gemacht, weißt du?“
Sie lächelte nervös, als sie meinen verständnislosen Gesichtsausdruck sah. „Schon gut, du... weißt nicht was die Steine sind, richtig?“ Ich nickte. „Okay“, sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Das schien eine Art Angewohnheit von ihr zu sein. „Alles, also die ganze Welt – beide Welten, um genau zu sein – wurden von zwölf Edelsteinen erschaffen und existieren nur durch sie.“ Sie kniff die Augen zusammen und zählte an den Fingern ab: „Wasser, Erde, Gestein, Wald, Sonne, Mond, Feuer, Eis, Nacht, Regenbogen, Himmel und am Allerwichtigsten das Leben. Dafür stehen die Edelsteine... oder das sind sie. Es ist schwer zu beschreiben...
Jedenfalls haben die alten Zauberer diese Steine vor Tausenden von Jahren in Silber oder Gold gefasst und damit die zwölf Amulette geschmiedet“, ein wenig amüsiert stellte ich fest, dass sie klang, als würde sie einen Vortrag im Geschichtsunterricht halten, „Sie wollten ihre Macht nutzen können. Aber selbst die Zauberer haben nicht verstanden, wieso das nicht ganz funktionierte. Die Amulette teilen ihre Macht nicht mit allen Menschen. Ein Amulett wählt einen Menschen, den es für würdig hält und... der ihm ähnlich ist. Solange dieser Mensch lebt, kann niemand anders die Macht des Amuletts nutzen. Nur das Amulett des Lebens kann von jedem Wesen genutzt werden, wenn es ein reines Herz hat. Aber es gehört dem König von Mandoria und wird mit der Herrschaft weitergegeben.“
Sie sah mich zweifelnd an. „War das so halbwegs verständlich? Ich kann so was nicht wirklich gut erklären.“
Ich nickte schnell. Ich musste das alles zwar erst mal verarbeiten, aber immerhin hatte ich sie im Großen und Ganzen verstanden, „Nein, ich meine doch, also danke. Bisher hat sich niemand hier so richtig die Mühe gemacht mir irgendwas zu erklären.“ Sie lächelte ein wenig mitleidig, „Das muss schrecklich für dich sein. Ich meine du... hast nicht einmal die Gelegenheit bekommen zu verstehen, worum es hier geht, oder?“
„Mmmh“, ich betrachtete den Anhänger meines Amuletts und ließ mir durch den Kopf gehen was Lucy gesagt hatte. „Kann ich dich noch was fragen?“, sagte ich auf die Gefahr hin sie zu Tode zu nerven. Zum Glück lächelte sie. „Klar.“ „Also die Amulette sind alle irgendwie...“, mir fiel kein passendes Wort ein, „...Naturmächte. Aber wieso gibt es ein Regenbogenamulett? Ich meine, der Regenbogen hat doch keine richtige Bedeutung wie... Sonne oder Wasser. Wenn es ihn nicht gäbe, würde das doch kaum einen Unterschied machen.“
Lucy schüttelte den Kopf: „Das ist nur das, was du vom Regenbogen siehst. Es kommt bei allen Elementen nicht nur auf die Erscheinung an, sondern auf die Macht die hinter ihnen steht – so drückt Zalador das jedenfalls immer aus.“
„Aha“, das sagte mir jetzt absolut gar nichts, aber ich wollte nicht noch dümmer dastehen als bisher schon.
Zalador und Sam blieben vor uns stehen. Ich hatte kaum gemerkt, wo wir langgegangen waren. Jedenfalls standen wir nun vor einem hohen, etwas altmodisch verzierten Metallzaun. Dahinter lag eine Art Park, zwischen den Bäumen blitzten zwei große Häuser hervor, die wie alle Häuser der Stadt aus weißem Marmor gebaut waren, aber viel prächtiger verziert waren, als diese – vom Palast natürlich abgesehen. Das Anwesen lag ganz am Stadtrand. Auf der anderen Seite erstreckte sich ein Wald.
Merkwürdigerweise hatte das Tor keine Klinke, aber als Zalador die Hand auf das Schloss legte, schwang es ganz von alleine auf. Der alte Zauberer ging den Kiesweg mit großen, schnellen Schritten entlang, wir anderen hatten Mühe ihm zu folgen. Schließlich kamen wir auf einem großen Platz an, der ebenfalls mit Kies bestreut war. Rechts und links erhoben sich die beiden prächtigen weißen Häuser, fast wie Miniaturen des Palastes. Auf der uns gegenüber liegenden Seite des Platzes stand eine kleine etwas windschiefe Holzhütte, die den ganzen Eindruck eines vornehmen Anwesens irgendwie ruinierte.
Auf genau diese Hütte steuerte Zalador zu, öffnete die Tür mit einem Fingerschnipsen, schob erst Sam, der inzwischen ein wenig blass war, und dann mich hinein und rief über die Schulter: „Lucy, könntest du bitte den Ratsmitgliedern eine Nachricht schicken? Ich erbitte eine Versammlung morgen Abend. Wegen... beider Probleme.“
Ich hörte, wie sich Lucys Schritte auf dem Kies entfernten und sah mich in der Hütte um. Sie war genau so klein, wie sie von außen erschien. Der größte Teil des Raumes wurde von einem Holztisch eingenommen, um den herum drei Stühle standen. Es gab eine Feuerstelle, über der ein Kessel hing, und die Wände waren voll von Regalen, in denen diverse Gläser und Gefäße standen. An der Decke und selbst an den beiden Türen hingen getrocknete Kräuter, die einen würzigen Duft verströmten. Bett und Schrank waren ganz an eine Wand gequetscht. Es sah genauso aus, wie man sich das Zuhause eines Zauberers im Märchen vorstellen würde. Nur, dass natürlich niemand, der über so etwas nachdachte, erwartete, wirklich einmal in so einer Hütte zu stehen.
„Setzt euch!“, Zalador zog die Tür hinter sich ins Schloss, öffnete ein Fenster und klatschte in die Hände, woraufhin ein Feuer unter dem Kessel aufflammte. „Aah!“, ich erschrak und stieß rückwärts gegen den Tisch. Sam, der inzwischen auf einem Stuhl Platz genommen hatte, grinste spöttisch: „Hast du noch nie einen Zauberer gesehen?“ „Ehrlich gesagt: Nein!“, fauchte ich, noch aggressiv wegen des Schocks, und ließ mich, ein wenig rot im Gesicht, auf einen Stuhl fallen. „Schon gut, schon gut! Aaah, verdammt!“, Sam hob abwehrend die Hände, aber sein gebrochener Arm gehorchte ihm nicht richtig. „Hast du jetzt was für mich?“, fragte er Zalador, der mit einer Hand im Kessel rührte und die Kräuter an der Eingangstür mit zusammengekniffenen Augen betrachtete. „Sofort, sofort“, murmelte er. „Ich brauche nur noch Arnika. Wenn ich mir nur angewöhnen könnte, hier drin ein bisschen Ordnung zu halten. Ach, wartet einen Moment. Draußen müssten noch ein paar...“, ohne den Satz zu beenden, trat er aus der Hütte hinaus und zog die Tür hinter sich zu.
Sam seufzte, machte es sich auf seinem Stuhl bequem und musterte mich neugierig. Die tanzenden Flammen im Kamin warfen einen goldenen Schimmer auf sein Gesicht, sodass das Blaugrün seiner Augen besonders hervortrat. Es war mir peinlich, ihn einfach nur schweigend anzusehen, vor allem nachdem ich ihn eben so angefahren hatte, also lächelte ich ein wenig entschuldigend und senkte den Blick auf die Tischplatte. Trotzdem konnte ich sehen, dass er amüsiert zurücklächelte. „Du heißt also Emily... und weiter?“ Eigentlich ging ihn das zwar nichts an, aber ich antwortete trotzdem: „Emily Morgan.“ Er nickte, „Und du bist echt aus der neuen Welt?“ Die gleiche Frage hatte mir Lucy auch gestellt und da hatte ich sie genau so wenig verstanden. Zum Glück blieb mir eine Antwort erspart, da Zalador, der inzwischen offenbar sein Annika-Kraut – oder wie das auch hieß – gefunden hatte, wieder hereinkam, auf einige gläserne Schalen in einem Regal deutete und sagte: „Gebt mir mal bitte eine davon.“ Ich reichte ihm eine Schale und er rührte ein letztes Mal im Kessel herum, murmelte Beschwörungen und füllte eine Kelle grünlicher Flüssigkeit, die Ähnlichkeit mit Tee hatte, in die Glasschale.
„Hier“, er reichte sie Sam, der angewidert daran roch. „Ich hasse dieses Zeug.“ „Du kannst natürlich auch warten, bis der Arm von alleine wieder zusammenwächst, höchstwahrscheinlich auch noch schief“, meinte der Zauberer achselzuckend und begann den Rest des Trankes in Flaschen zu füllen.
Sam verdrehte die Augen und trank die Schale in einem Zug aus. Dann verzog er das Gesicht, schob das Gefäß von sich und bewegte ein paar Mal probeweise den Arm hin und her. Erstaunt stellte ich fest, dass auch die äußeren Verletzungen fast völlig verheilt waren.
„Perfekt“, Sam stand auf, „Danke.“ Er knallte die Tür hinter sich zu und ich sah ihn durch das offene Fenster über den Platz joggen und in einer der beiden Villen verschwinden.
Ich atmete tief durch und stellte ein wenig überrascht fest, dass Sams Anwesenheit eine gewisse Anspannung bei mir ausgelöst hatte.
Zalador sah aus dem Fenster, schüttelte schmunzelnd den Kopf und erinnerte mich dabei plötzlich an einen freundlichen Großvater. Dieser Eindruck wurde aber gleich darauf zunichte gemacht, als er die Feuerstelle mit gebieterischer Miene ansah und erneut in die Hände klatschte, sodass das Feuer erstarb. Dann ließ er sich mir gegenüber auf einem Stuhl nieder.
„Es tut mir Leid, dass das alles für dich so überstürzt kommt, aber wir befinden uns in einer Notsituation.“ Ein weiteres Mal hatte ich keine Ahnung, wovon er sprach. „Finn durfte keine Zeit verlieren, um dir irgendetwas zu erklären. Und nun ist leider eingetreten, was wir befürchtet haben.“
Ich spürte, wie meine Verwirrung sich in Wut verwandelte und in mir hochkochte. Finn hatte gesagt, dieser Mann würde mir erklären, was das alles zu bedeuten hatte. Warum ich mitten in der Nacht in eine Stadt gebracht worden war, in der lauter verrückte Wesen herumliefen, die überhaupt nicht existieren dürften, warum ich beinahe von einem Drachen getötet worden wäre und warum ich angeblich eine Art Naturgewalt um den Hals trug, auch wenn ich nicht verstand, warum der Regebogen eine sein sollte. Stattdessen redete er genauso rätselhaft wie alle anderen vor sich hin und erwartete, dass ich ihn verstand.
„Vielleicht könnten sie mir erst mal erklären, wo ich hier bin. Und warum!“, sagte ich, vielleicht ein wenig zu aggressiv, aber Zalador seufzte nur. „Natürlich, du hast jedes Recht wütend zu sein. Es wird eine Weile dauern, aber ich werde versuchen, dir alles zu erklären, was du wissen musst, in Ordnung?“
„Gut“, ich schämte mich ein wenig dafür, dass ich ihn so angefahren hatte und fragte betont höflich: „Könnten sie mir sagen, wo wir hier sind?“
„Also, wie Finn dir sicher schon gesagt hat, sind wir in Mandoria“, antwortete Zalador. Ich nickte, „Ja. Soviel hab ich verstanden. Aber was genau ist Mandoria?“
Seine Augen schienen einen Punkt hinter meinem Kopf zu fixieren. „Zu Anbeginn der Zeiten“, begann er, „gab es nur eine Welt: Mandoria. Menschen, Tiere, Zwerge, Riesen, Elfen... alle lebten halbwegs friedlich zusammen. Zwölf Edelsteine waren und sind der Ursprung dieser Welt. Ohne sie gäbe es kein Wasser, keine Erde, keine Sonne, keinen Mond... und nicht zuletzt kein Leben. Es gäbe nichts.“
Meine Hand fuhr wie von selbst zu dem Anhänger um meinen Hals. Zalador lächelte, „Richtig. Das ist einer dieser Steine. Die alten Zauberer haben aus ihnen die zwölf Amulette geschmiedet. Dieses hier“, er deutete auf den Anhänger in meiner Hand, „ist das Regenbogenamulett.“
Ich nickte, „Das hat Lucy mir erklärt. Nur manche Menschen können die Amulette benutzen, oder? Bis auf das Amulett des Lebens.“
„Ja. Genau genommen, wählt jedes Amulett nur eine einzige Person“, antwortete er. „Aber heißt das,... dass das Amulett denken kann?“, fragte ich verwundert. Er blinzelte verwirrt, als hätte ich ihn aus einer Art Trance gerissen. „Nun, ich weiß nicht, ob es denken kann, aber das spielt doch gar keine Rolle. Viel wichtiger ist, dass es fühlen kann.“ Ich runzelte verwirrt die Stirn, hielt aber den Mund. Ich wollte mehr erfahren.
„Aber du hast Recht, das Amulett des Lebens, das mächtigste der Amulette, lässt sich von jedem benutzen, der ein reines Herz hat. Die Zauberer haben es damals einem jungen Mann übergeben, den sie zum König ernannten. Er sollte die vielen kleinen Bürgerkriege beenden und Mandoria einigen. Aber obwohl er ein guter und gerechter König war, gab es Neider. Einige Menschen zettelten einen Aufstand an und kämpften gegen die Armee des Königs, um das Amulett des Lebens zu erbeuten. Doch sie hatten keine Chance. Als sie merkten, dass die Schlacht verloren war, ergaben sie sich. Der König zeigte sich gnädig. Zusammen mit den anderen Amulettträgern und den Zauberern erschuf er eine neue Welt, die man nur durch Magie betreten oder verlassen kann. Weil er wusste, dass die Menschen dort allein nicht überleben konnten, ließ er einige Tierarten auswählen, die den Menschen in die neue Welt folgten. Sie wurden durch Magie zusammengetrieben und in die neue Welt versetzt. Der König wählte auch die Tiere, die den Amulettträgern zugeordnet sind, damit sie hier nicht ausgerottet wurden. Viele Leute begannen damals nämlich, die Tiere der Amulettträger als wertvoll anzusehen und Jagd auf sie zu machen, um zum Beispiel ihr Fell als Trophäen zu behalten.“ Der alte Mann schüttelte angewidert den Kopf. „So wurden sie jedenfalls gerettet und verschwanden aus Mandoria. Du wirst außer Aaron und Sam bestimmt schon mal einen Wolf oder einen Löwen gesehen haben. Sie sind jetzt die einzigen hier, aber in der neuen Welt gibt es viele...“
„Moment!“, unterbrach ich ihn ungläubig, „Die neue Welt... Heißt das, dass die Welt, in der ich lebe, durch Magie erschaffen wurde?“ Er nickte. „So ist es. Die Menschen waren dankbar für die neue Welt, die sie nach ihren eigenen Gesetzen regieren konnten. Aber was sie in Mandoria erlebt hatten, geriet nicht in Vergessenheit. Sie erzählten es ihren Kindern und Enkeln und irgendwann entstanden Sagen und Mythen. Viele Bewohner von Mandoria, auch Tierarten, die damals nicht in die neue Welt geschickt wurden, tauchen darin auf. Du kennst vielleicht griechische Sagen. Zentauren, Satyrn, Chimären, Pegasi sind nicht etwa Hirngespinste. Genau so wenig wie zum Beispiel Anubi, Menschen mit Schakalkopf, aus den ägyptischen Sagen oder die Drachen, Riesen und Zwerge, die in den Sagen der Deutschen und der Wikinger auftauchen.
Vieles wurde auch im Lauf der Jahre dazu gedichtet oder abgeändert, sodass sich die Mythen der einzelnen Kulturen ziemlich stark voneinander unterscheiden. Eines aber hat keine Kultur der neuen Welt vergessen: Die Amulette.“
Er sah mich an, als ob er darauf wartete, dass ich mich an die vielen Sagen erinnerte, die ich sicher schon über die Amulette gehört hatte. Leider war ich überfordert. Ich hatte solche Sagen und Mythen zwar schon immer interessant gefunden und kannte auch alle Wesen, die er eben aufgezählt hatte, aber von Amuletten hatte ich noch nie etwas gehört. „Nein “, sagte ich, „ich kenne gar keine Sagen in denen die vorkommen.“ „Oh doch, die kennst du, da bin ich mir sicher“, antwortete er schmunzelnd. „Du kennst bestimmt die Götter der Griechen oder der Ägypter?“ Ich nickte, „Klar.“
„Nun, du hast ja Sam schon kennengelernt. Er ist der Träger des Sonnenamulettes. An ihn, oder besser gesagt an einen seiner Vorgänger erinnern sich die Griechen als Apollo, die Ägypter als Ra. Aaron trägt das Amulett der Nacht, also verkörpert er zum Beispiel Seth oder Hades. Auch du wirst in den Sagen erwähnt. Du kennst sicher die griechische Regenbogengöttin Iris.“
Ich begann, ihn zu verstehen. „Ja... aber warum ist Iris denn so wichtig? Sie ist doch auch in den Sagen nur eine Nebengottheit. Was hat der Regenbogen denn für eine Bedeutung für die Natur... im Vergleich zur Sonne oder so?“
Zalador strich über seinen Bart und erklärte: „Darauf geben dir die Sagen eine Antwort. Was hat Iris denn für eine Bedeutung in der Mythologie?“ Das war einfach. „Sie vermittelt zwischen Göttern und Menschen und ist Zeus’ Botin.“ Er nickte und fuhr fort: „Bei den Wikingern tragen die Walküren gefallene Helden über den Regenbogen nach Asgard. Der Regenbogen mag auf den ersten Blick nicht wichtig erscheinen, aber es kommt nicht auf seine Erscheinung, sondern auf seine eigentliche Macht an. Er ist eine Brücke. Als Trägerin des Regenbogenamulettes bist du die Verbindung zwischen Leben und Tod, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und zwischen Orten, auch wenn sie noch so weit voneinander entfernt liegen...“
Er musterte mich aus leicht zusammengekniffenen Augen, „Hast du, seit du dich in der Nähe des Amulettes befindest, Visionen gehabt... oder Träume?“ Ich wollte sagen: „Nein, ich glaube sie haben sich die Falsche ausgesucht, ich kann so was nicht.“ Aber plötzlich fielen mir meine Albträume wieder ein. Seit Finn mit dem Amulett in meiner Welt gewesen war, hatte ich im Traum den riesigen schwarzen Drachen gesehen. Die Erinnerung schien mir wieder den Hals zuzuschnüren. Ich nickte stumm.
Zalador sah zufrieden aus. „Deine Macht ist einzigartig und keineswegs bedeutungslos. Wir werden euch alle brauchen, wenn wir das Amulett des Lebens zurückholen wollen. Nur so können wir verhindern, dass Mandoria in totalem Chaos versinkt.“ „Was?“, fragte ich bestürzt. Wenn ich Zalador und Lucy richtig verstanden hatte, war das Amulett des Lebens so ziemlich der mächtigste Gegenstand der existierte. Ein Edelstein, ohne den es kein Leben geben würde, schien jedenfalls schwer zu toppen zu sein. „Wieso zurückholen? Wer hat es gestohlen?“, fragte ich erschrocken
Die Miene des alten Zauberers verdüsterte sich. „Du warst vorhin selbst dabei. Varos hat es aus dem Zimmer des Königs gestohlen.“ Er sah mir ernst in die Augen, „Varos ist ein sonderbares Monster. Vermutlich ein einzigartiges. Nicht nur, dass er, selbst für einen Drachen, unglaublich stark und schnell ist – du hast ihn ja vorhin gesehen – Varos hat auch die Fähigkeit, sich in eine Eidechse zu verwandeln, winzig aber tödlich giftig. Auch wenn Arkaros damals besiegt wurde, ist es niemandem gelungen Varos zu töten.“
„Äh, Entschuldigen sie“, unterbrach ich ihn, „aber wer... ist Arkaros?“
Zalador seufzte schwer. „Arkaros“, sagte er, „ist zur Hälfte ein Zauberer wie ich. Allerdings... nur zur Hälfte. Zur anderen Hälfte ist er ein Dämon. Dämonen sind von Grund auf böse Kreaturen. Sie verbreiten Angst und Schrecken und Verzweiflung, wo sie auch hinkommen... Aber Arkaros war nicht nur ein Dämon, er... hätte sich anders entscheiden können...“, er unterbrach sich, weil er offenbar gemerkt hatte, wie schnell und abgehackt er sprach, als würde ihm jedes Wort Schmerzen verursachen.
Kopfschüttelnd rutschte er in seinem Stuhl zurück und atmete tief. „Arkaros war ein Wahnsinniger“, sagte er dann. „Er wollte Mandoria „reinigen“. Das bedeutete für ihn, sich mit Dämonen und Unterweltlern zu verbünden und so ziemlich alle Kreaturen die in dieser Welt leben abzuschlachten. Er war vollkommen geisteskrank.“
„Und Varos war sein...“, ich war mir nicht sicher, ob es ein Wort dafür gab. ‚Haustier’ schien jedenfalls nicht so ganz zu passen. Allerdings hatte Zalador mich schon verstanden: „Ja, der Drache war sein ständiger Begleiter. Und nun hat er sich offenbar dem nächsten Verrückten angeschlossen.“
„Sie meinen es gibt jemanden, der...?“ Er schnitt mir mit einem Nicken das Wort ab, „Arkaros hat damals das komplette System über den Haufen geworfen und sich selbst zum König ernannt. Das konnte ihm nur gelingen, weil es tatsächlich Menschen gab, die seine verrückten Pläne unterstützten, sodass die Hauptstadt nicht nur von einem Dämonenheer angegriffen, sondern auch von innen infiltriert wurde. Sie waren der Meinung, dass sie mehr wert seien als andere Wesen, dass es besser sei, „schwächere Wesen“ aus dem Weg zu räumen.“
Er schüttelte den Kopf. „Es gibt keine Art, die blinder und egoistischer ist als der Mensch – wobei ich mich natürlich selbst mit einbeziehe, Zauberer sind nichts weiter als Menschen mit magischer Begabung.
Nun jedenfalls gab es damals einen Kampf, eine der schrecklichsten Schlachten, die Mandoria je erlebt hat. Einem anderen Magier gelang es, zu Arkaros vorzudringen. Nur wenige können von diesem Duell berichten und die, die es können, sind sich nicht sicher, was sie gesehen haben. Alle Berichte stimmen aber darin überein, dass Arkaros gestorben ist.“ Ich atmete erleichtert auf und stellte fest, dass ich die Luft angehalten hatte.
Zalador lachte bitter, „Leider sind manche seiner Anhänger trotz allem felsenfest überzeugt, dass er lebt und seine Diktatur, die sie als Goldenes Zeitalter bezeichnen, wieder aufbauen wird. Tatsächlich gelang es ihnen, so viele Menschen zu überzeugen, dass es vor fünfzehn Jahren erneut einen Putsch gab, den der damalige König Grimor aber zurückschlagen konnte.“
Er seufzte, „Nur leider starb König Grimor letztes Jahr. Gemordet von seinem eigenen Sohn.“ Ich sah ihn nur mit großen Augen an, wusste nicht was ich sagen sollte. Der Schmerz in seiner Stimme ließ es vermuten, aber ich traute mich nicht zu fragen, ob der Zauberer den König persönlich gekannt hatte.
„Sebulon hat seinen eigenen Vater erstochen“, fuhr er fort, „Er wollte es aussehen lassen wie einen Unfall, aber ein Elf hat ihn gesehen und Alarm geschlagen. Sebulon musste fliehen, sodass an seiner Stelle sein jüngerer Bruder Ramos den Thron und das Amulett des Lebens übernahm. Man hat schon damals angenommen, dass Sebulon einer von Arkaros Anhängern ist, aber nun, da Varos in seinen Diensten steht, ist wohl jeder Zweifel ausgeräumt.“
So langsam dämmerte es mir. „Er hat das Amulett des Lebens gestohlen... also ist er jetzt... sozusagen allmächtig? Das alles wird wieder passieren?“
„Um die Macht dieses Amulettes wirklich zu besitzen, braucht man ein reines Herz“,
beruhigte mich der alte Zauberer, „Allerdings ist Sebulon gerissen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass er einen Weg findet. Außerdem haben wir mit dem Amulett unsere größte Waffe gegen ihn verloren. Er wird vor einem offenen Krieg nicht mehr zurückschrecken.“
Ich sagte nichts aber meine Gedanken überschlugen sich. Es würde nicht mehr lange dauern und in dieser Welt würde Krieg herrschen. Menschen, Elfen, Zauberer würden kämpfen, würden sterben und ich war eine der wenigen, die etwas ändern könnten, auch wenn ich selbst nicht wusste, wie.
Etwas über Kriege zu lesen, die irgendwelche antiken Feldherren geführt hatten fand ich zwar interessant, aber mittendrin zu stecken... Alles hier war fremd für mich und doch war eine ganze Welt auf mich angewiesen.
Wir werden euch alle brauchen, wenn wir das Amulett des Lebens zurückholen wollen. Nur so können wir verhindern, dass Mandoria in totalem Chaos versinkt.
Plötzlich traf mich ein Gedanke wie ein Blitzschlag. Abgesehen von dieser schrecklichen Entscheidung, die von mir verlangte, entweder auf Leben und Tod mit Ungeheuern wie Varos zu kämpfen, oder jeden Einzelnen, den ich hier kennengelernt hatte, und Tausende, die ich nicht kennengelernt hatte, im Stich zu lassen: Wenn ich nicht kämpfen wollte, wenn ich zurück nach Hause wollte – würden sie mich gehen lassen?