Читать книгу Waldviertelblut - Maria Publig - Страница 7
2. Kapitel
ОглавлениеAls Walli Winzer wieder den Vorraum bei Bachwirken betrat, tat die Sekretärin so, als würde sie kaum Notiz von ihr nehmen. Sie saß an ihrem Schreibtisch und starrte auf den Computerbildschirm. Ihre Hand hielt sie allerdings nicht korrekt über der Funkmaus. Mit Kennerinnenblick vermutete Walli Winzer, dass die Fähigkeiten der flotten Blondine offensichtlich nicht primär auf der Sekretariatsebene lagen. Denn ein gewisser Geruch und das verräterisch offen stehende Nagellackfläschchen überführten sie. Durch das plötzliche Öffnen der Arbeitszimmertür musste sie sich ertappt gefühlt und die Position gewechselt haben.
Es war leider schon immer so gewesen, dass sich Walli Winzers Wachsamkeit nichts entziehen konnte. Ein Gedächtnis für Nebensächlichkeiten hatte ihr auch Manfred einmal vorgehalten, als sie ihn eines parallelen Abenteuers überführt hatte. Für Walli war es daher eindeutig, dass diese Plastikbusenschönheit wegen anderer Vorzüge als ihrer administrativen Fähigkeiten auf diesem Posten saß. Dass sie in solcher Frage die obligate politische Korrektheit verließ, war ihr klar. Doch was Sache ist, musste auch Sache bleiben. Durfte nicht schöngeredet werden. Walli war selbst keine Kostverächterin, konnte attraktiven, charmanten Männern nicht widerstehen. Aber sie gab es wenigstens zu. Spielte nicht die Moralische. Das machte eben den Unterschied zu anderen, wie sie fand.
Wie um ihre These zu erhärten, schlich eine unscheinbare, von Statur her eher zarte, junge Frau zur Sekretariatstür herein. Da sie zuvor nicht angeklopft hatte und gezielt zum leer stehenden Schreibtisch gegenüber der Büroschönheit schlich, fühlte sich Walli Winzer wieder einmal in ihrer Beobachtung bestärkt. Ja, so war das Leben. Unerwartet und doch vorhersehbar. In manchem. Zumindest, wenn es Personen wie Manfred Tuchner betraf, der auf einen bestimmten Frauentypus abfuhr.
Dem hatte einst auch Walli Winzer entsprochen. Mit ihrem Faible für Markenkleidung. Es war eines ihrer Hobbys: sich ungewöhnlich und hochwertig zu kleiden. Nicht nur, dass sie sich manchmal im Spiegel selbst gerne betrachtete, sondern sie fühlte sich darin eben ungemein wohl. Es hielt ihr vor Augen, dass sie es geschafft hatte. Sie, das Mädchen aus der Wiener Vorstadt, war oben angekommen. Ganz oben. Sie konnte sich solche Markenkleidung leisten und gönnte sie sich hin und wieder. Und das mit Recht! Sie hatte es weit gebracht. Aus einem Gemeindebau. In einer einfachen Wohngegend in Floridsdorf. Zwischen Fabriken angesiedelt. Mit damals noch unasphaltierten Nebenstraßen in einem Arbeiterbezirk am Wiener Stadtrand.
Vornehme Männer wie Manfred Tuchner sah man dort nicht. Stattdessen zuhauf solche Arbeiter wie ihren Vater, die das Familiengeld im Wirtshaus versoffen. Nicht selten kamen sie am Wochenende erst spätabends nach Hause und ließen ihre Aggression, die sich die Woche über in ihnen aufgestaut hatte, hemmungslos an ihren Familien aus. Diese hatten deren Launen über sich ergehen zu lassen. Die Ehefrauen ohne Job, ohne Zukunft. Aus dem Schlaf gerissene Kinder. Lautes und ungehemmtes Schreien ungeachtet der Nachbarn. Bis zum Verprügeln der heulenden Kinder. Bis alles ruhig war. Vor Erschöpfung.
Walli war dieser sozialen Hölle entkommen. So, wie sie sich das einst geschworen hatte.
Nicht nur die Schulungen des zweiten Bildungswegs, sondern auch Männer wie Manfred Tuchner hatten ihr dabei geholfen. Wenn eben auch nicht uneigennützig. Aber der Charme und diese Sinnlichkeit. Da sagte Walli, wenn’s für sie passte, niemals Nein. Sie lächelte in sich hinein.
»Brauchen Sie noch etwas?«, fragte die blonde Schönheit und blickte erwartungsvoll in Wallis Richtung.
Die jüngere Farblose hatte inzwischen ihre Jacke ausgezogen und sie über den Kleiderständer neben der Tür gehängt. Aus ihrer Tasche holte sie eine angebrochene Mineralwasserflasche und stellte sie auf den Schreibtisch. In ein Glas, das offensichtlich bereits seit dem Vortag dastand, schenkte sie sich ein. Walli Winzer hatte inzwischen Fotos und Unterlagen, die sie erhalten hatte, verstaut und schloss ihre große Tasche.
»Danke, jetzt habe ich alles, was ich brauche«, sagte sie und schlüpfte in ihren Blazer. Walli hatte ihn zuvor ausgezogen, da sie dank ihrem verhandlungsstrategischen Geschick wusste, dass Männer – und vor allem solche wie Tuchner – Frauen in Blusen lieber gegenübersaßen. So ein Blazer schuf zwischenmenschliche Distanz, die Walli und Manfred nie gebraucht hatten, auch nicht wollten. Sie wusste, dass sich so auch die modernen Manager kleideten, sie ließen einfach das Sakko weg. Manfred Tuchner war noch vom Old-Fashioned-Männerschlag. Er trug eines. Aus bester Kaschmir-Qualität, wie Walli erkannt hatte.
Tuchner verlangte von Frauen, dass sie optisch Nähe zu ihm herstellten. Walli hatte bei diesem Rollenspiel durchaus Spaß. Sie setzte Strategie ein. Und es geschah danach immer, was sie wollte. Auch jetzt: Mit wenig Aufwand hatte sie einen top bezahlten Auftrag an Land gezogen! So what!
Walli Winzer verließ das Sekretariat und hielt abrupt am Gang inne. Sie bemerkte, dass sie ein gewisses Örtchen aufsuchen musste. Immerhin stand einiges an, das in Wien erledigt werden musste, bevor sie später in ihr altes Schulhaus nach Großlichten im Waldviertel zurückfahren wollte.
In Kürze würde sie sich mit ihrem Exmann treffen, der vorhatte, ihr über die Türkei zu erzählen, ihrem nächsten Reiseziel, wohin sie zu fliegen gedachte.
Als sie nach dem Gang zur Toilette den Weg zum Lift nahm, kam sie im Flur an einer halb geöffneten Tür vorbei. Walli stellte sich neugierig davor und lugte ins Zimmer. Niemand befand sich darin.
In einem dahinterliegenden Raum sah sie Manfred Tuchner neben einem Mann am Schreibtisch stehen. Ein weiterer stand mit dem Rücken zu Walli. Sie hatte den Eindruck, Tuchner musste sich vor beiden rechtfertigen. Walli achtete darauf, dass sie niemand sehen konnte.
Manfred Tuchner drohte. Er ballte seine Faust und erhob sie. Der Mann am Schreibtisch blieb ruhig. Der dritte hingegen war abwehrend und schüttelte verärgert den Kopf. Schließlich gab er Tuchner einen Brief, drehte sich grußlos um und ging übers benachbarte Zimmer auf den Gang.
Walli Winzer wartete inzwischen vor dem Lift und griff in ihre Handtasche. Gegen ihre Hüfte gedrückt hielt sie die sperrigen Unterlagen und wollte diese gerade anders anordnen.
Der aufgebrachte Mann ging wutschnaubend zu seinem Postwagen, der vor dem Eingang stand.
Das war doch allerhand gewesen! Was konnte er dafür, dass Briefe immer wieder verspätet von der Post hier in der Firma eintrafen. Schließlich konnte er nur das verteilen, was im Posteingang der Firma Bachwirken einlangte. Er war ja kein Zauberer und auch kein Hellseher. Also, wie sollte er dann etwas austragen können, was nicht da war? Er verstand ebenso nicht, warum man einen angeblich so wichtigen Brief nicht eingeschrieben aufgab. Was waren das für Geschäftspartner, die ein wichtiges Dokument ohne Sicherheitsvermerk verschickten? Dafür gab’s mittlerweile viele Möglichkeiten.
Unglaublich, wie dilettantisch derzeit alles ablief. In der Administration und in den Postfilialen.
Deshalb hatte er ja auch vor einem halben Jahr seinen Dienst bei der Post quittiert. Das war keine leichte Entscheidung gewesen. Doch er war sich zunehmend überflüssig vorgekommen. Seine Ansprechpartner waren nur noch Maschinen gewesen, die im Postvertriebszentrum alle Briefe und Pakete elektronisch erfassten und auf die einzelnen Wiener Gemeindebezirke verteilten. Alles in einem Höllentempo.
Bei ihm landeten nur solche Fälle, bei denen Maschinen den Adressaten nicht genau erkennen konnten. Ja, im Gegensatz zu diesen Blechtrotteln und manch anderen Kollegen aus Fleisch und Blut konnte er wenigstens noch lesen und schreiben. Auch bei der Post war das nicht mehr überall selbstverständlich. Zumindest nicht in Wien. Daher setzte man bei kniffligen Fällen auf ihn, der dafür bekannt war, jede noch so unleserliche Handschrift entziffern zu können.
Irgendwann hatte es ihm schließlich gereicht. Nico Salmer hatte gekündigt. Dabei war er mit Leib und Seele Postler gewesen. Doch dann ging’s für ihn nicht mehr. Ohne Menschen, ohne Seele! Jetzt wickelte er die Post für die Firma Bachwirken ab. Manchmal mit Zoff wie heute.
Seinerzeit als zuständiger Postbediensteter in Großlichten im Waldviertel war alles so harmonisch abgelaufen. Alles und jeden hatte er gekannt. Manchmal war er von den älteren Bäuerinnen auf einen Vormittagskaffee eingeladen worden. Man hatte geredet, sich ausgetauscht. Er erfuhr dabei viel Neues. Im Wirtshaus dann steckte er das ein oder andere seinem Freund, dem Dorfpolizisten Sepp Grubinger. Der konnte sich seinen Reim darauf machen und präventive, also vorbeugende Maßnahmen ergreifen. Ein gutes Team waren sie schon gewesen.
Der Sepp! Der ging ihm ab. Die Gespräche mit ihm. Ruhig und unaufdringlich. Menschlich eben. Gewalt hatte es deshalb nie bei ihnen im Dorf gegeben.
Halt! Bis zu dem Zeitpunkt, wo die Wiener PR-Lady Walli Winzer aufgetaucht war. Vielleicht war’s ja auch ein Zufall, dass sie sich immer gerade dort aufhielt, wo etwas los war. Also genauer gesagt, wo ein Mord geschah. Kein Wunder, dass die Leute anfingen, langsam sauer auf sie zu werden und sie bald nirgends mehr gerne gesehen war.
Na ja, sauer waren die Großlichtenerinnen und Großlichtener schnell auf solche, die nicht aus dem Ort stammten. Das bekam sogar das Nachbardorf zu spüren. Und dann erst bei einer, die aus Wien hierhergezogen war.
Nur, er mochte sie. Er konnte sich zwar nicht erklären, warum. Aber vielleicht, weil sie eben nicht aus der kleinen Gemeinde stammte. Für ihn war sie eine aus der großen, weiten Welt gewesen. Wien, das er nur aus dem Fernsehen kannte.
Als Schüler war er mit der Klasse einmal in der Hauptstadt gewesen. Auf dem Stephansdom oben und beim Riesenrad im Prater. War schon toll. Das hatte ihm gefallen. Und die Menschenmassen, hinter denen man sich anonym verstecken konnte. Nicht gesehen wurde, obwohl man da war. Anders als im Dorf. In der Stadt erlebte man etwas, ohne dabei selbst etwas erleben zu müssen, stellte er entspannt fest.
Außerdem gefiel sie ihm, diese PR-Lady, mit all ihren Ecken und Kanten. Und mit ihrem großen Herz. Das sie versteckte, wenn ihr jemand zu nahe kam.
Unabsichtlich.
Das hatte er festgestellt. So für sich. Als er sie beobachtet hatte. Meist ohne dass sie es merkte. Heimlich. In ihrem Garten. Durch die Lücken in der Hecke. Gerne machte er sich so sein Bild von den Menschen. Unbeobachtet verhielten sie sich, wie sie eben waren. Sie verstellten sich nicht. Waren sie selbst. Wie diese Fremde in Großlichten es war. Mit ihrem frechen Kater Filou. Was er eben mochte. Etwas dafür übrig hatte. Fürs andere. Fürs Auffällige. Aus der Stadt, in die er deshalb selbst vor Kurzem gezogen war.
»Verdammt und zugenäht!«, polterte es vor der Lifttür. »Wann erwische ich dich endlich!« Walli Winzer riss fahrig an ihrer viel zu vollen Tasche und versuchte weiter, deren Innenleben einigermaßen in den Griff zu bekommen, was ihr unter größter Mühe noch nicht gelang.
Inzwischen hatte sich die Lifttür geöffnet und wieder geschlossen. Der Lift war ohne Fahrgast hinuntergefahren. Walli Winzer kramte weiter.
»Ah, endlich«, stieß sie einen Laut der Befreiung aus. Sie zog den Reißverschluss ihrer Handtasche zu und sah einer eleganten jungen Frau nach, die an ihr vorbeiging. Also, eigentlich war es weniger die Frau, der ihre Aufmerksamkeit galt, als vielmehr das Kleid, das sie trug. Es war schwarz mit einem weißen, spiralförmigen Muster, wirkte frisch und aufregend zugleich. Es hypnotisierte richtiggehend, stellte sie nach längerem Hinsehen fest.
Ihr Blick richtete sich wieder geradeaus auf den Lift, vor dessen geschlossener Tür sie weiterhin stand. Offensichtlich benutzten ihn jetzt auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, um das Bürohaus in ihrer Mittagspause zu verlassen. Da hieß es sogar für die Chefetage: bitte warten.
Sie blickte inzwischen auf ihr ungleiches Paar Schuhe. Der linke Fuß war immer noch kühler als der andere. Klar, schließlich war der Schuh noch nicht getrocknet. Sonst führte sie immer ein Reservepaar in ihrem Auto mit. Doch gestern wollte sie das Modell wechseln und hatte das neue Paar im Waldviertler Haus gelassen.
Ihr Kater Filou hatte wieder einmal Unfug getrieben. Sie war sofort hinter ihm her gewesen, hatte die Schuhe ins Vorzimmer geworfen und vergessen, danach die Neuen ins Auto zu legen.
Walli Winzer seufzte und beschloss, das Treffen mit ihrem Ex, Thomas, auch gleich dahin gehend zu nutzen, eines ihrer Lieblingsschuhgeschäfte in der Wiener City aufzusuchen, um für Nachschub zu sorgen.
Ein Geräusch lenkte ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes. Es war das Hochklappen der Radfixierung am Postwagen gewesen. Der Mann, der zuvor im Zimmer mit dem Rücken zu ihr gestanden war, hatte sie an diesem gelöst und setzte sich mit seinem Rad langsam in Bewegung.
»Nico? Nico Salmer?«, fragte sie erstaunt. »Das gibt’s doch nicht!«
»Hallo, Frau Winzer«, freute sich dieser sichtlich über die unvorhergesehene Situation. Er verließ den Wagen und kam auf sie zu.
Walli Winzer streckte ihm die Hand entgegen. Sie freute sich in dem Moment tatsächlich, ein vertrautes Gesicht aus Großlichten zu sehen. Obwohl: Nico Salmer hätte sie hier nie vermutet.
»Es ist schon lange her, dass wir einander das letzte Mal gesehen haben.«
»Fast a Jahr wird des jetzt her sein«, behielt er den Überblick.
»Dass Sie so plötzlich aus dem Dorf weg sind, hat mich, ehrlich gesagt, überrascht. Aber nicht nur mich.«
Nico Salmer hielt kurz inne, bevor er fortfuhr: »Ma muass amoi aus der gewohnten Umgebung ausse. I wollt wissen, wie’s da in der Stadt is.«
»Und wie ist es?«, fragte Walli verschmitzt und genoss es, ihr Gegenüber durch ihre Anwesenheit ein bisschen verlegen zu sehen.
Eine Antwort blieb er ihr schuldig, denn die Lifttür öffnete sich. Walli Winzer ging darauf zu und stellte sich wenig damenhaft zwischen die Aufzugstüren. »Nico, wir sehen einander jetzt öfter. Ich werde nämlich die PR-Kampagne für die neue Produktlinie von Bachwirken betreuen und daher ab und zu vorbeikommen.«
An seiner Mimik konnte sie erkennen, dass er angenehm überrascht war. Er hätte sicher gerne etwas länger mit ihr geredet, aber der Augenblick schien wenig geeignet zu sein. Daher sagte er wie so oft – nichts.
Walli Winzer blieb noch kurz stehen. Sie wartete auf eine weitere Reaktion. Doch als sie merkte, dass er wie angewurzelt stehen blieb und keine Antwort von ihm kommen würde, stieg sie ohne abschließendes Wort ein. Mit ihren Gedanken war sie längst anderswo – bei Thomas, der schon auf sie wartete.