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Das Frühstücksbuffet war reichhaltig und bot wirklich alles, was man an geschmacklicher Orientierung der Gäste erwarten konnte. Neben den frisch für jeden Gast nach Wunsch zubereiteten Eierva­riationen: Omelette, Rührei, Spiegelei und was sich an möglichen Abweichungen oder Kombinationen erdenken und dem Eierbrater vermitteln ließ. Mit den üblichen Zutaten nach Wahl: Tomate, Käse, Schinkenstreifen, Zwiebeln, etc. Die Champignons waren dazu noch Zeichen der gehobenen Klasse. Zu den ebenso gängigen Früchten und Müsli Cerealien aller Art gab es natürlich auch eine standardisierte Auswahl für den Hotelanspruch angepasster Thai-Speisen, dazu heißes Gemüse, Speck, Nudelgerichte und Salat.

Viele Säfte gängiger Früchte, wie selbstverständlich Orangensaft, Ananassaft, aber darüber hinaus eben Beerensaft, sowie Apfelsaft, welcher zu den kostspieligeren gehörte. Nicht zuletzt klares Wasser. Und der Kaffee oder eine Auswahl an Tee wurde am Tisch serviert. Eine schöne Sache, da man in weniger erstklassigen Hotels damit schon eine gewisse Lauferei zum Auffüllen der Tassen beziehungs­weise Gläsern initial mit dem Essen hatte. Schließlich balancierte man schon mit den Tellern in der Gegend herum.

Wirklich eindrucksvoll war sogar für Bangkok die Auswahl an hochwertiger Frischwurst, die sich ansonsten gerne in den Grenzen vielleicht zweier landestypischer Sorten hielt, viel öfter noch durch den allgegenwärtigen Bacon, also Speck amerikanischen Stils, einen furchtbaren Pressschinken oder zum Dritten glitschige Press­fleischwürstchen ersetzt wurde, aber hier wirklich feine Varianten echt überseeischer Qualität einschloss. Trotzdem gab es für die, welche das mochten, im Sud gewärmte Würste nach Hot-Dog-Art. Man hoffte auf höhere Qualität. Nicht zu vergessen die fünf Sorten echten Käse. Darunter Gorgonzola. Guter Gorgonzola.

Wer hätte das gedacht?

Tom holte sich schon zum zweiten Mal davon. Nicht dass er den Rest des Angebotes übersah, jedoch entbehrte er diese Art der Geschmacksorientierung schon einige Zeit und es war in Thailand auch nicht so bald mit weiteren Chancen zu rechnen, an Gorgonzola, noch dazu in dieser Qualität, zu geraten. Insgesamt bedauerte er es sehr, zum Frühstück im Allgemeinen nicht viel zu essen, auch wenn er das in Thailand normalerweise etwas ausdehnen konnte. An diesem Buffet wäre er gut und gerne drei Stunden gesessen, aber zu viel Nahrung am Morgen machte ihn träge.

Zweifellos genoss er die Atmosphäre des Fünf-Sterne-Hotels ungemein. Es war in BangRak bei Silom bestens gelegen und Tom konnte sich stets an den Standard aller Unterkünfte, die er im Land des Lächelns bewohnt hatte, gut genug erinnern, um diese Klasse angemessen zu würdigen. Normalerweise war er mit weit weniger zufrieden und dazu gab es meist auch noch ausreichend Gelegenheit.

Das Fräulein am Frühstückscounter, die ihn nach der Zimmer­nummer gefragt hatte, war eine fröhliche Eurasierin und wirkte für die ansonsten auch mal leicht versteifte Oberklasse höchst locker. Freundlich amüsiert sah sie freigebig über Toms morgentypische Ungeschicktheit hinweg. Eigentlich war er einfach das Fünf-Sterne-Niveau nicht gewöhnt und wenngleich er sehr wohl wusste, wie man sich zu verhalten hatte, merkte man ihm besonders vor dem ersten Kaffee seine mangelnde Routine an.

Es hat kaum Sinn, Hotelangestellten etwas vorzumachen.

Nachdem er sich mit seiner ersten Portion noch glaubte, ins Freie an den Pool setzen zu müssen, suchte er sich nun einen Platz in der Mitte des klimatisierten Raumes mit Blick auf die Stadt aus einer der Fensterfronten und trotzdem guter Übersicht über mehrere Tische. Schon am Vormittag drückte die Hitze auf Bangkok.

Das euphorisierte seinen Kreislauf nicht.

Genauso sehr, wie er es in seiner üblichen Morgentrance mochte, in eine mehr oder weniger indifferente Ferne zu blicken, in diesem Fall die Gebäudemischung aus atemberaubendsten Wolkenkratzer­konstrukten, chinesischen Bauten und mindestens so zweckgebun­denen, wie durch Smogerosion verwitterten Zweistöckern einfach­ster Art und Weise mit Standardfenstern und Blechdächern, und darüber seine Gedanken schweifen zu lassen, kam er immer wieder auf das anwesende Publikum zurück. Hier tauchten natürlich alle Sorten menschlicher Besucher auf. Unrasierte Einzelgänger, welchen die vergangene Nacht und sehr wahrscheinlich auch die vorangegangenen in Gesicht und Haltung zum Ausdruck verhalfen, schienen es hier eilig zu haben, wieder woanders hinzukommen, nicht ohne irgendwie trotzdem die selbstverständlich kostenfrei zur Verfügung stehende, englische Presse in Anspruch genommen zu haben. Man fragte sich, wozu dieser, offensichtlich durch sein schulterfreies Trägershirt und die kurzen Hosen, deren Musterung sie eindeutig als aus dem Fundus des Touristenmarktes stammend, und ihn selbst damit ziemlich sicher als solchen auswiesen, eine zwar unter Seinesgleichen gängige, aber der exklusiven Umgebung entgegen eine Unansehnlichkeit bot, in seinem genusssüchtigen Trieb die dahingehenden Möglichkeiten der Stadt auszunutzen, die neuesten Meldungen aus Wirtschaft, Gesellschaft und Politik kennen wollte. Für eine Rasur nahm er sich offenbar schon länger nicht die Zeit. Die Zeitung zurücklassend war er bereits nach weniger als 20 Minuten wieder verschwunden. In etwa ähnlich gering energetischer Körperbeugung, wie er erschienen war. Nur irgendwie schneller in der Bewegung. Nicht sehr schnell.

Irgendwie war das Hotel voller Japaner.

Tom war das schon am Nachmittag aufgefallen. Alte, Junge, Familien, mehrere Generationen groß, Männergruppen, nicht nur japanische. Ein paar Deutsche. Ehepaare, mit und ohne Kind. Gemeinsam reisende Frauen. Das waren oft Deutsche.

Darunter eine Dreiergruppe, die ausführlich die Tagesplanung im Sinne eines sogenannten Pool-Tages diskutierte.

In fast klischeehafter Gründlichkeit musste anscheinend bei Deutschen auch diese Entspannungsperiode gut vorbereitet und einvernehmlich abgesprochen sein. Durchgesprochen.

Wie sollte man auch das Herumliegen am Pool quasi planlos dem Zufall überlassen?

Es stellte sich heraus, dass der weibliche Generalstab allen Grund hatte, die Sache nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, da es sich offenbar um den Abreisetag handelte und man damit natürlich Vorsicht walten lassen müsse, den Blick auf die Uhr nicht aus den Augen zu verlieren. Jedenfalls wolle man sich keinem weiteren Stress oder Zeitdruck hingeben, sondern nun dem Ende der Reise entgegen abschalten. Eben deshalb wollte man die verbleibende Zeit, genauer gesagt deren Nutzung, bestens eingeteilt haben.

Der wahrnehmbare Organisationseifer der Damen untermauerte die Überzeugungskraft des Ansinnens in Toms Verständnis nicht. Wenn er dabei an die entspannte Gelassenheit der Thai sogar während konkret gerichteter Tätigkeiten dachte, schien ihm der vergleichsweise angestrengte Perfektionswillen der drei Mädchen allein in der reinen Planungsphase leicht überzogen. Dabei kam der bei Frauenfreundinnen immer wieder aufkommende, unbedingte Wunsch hinzu, eine irgendwie demokratiesinnige Vollkommenheit im Übereinkommen aller abgestimmten Verlaufsereignisse her­stellen zu müssen. Eine spätere Abweichung davon schien kaum vorstellbar. Sicher nicht ohne neuerlichen Disput mit abschlie­ßendem Votum. Einmal blickten sie konspirativ zu Tom herüber. Vielleicht hatte er zu unvorsichtig oft auf sie gestarrt und ließ sie eventuell vermuten, er hätte Interesse an ihrem Gespräch. Sie konnten nicht wissen, dass er Deutsch verstand. Sie dachten wohl eher, er hinge typisch männlichen Wunschvorstellungen angesichts dreier Frauen nach. Zu oft mussten sie das auf ihrer Reise bei anderen allein reisenden Männern erlebt haben. Tom hielt allesamt für nicht sonderlich attraktiv und bemühte sich um einen ungerühr­ten Gesichtsausdruck. Ausdrücklich ungerührt. Darüber verging deren Verdacht etwas irritiert. Womöglich verspürten sie durch seine zu betonte Abwendung als Indiz seinen Spott über das tatsächlich belauschte Gespräch. Ihm war es nicht wichtig, was sie dachten.

Eine Gruppe arabisch wirkender junger Männer. Unangemessen wieder die Trägershirts und kurzen Hosen. Waren das nicht Moslems? Kleidete man sich als solcher nicht züchtiger?

An anderen Tischen bequem, aber standesgemäß gekleidete Europäerinnen. Eher wohlhabend. Die Geschäftsleute waren wohl schon weg. So früh stand Tom nicht auf.

Zwei junge Japanerinnen in Shorts hüpften zum Tisch ihrer deutlich älteren Verwandten, vielleicht Eltern und einem jungen, der ihr Bruder zu sein schien. Sehr fröhlich machten sie sich sogleich auf den Weg zum Buffet und kamen mit aufgetürmten Tellern zurück. Auffällig waren die wirklich echt zu kurzen Hot-Pants und unter den engen T-Shirts fehlenden BHs. Für hiesige Verhältnisse und vielleicht überhaupt eine zu billige Optik. Tom hatte nichts dagegen und da es sich nicht um Thai handelte, fand auch hier die sprichwörtliche Toleranz Anwendung. Wen interessierte schon, wie japanische Mädchen herumliefen. Sie waren ja in Obhut der Verwandtschaft. Bald schon entfloh die Bagage gemeinsam an den Pool und machte Digitalfotos von sich in den Stühlen. Der alte Herr streng blickend, kicherten die Mädchen in den Shorts dafür ständig. Die Dame mit fürsorglichem Blick um alles bemüht, die erfreuliche Situation zu bewahren, und der Sohn aufrichtig eifrig dem folgend.

Tom holte sich jetzt auch eine Zeitung. Schon der Comics wegen.

Obwohl er beim Betreten des Restaurants die gefalteten Zeitungen im Tresen der Empfangsdame wahrgenommen hatte, fragte er nun blöd, ob es eine Zeitung gäbe. Er hatte einfach vergessen, wo sie waren. Das angenehme Fräulein lächelte über seine leichte, Tageszeit bedingte, geistige Unpässlichkeit, die ihr nur zu bewusst war und gab ihm mit einer dezenten Kopfbewegung einen kollegialen Wink zur Auffrischung seines Gedächtnisses. Da fiel es ihm auch gleich wieder ein und es war ihm etwas unangenehm, ertappt worden zu sein. Natürlich durfte sich die jüngere Hotelangestellte keineswegs ein Urteil oder Bewertung des älteren Gastes erlauben. Ein kurzer Blick der neuerlichen Verständigung zwischen den beiden sagte ihm schnell, wie wohlwollend das Personal seine Pflichten, eben mögliche Fehlleistungen der Gäste auszugleichen und für deren absolutes Wohlbefinden zu sorgen, dabei so professionell zu sein, die Kleinigkeiten auch sofort wieder zu vergessen und sich weiter den angenehmen Seiten des Lebens zuzuwenden. Ihre Reaktion einer dem Anlass entsprechend kaum wahrnehmbaren Kenntnisnahme seines anfragenden Blickes, ob er sich doch derlei geringen Irrtum ohne Hohn fürchten zu müssen, erlauben dürfe, wobei er sich gerne für den unnötigen Aufwand seiner kleinen Dummheit entschuldige, folgte die deutliche Wiederaufnahme des Gespräches mit ihrer Kollegin in eifrigem Ton, was eindeutig bestätigte, die amüsante Bagatelle sei durchaus in seinem Sinne bereits vergessen, besser übersehen und liebens­würdig als Zeichen seiner Liebenswürdigkeit verbucht worden.

Diese Kommunikation lief in Sekunden ab und basierte einerseits auf den in diesem Land bekannten Konventionen über menschliche Eigenschaften und deren bestmögliche Behandlung sowie vielmehr über ein wirklich gesundes, nonverbales Verständnis zwischen den Menschen, das gerade in dieser Klasse und ihrer bewusst angenehmen, sanften, bedrohungsfreien, freundlichen, ruhigen, von Stressreizen freigehaltenen Atmosphäre herrschte. Man unterstellte einfach keine bösen Absichten und fand dann einig zu klarer Sicht der Dinge. Tom liebte es, in einer Position unantastbarer Anerkenn­tnis, bei mitfühlender Akzeptanz seiner Schwächen zu agieren und gestand dies allen anderen nur allzu gerne zu. Das war so komfor­tabel und begründete wiederum diese wunderbare Atmosphäre frei von unerwarteten Schrecken, wegen umfassendem Verständnis und Konsenswillen auf Basis einer gegenseitigen Gelassenheit, dem anderen seine Freiheit zu gewähren. Jegliche Furcht schwand dahin, denn wenn man sicher sein konnte, dass alle oder nur die meisten mitmachten, würde alles trotzdem auftauchende Übel letztlich ver­schwinden. Bis dahin war man schließlich in der Überzahl.

So sah die Lösung wohl aus.

Das Ereignis hatte sein Bewusstsein über die eigentypische Morgentrance wiedererweckt. Vorsichtig kehrte er mit seiner Zeitung an den Tisch zurück und versuchte, beim Niedersetzen nicht daran zu stoßen, damit nicht auch noch Kaffee verschüttet würde. Jetzt wirkte er wieder ein wenig zwangsneurotisch bei der Neuausrichtung seiner Frühstücksgeschirre. Schließlich brauchte er Platz für die Zeitung. Wahrscheinlich war das alles ganz normal, nur dass Tom sich ein bisschen beobachtet fühlte. Er schloss unbewusst von seiner Beobachtungsneugier darauf. Dabei wollte er einerseits nicht auffallen und andererseits standesgemäß wirken. Er war einfach ein bisschen unsicher. Das lag an der Morgentrance. Der Kaffee wirkte noch nicht richtig. Letztlich schwankte sein Zustand zwischen einem sehr souveränen Genuss sich in diesem Oberklasse-Rahmen bewegen zu können, von dem ausgezeichneten Essen gar nicht zu reden, und den Kreislaufeffekten seines Schlafdefizits.

Wenn er erst sitzen, sich in das englischsprachige Blatt vertiefen und sich notfalls dahinter verstecken konnte, wäre das Problem gelöst, bis er soviel Kaffee intus hatte, dass sein Kreislauf ihn wieder trug.

Der Hangover-Typ vom Nachbartisch war schon länger weg und inzwischen war auch die japanische Familie vom übernächsten Tisch an den Pool verschwunden. Der Tisch neben ihm war nun frei und so war der Blick nach links durch nichts versperrt, als Tom zum ersten Mal, von der Zeitung gelangweilt wieder in die Runde, nach neuen Gästen spähte. Es waren nur vielleicht fünf Minuten seit seiner Rückkehr von der Zeitungsexpedition vergangen. Für Tom ausreichende Traumäonen um zu sich zu finden, indem er alles um sich herum über die Comicseite und Kaffee vergessen hatte.

Links am übernächsten Tisch, wo die Familie gesessen hatte, war sie. So unscheinbar. Ganz und gar unscheinbar. So unscheinbar, dass Tom sie nur als am übernächsten Tisch sitzende Gestalt wahrgenommen hatte, als sie bei seinem Wiederplatzierungsmanö­ver in sein Blickfeld geriet.

Er war sehr konzentriert auf seinen inneren Rückzug, jetzt Zeitung lesen zu wollen, gewesen. Wieder eine Japanerin.

Ungewöhnlich unscheinbar.

War sie denn wirklich schon dagesessen, als er zurückgekommen war oder erst angekommen, während er gelesen hatte? Tom konnte sich nicht erinnern. Er war nicht sicher. Sie war so unscheinbar, man nahm sie kaum wahr, selbst wenn man hinsah. Es kam ihm wie Absicht vor, nicht präsent zu sein. Sie saß da und war doch eher nicht anwesend. Wesenlos. Das traf es gut. Sie war so scheinbar ohne eigenes Wesen, dass sie abwesend wirkte. Nein, nicht geistig. Diese Frau war ganz ruhig und irgendwie sachlich. Sie hob sich nur nicht ab von ihrer Umgebung als menschliches Wesen.

Tom merkte, dass er zu lange hinüber gesehen hatte und wandte sich seiner Zeitung zu. Er las aber nicht, konnte sich nicht konzentrieren, sondern dachte an die Japanerin. Ihre unscheinbare Wesenslosigkeit. Er blickte kurz zu ihr hinüber und gleich wieder weg. Es musste schon auffallen. Eigentlich sah er auf ihre Schenkel. Es sollte so aussehen, als senkte er den Blick in Gedanken zu Boden. Warum aber nach links? Er genoss den Anblick ihrer Schenkel. Sie turnten ihn an. Übermäßig rasch und intensiv. Tom wollte die Innenseite der Schenkel lecken, das drängte sich ihm auf. So eine starke Vision hatte er schon lange nicht mehr, bei einer fremden Frau.

Sie trug eine Shorts, dem Klima schuldig, aber doch ebenso sehr kurz wie von der Art dem Zweck eines erotischen Reizes widerstrebend. Die Shorts war nicht eng und hatte ein gleichgültig schwaches Marineblau als Farbe, welches, obwohl zweifellos nicht ausgewaschen, nicht kräftig war. Eine elegante Blässe einer an sich intensiven Farbe. Die Farbechtheit stabil, da kostspieliger Färbe­technik des Haute Couture Herstellers geschuldet. Der seltsame, blasierte Anspruch, Shorts und Farbe jedem Verdacht vulgärer Anzüglichkeit zu entledigen, führte zu einem lebenslang formechten Design, zeitlos und akkurat genähte Langeweile in passgenauer Hausfrauenart. Für reiche Hausfrauen, deren Hausarbeit Dienst­boten zugute kam. Bequem und gewagt. Spätestens ab 40. Eine Sexualität leugnend. Was man von einer blauen Shorts an Frauenhintern erwartet, würde von jeder in Handarbeit und Schere abgeschnittenen Billigjeans, ausgefranst und einer bereits durch Reinigung angegriffenen, aber aktuell leicht jeder Verschmutzung trotzenden, jedoch bald verblichenen Färbung in Totalblau erfolg­reicher erfüllt, solange sie Gesäße um die 20 bekleidete.

Es ging dabei nicht um die Hose. Oder deren noble Perfektion.

Tom wunderte sich, dass es solche Shorts überhaupt gab.

Sie sollten nicht sexy sein, nur kühl. Dafür waren sie aber echt kurz.

Er hatte sich geirrt. Schon ein normal kräftiges Blau hätte die Wirkung ihrer Schenkel getötet. Ihre transparente Helligkeit wäre erschlagen, vielmehr deren Wahrnehmung in den reizvollen Details durch die Macht des platten Blau überdeckt. Sie trug diese Shorts, weil sie nicht von ihren Beinen ablenkten. Sie waren nicht blau. Sondern Eisfarben. Es war das blasse Blau gefrorenen Wassers. Transparent wie ihre Haut. Nicht durchsichtig, sondern dicht gewebt aus bläulich durchsichtigen Fasern. Klar durchsichtigen für die Nähte. Sehr teuer, sehr kühl und echt kurz.

Ihre Schenkel lagen so frei seinem Blick ausgesetzt unter dem Frühstückstisch. Unbeweglich. Unbewegt.

Sie ruckten nicht, sie machten keine Verlegenheitsbewegung oder auch nur eine Muskelspannung. Sie lagen auf der Sitzbank wie abgelegt, ohne sich unter ihrem eigenen Gewicht zu verformen. Die Beine ruhten auf den Fußsohlen. Ihr Hintern in der Shorts. Schlank. Sie war schlank. Die Haut ihrer Schenkel faszinierte ihn. Natürlich faszinierte ihn die Haut der nackten Schenkel einer jungen Frau, aber das war anders. Die Haut war unerwartet. Sie war gar nicht asiatisch. Eher sommersprossig. Hell. Sie fleckig zu nennen, wäre ungerecht, aber es waren feine Muster gleichmäßig über die Schenkel zu sehen. Es sah wohl außer Tom niemand die Schenkel unter dem Tisch und er wusste, dass er längst wieder zu lange hingesehen hatte. Es war höchst unschicklich, doch mochte er seinen Blick nicht abwenden und hätte gerne noch Minuten auf die Schenkel gesehen.

Nun tat er so, als sei das Heben des Blickes zu ihrem Gesicht beiläufig und nur natürlich, um wieder zu seinem Tagblatt zurückzufinden. Das war reichlicher Blödsinn. Er hoffte einfach, es fiele nicht auf. Er bewegte den Blick langsam, als könne er gar nichts bestimmtes ansehen und ruhte wieder zu lange auf ihrem Profil. Tom war enttäuscht. Sie war nicht hübsch. Er sah weiter hin, als mochte er nicht glauben, dass sie nicht hübsch sei. Sie musste hübsch sein. Sie war es nicht. Sie war und blieb unscheinbar.

Schlimmer, sie hatte eine seltsame Nase. Sicher keine asiatische Nase. Vielleicht war sie gar keine Japanerin und er dachte das nur wegen der sonst so vielen Japaner im Hotel. Chinesin vielleicht. Da gab es ja ganz unterschiedliche Typen. Haut und Nasen. Er hatte keine Ahnung davon.

Die Nase war länglich und nach unten gebogen. So als sei sie gegen eine Glastür gelaufen. Nur dass sie nicht plattgedrückt, sondern schmal war. Toms Enttäuschung war keine Enttäuschung. Er war verwundert. Er erwartete ein hübsches Gesicht, weil ihn die schlanken Schenkel trotz der gemusterten Haut so anzogen. Nun fand er diese Frau ohne konventionelle Schönheitsmerkmale. Er sah jetzt wieder nach vorne durch das Fenster auf die Häuserschluchten und Straßen, nur um an die Frau zu denken. Er sah wieder hin.

Es musste auffallen. Sie sah nicht zu ihm herüber.

Gerne hätte er ihr Gesicht von vorne gesehen. Sie war nicht attraktiv im konventionellen Sinne. Das war schon klar. Aber anziehend. Sie zog ihn an. Jedenfalls verspürte Tom eine immense Anziehung, die ihn selbst verwirrte. Sie war eine Attraktion seiner Sinne. Er hatte ja ausreichend Glück bei Frauen und war die Zuneigung sehr schöner Mädchen gewohnt. Sicher ging es ihm nicht um Äußerlichkeiten, aber er fand auch sonst keinen ersichtlichen Grund, von dieser Frau derart in den Bann gezogen zu werden. Sie schien sich nicht gerade für ihn zu interessieren.

Man konnte spekulieren, er habe seit der Trennung von Constanze vielleicht ein zu starkes Defizit an weiblicher Anerkennung erlitten und daher einen angespannten und somit leicht reizbaren Testos­teronspiegel, der ihm irgendwelche Attraktivität oder erotische Signale in fremden Frauen vorzugaukeln geeignet war. Aber das empfand er gar nicht so. Er stellte nur immer wieder fest, die Japanerin habe eben nichts an sich, was ihn erfahrungsgemäß erregte, außer eben die Schenkel. Die wiederum fand er trotzdem nicht eigentlich spektakulär, vielmehr komisch. Bei alledem blieb aber die wirklich unbestreitbare Anziehung, die von ihr ausging, ohne dass sie selbst eine auch nur annähernde Aufgeschlossenheit zeigte. Im Gegenteil schien sie einfach nur zu frühstücken, ohne großartige Pläne gleich welcher Art zu hegen. Vielleicht war ihr Tag bereits einem Buch am Pool gewidmet. Jedenfalls keiner Affäre. Dabei war Toms Perspektive bisher nicht viel ungewöhn­licher gewesen. Bei allem Single-Dasein lag eine Intention, dies ausgerechnet in Bangkok auszuleben, so fern, wie es einem Großteil der männlichen Besucher selbstverständlich erschien. Deswegen war er nicht hier. Dabei sprach auch das wieder gegen die bemerkenswerte Anziehung durch diese unscheinbare Person. Hätte es sich wirklich um eine hormonelle, gegebenenfalls rein hormonelle Reaktion gehandelt, die ihm dazu Verliebtheit einzureden versuchte, hätte das bei unzähligen willfährigen, thailändischen Karamell-Girls so viel leichter, einfacher und besser geklappt. Aber natürlich kannte Tom das Spiel zu gut, als dass er sich dem auch nur ansatzweise aussetzen wollte.

Mit Hormonstau ließ sich das nicht erklären.

Er sah wieder hin. Sie bewegte sich auch ganz ruhig. Fast als befürchte sie, mit zu heftigen Bewegungen einen Lufthauch zu verursachen, der irgendjemandem auffallen konnte. Furcht strahlte sie aber nicht aus. Es wirkte wie Zurückhaltung, auch nicht wie Rücksichtnahme. Sie war unscheinbar. Ja, es war eine absichtliche Unscheinbarkeit, die sie bewusst und sicher betrieb, aber unscheinbar.

Der Anschein einer Forcierung sollte nicht aufkommen.

Eine offensive Komponente, ein Ausdruck persönlichen Willens in die Welt schien ausgeschlossen. Ihr Blick war immer gerade, wenn er sich nicht auf den Teller senkte, wenn die Gabel sorgsam ein weiteres Stück Nahrung aufnahm. Sie führte es zum Mund und aß. Offenbar aß sie nur. Dachte dabei nur ans Essen. Bemerkte sie deshalb Toms unzulässig aufdringliche Blicke nicht? Überhaupt machte die Person keines dieser Anzeichen der unentwegt ständigen Nervosität so vieler Zivilisationsmenschen. Auch nicht des grobfrohen Dranges vieler Naturmenschen. Tom dachte, man konnte gut durch sie hindurchblicken, sie übersehen, hinnehmen, so unscheinbar war sie, wäre da nicht diese unerklärliche Anziehung auf ihn. Er blickte wieder auf ihre Schenkel. Jetzt spürte er noch stärker den erotischen Wunsch sich ihr zu nähern. Sie war schlank und hatte eine gerade Gestalt. Vielleicht trainierte sie. Diese helle verschiedenfarbige Haut, war auch in ihrem Gesicht. Anders, feiner, nein, anders. Sie hatte keine großen Wimpern oder große Augen. Schwarze Haare. Doch eine Japanerin. Superschmale Lippen. Lippen wie Schnüre. Sie nahmen die Nahrung von der Gabel auf. Weiter nichts. Sie sah nicht zu Tom.

Er mochte diese Frau.

Ich kenne die Frau nicht. Was habe ich nur? Ich denke wirklich, ich mag sie. Ich möchte sie unbedingt kennenlernen.

So dachte er. Wenn seine Ratio ihm vorhielt, er sei hier in keiner Disco und könne in einem Fünf-Sterne-Hotel nicht einfach die anderen Gäste anmachen, genauso wie die Vernunft ihn erinnerte, dass er nicht zu Abenteuern nach Thailand gekommen war und er schließlich null Informationen hatte, wer sie war, was und wie lange sie es hier tat, die Sache angesichts ihrer Unscheinbarkeit und insgesamt eigentlich nur komisch war und er einfach nicht spinnen sollte, blieb vor allem übrig, dass er das zugegebenermaßen sehr verwirrend fand, aber sie unbedingt kennenlernen wollte.

Da fiel ihm auf, dass er ihr Alter nicht einschätzen konnte.

Darin war er noch nie gut gewesen. Und dann bei Asiaten, jetzt einer Japanerin. Hm. Er sah hin. Er sah weg.

Sie sah noch immer ganz genauso aus. Langsam musste er das sein lassen. Ihre Schenkel wirkten jung, vielleicht Ende Zwanzig, die Haut verzerrte das Bild, vielleicht war sie Ende Dreißig oder älter und daher die Muster, aber die Haut war straff, na ja vom Training, ihr Gesicht sprach eher für Ende Dreißig, Anfang Vierzig, aber nur weil er dachte, die Asiaten sehen doch sowieso immer jünger aus. Sogar das Alter war unscheinbar. Viel schwieriger war, den Kontakt aufzunehmen. Sie war immerhin alleine. Schon die ganze Zeit. Kein Mann, kein Freund, nicht mal andere Frauen. Tom fand wirklich und ganz ohne Häme, fast analytisch und in seiner neu gefundenen Zuneigung vielleicht mitfühlend, sie sei einfach zu unscheinbar, um anderen Menschen aufzufallen. Ihr Interesse zu wecken, Neugier oder den Wunsch an ihr teilzuhaben. Diesen ganzen vielen Menschen, mit ihren wichtigen, aufregenden, tollen, schnellen, wilden Leben. Einem dieser erfolgreichen Männer als Zierde konnte sie schlecht dienen. Eine Dienerin war sie nicht. Sicher nicht. Sah man genauer hin, stellte man fest, dass sie fein und überlegt präsentiert war. Tom hatte das indirekt schon verstanden, denn es war als Störung des Bildes hervorgetreten. Die Shorts war nicht für Touristen, sondern Casual Wear. Das Oberteil belegte das erst recht. Es war unscheinbar, aber von hoher Qualität, die nicht auftragen durfte. Die Haare waren schlicht geschnitten. Ja, es gab keine Highlights in ihrem Gesicht hervorzuheben. Die Haare mussten nur passen. Aber sie waren perfekt. Nicht zu lang, nicht zu kurz. Das hatte kein Wald- und Wiesen-Friseur verantwortet. Vielleicht ein verkanntes Hinterhofgenie. Nichts stand weg oder hoch oder war uneben. Die Schnittkanten so exakt, als wären sie mit Laserlicht vor nur wenigen Minuten ganz frisch erzeugt und gelegt worden. Wahrscheinlicher ein kostspieliger Edelcoiffeur, der ein meisterliches Gefühl für die Verhältnisse im Gesicht, den Ohren, der Halslänge, aller Dimensionen und der geometrischen Balance zur Gestaltung der Haartracht entwickelte.

Vielleicht war das Geheimnis ihrer Unscheinbarkeit, dass nichts an ihr störte. Sie fügte sich in das Ambiente ein wie ein Chamäleon. Ein Mensch, der im Restaurant sitzt, ist zwar da, fällt aber noch lange nicht auf. Tom machte sich zu viele Gedanken. Wie sie jetzt kennenlernen? Sie tat ihm nicht den Gefallen, den Kopf zu wenden, so dass er den seinen neigen und lächeln konnte, um ein Feedback zu erhaschen. Sie lächelte nicht. Nicht einmal unverbindlich.

Kein Augenflirt. Nichts. Sie sah ihn nicht an. Einfach gar nicht.

Es waren eben nicht alle Menschen so neugierig wie er und blickten sich in einem Frühstücksaal um. Vielleicht war sie nicht zum ersten Mal hier und hatte das Interesse am Ambiente und anderen Gästen seit langem verloren. Sicher an übernächtigten, weil den mannigfaltigen Irrwegen Bangkoker Entertainment Angeboten verfallenen Westeuropäern. Manch einer der anwesenden Japaner guckte jedoch durchaus in die Umgebung seines Tisches. Wenn sie Geschäftsfrau war, konzentrierte sie sich mutmaßlich auf anste­hende Besprechungen oder war mit wie auch immer gearteten eigenen Gedanken bei sich. Blödsinn, Geschäftsfrau in Shorts. Da müsste sie schon einen freien Tag haben. Aber wie eine Japanerin ansprechen? Tom hatte nicht die dünnste Ahnung. Keine Erfahrung mit Damen dieser Nationalität und im übrigen selten das Problem, nicht die Aufmerksamkeit der Weiblichkeit auf sich zu ziehen. Es handele sich um eine ziemlich förmliche Gesellschaft. Eher distanziert im Umgang mit Unbekannten. Auf äußerste Höflichkeit bedacht. Ritualisierte Umgangsformen, die diese Distanz wahren sollten. Irgendwie streng. Soviel hatte er mitbekommen. Fröhlich konnten sie wohl sein. Verhalten heiter. Um weder anzuecken, noch jemandem zu nahe zu treten. Die Gesellschaftsstruktur stark hierarchisch. Stolz. Die Oberschichten bestimmt besonders steif. Vielleicht waren junge Japaner da lockerer. Gerade wegen der Regelstrenge rebellisch. Avantgardistisch. Ein Teenager war diese Frau offenbar nicht mehr. Auch keine Studentin. Künstler sind tendenziell aufgeschlossener. Nicht alle, wie er überzeugt war. Immer wieder wunderte Tom sich über engstirnige Kollegen.

Wenn sie tatsächlich eine Künstlerin ist, könnte das eine Erklärung für die Unscheinbarkeit bieten. Mancher entwickelte die Demut, seine eigene Person weit hinter die Kunst selbst zu stellen. Allerdings waren, seiner Erfahrung nach, viele besonders eitel, weil sie sich etwas auf ihr Talent einbildeten. War es nicht ein Gottesgeschenk? In Japan legte man doch Wert auf Demut. In Asien war die Person doch eher zweitrangig. Sich wichtig tun, galt als unfein. Eine schöpferische Seele könnte ein guter Grund für seine spontane Zuneigung so intensiver Ausprägung zu dieser Fremden sein. Ähnliche Gemüter zogen sich durch deckungsgleiche Schwingungen an. Eine Art Telekinese. Sie könnte dann im Geist über ein aktuelles Werk versunken sein. Wenn es aber diesen Gleichklang zwischen ihrer beiden Wesen gibt, musste sie das auch spüren und doch irgendwie reagieren. Oder war ihre Aufmerk­samkeit wirklich so andächtig auf eine andere Angelegenheit gesammelt? Meine Güte, zu viele Gedanken. Reagierte sie vielleicht einfach wie Frauen anderer Nationen, aller Nationen, die nicht gerade im technologischen Rückstand archaischem Totemkult huldigten? Sie war doch in Thailand. Im Fünf-Sterne-Hotel. Also Kosmopolitin. Hatte sie heute noch ein Rendezvous? Dann wäre sie doch hergerichtet und geschminkt. Würde sich nicht zurück­genommen präsentieren. Wartete sie einfach auf ihren Ehemann oder eine andere lang vertraute Person? Eine gute Freundin?

Tom sinnierte. Nein, sie wartet nicht. Ihr Verhalten zeugt von einer Pragmatik das Frühstück zu vollziehen, welche deutlich macht, sie werde den Saal nach Abschluss des Mahles genauso profan verlassen, da sie danach hier nichts mehr verloren hätte.

Ein Besteck fallen lassen? Sie war ja am übernächsten Tisch. Warum sollte sie sich bücken? Nein, man hob kein Besteck vom Boden auf. Das tat das Personal und man bekam frisches. Sie würde keine Reaktion zeigen. Wäre nur blöd. Ansprechen, im Sinne, was sie heute vorhätte, war plump. Ihm zu plump. Man hat ja auch so seinen Stolz. Und einfach plump. Er wollte ihre Intelligenz nicht beleidigen. Komplimente kämen nicht in Frage. Sie müsste eine Oberflächlichkeit unterstellen, den Vorschub von Allgemeinplätzen durchschauen. War sie doch offenkundig nicht auf optische Wirkung aus. Seine spezielle Begeisterung, bezogen auf ausge­rechnet diese, von ihm festgestellte und daher vor allem ihn persönlich berührende Unscheinbarkeit könnte einer Unbekannten kaum anders als verquer, fast gezwungenermaßen seltsam vorkommen. Womöglich eher beleidigend. Die Glaubwürdigkeit von etwas wie: „Hallo, ich finde Sie so wundervoll unscheinbar“, war eindeutig so minimal, wie es unmittelbar blöd klang.

Komplizierte Darlegungen mussten scheitern. Es wäre schnell peinlich. In einem öffentlichen Raum schier unerträglich. Vor all den anderen Japanern furchtbar. Bei all den Problemen entdeckte er jetzt ein neues. Was, wenn sie bald ginge?

Das war die Lösung! Sie musste schließlich auch wieder gehen. Sie sah, wie er schon eruiert hatte, nicht nach endlosem Frühstück aus und es war eh bald Schluss damit. Er würde gehen und an den Aufzügen warten. Wie zufällig. Ein Telefonat oder Email auf dem Smartphone vortäuschen, bei ihrem Erscheinen wegen der Ab­lenkung vom Telefon beim Betreten des Lifts stolpern und so ein Missgeschick zur Kontaktaufnahme herstellen, höfliche Entschul­digung anbringen. Da konnte man sich vorstellen und vielleicht den Namen erfahren. So beginnt ein Gespräch.

Alter Trick. Funktioniert. Wahrscheinlich sogar bei Japanern.

Japanerinnen.

Guter Plan.

Ab sofort keine verfänglichen Blicke mehr in ihre Richtung und dezent das eigene Frühstück abwickeln, um dann über die Wiederaufnahme gelassenen Zeitungslesens eine zeitliche Puffer­zone aufzubauen, die sich am Fortgang des ihren orientierte, damit er nicht zu früh zu den Liften aufbrach. So eine Tageszeitung konnte man schließlich so lange lesen, wie man wollte und jederzeit weglegen, wenn man zum Beispiel zu einem festgesetzten Zeitpunkt, aber nicht früher als nötig, quasi zu einem Termin aufbrechen sollte.

Das wäre auf gewisse Art sogar den Tatsachen entsprechend. Genial.

Die hochflexible Tätigkeit des Zeitungslesens bot zusätzlich die Möglichkeit, unauffällig in Bewegung zu bleiben. Beim Umblättern den Stand der Dinge ohne augenscheinliches Interesse zu recher­chieren. Er studierte Abschnitte vorgeblich bewandert. Abschnitte des Wirtschaftsteiles. Die eine und andere Meldung schien es ihm auch angetan zu haben. Dann belustigte er sich über die geliebte Comicseite, um sympathisch zu wirken, sollte es doch zu einer unbemerkten Wahrnehmung seitens der Angebeteten kommen.

Geschickt erkannte er an der abnehmenden Nahrung vor ihr und darauffolgenden Zurechtlegung des Besteckes auf dem Teller den kurz bevorstehenden Abschluss ihres Morgengedecks. Beinahe wäre ihm der Lesestoff ausgegangen. Seine Nervosität quälte Tom dabei, seine Szene zu vollenden. Bei einer so zierlichen Person wäre ein Nachschlag unwahrscheinlich. Sie würde nicht verweilen und Löcher in die Luft gucken. Da würde er sich zu sehr täuschen. Dem ernsthaften, wie unwillkürlich mechanischen und dadurch in seiner Einbildung echt wirkenden Blick auf seine Armbanduhr, es hingen für einen Frühstücksaal, des bevorstehenden Tages wegen zweckmäßig Uhren an den Wänden, fügte er das sportliche Zusammenfalten der Zeitung hinzu, woraufhin er im Vergleich zu seiner vorangegangenen Wissbegierde, die Umgebung betreffend etwas sehr teilnahmslos aufstand und zielstrebig den Saal verließ. Das könnte reell in plötzlicher Eile Erklärung finden.

Inzwischen war er erst richtig nervös geworden. Er hatte vergessen, der Dame am Eingang freundlich zuzunicken. Das geschah nicht aus Zeitdruck. Er durfte sich ja wohl nicht umdrehen. Im Gang versuchte er zu schlendern, was dem jüngst verstrichenen Hand­lungen widersprach. An den Aufzügen druckste er herum. Wie lange konnte man da lungern, ohne komisch zu wirken? Ohne einen der Knöpfe zu drücken, gedrückt zu haben. In Richtung des Saales durfte er nicht schauen. Erst mal nicht. Wenn es die sprichwörtlichen Kohlen zum Sitzen gab, so stand Tom auf brennenden Spießen. Sekunden dehnten sich. Minuten blähten sich zu Dekaden. Andere Hotelgäste, ein japanisches Paar, erschienen, erfassten den nicht aktivierten Anforderungsknopf, sahen verdutzt zu Tom, der eigene Verwunderung vortäuschte und Gesten vollführte, die eine Zerstreutheit zur Ursache des Versehens veranschaulichten. Er wedelte mit seinem Mobiltelefon. Daran hielt er sich unbewusst fest. Die Nervosität war reichlich echt und ungelegen. Aus Toms Warte verstanden. Lächeln. Der Mann hatte den Knopf inzwischen betätigt. Höllische Sekunden verstrichen bis der Aufzug kam. Tom suchte vermeintlich etwas auf dem Bildschirm des Fernsprechgerätes. Das Paar stieg ein. Tom blieb zurück, was ihm noch weit entgeistertere Blicke des Paares durch die sich schließende Metalltür verschaffte.

Eine fröhliche alte Europäerin, Portugiesin oder Spanierin flitzte heran, setzte eine ironisch enttäuschte Miene auf, lächelte ihn an und trat in einen gleich anschließend ankommenden Fahrstuhl ein, den vier Personen zügig verlassen hatten. Drei schnatternde Thai Teenies aus besserem Hause und ein ernster, sachlich leger gekleideter Amerikaner mittlerer Jahre, Halbglatze, leicht untersetzt.

Keiner davon nahm Tom zur Kenntnis. Die Portugiesin machte weiter lächelnd auffordernde Bewegungen, ihr in dem Lift Gesellschaft zu leisten. Wie es aller Logik zu Folge sinnvoll erschien. Tom winkte freundlich ab. Die Türen schlossen sich auch diesmal, ohne ihren Zweck an ihm erproben zu dürfen. So als Tür wollte man einfach durchschritten werden. Wieder konnte die kleine alte Frau ihr Minenspiel der Betrübtheit aufführen, lächelte aber durch den letzten Spalt abermals. Tom zögerte. Seine zum erfolgreichen Einstieg in die gewünschte Kontaktaufnahme notwendige Haltung schmolz dahin, wie Eis in der Mittagshitze der Stadt. Er drückte den Knopf. Bevor noch jemand kam. Die unendlichen Zeiteinheiten begannen. Er hielt es nicht mehr aus und drehte den Kopf nach rechts.

Während sie auf ihn zukam, sah sie ihm direkt in die Augen. Unverblümt offen und eisengerade. Ihre Gesichtszüge blieben regungslos. Sympathisch und verbindlich, aber ohne erkennbare Emotion. Tom versuchte eine auszumachen und war doch ein bisschen erfahren mit der scheinbaren Ausdruckslosigkeit asiatischer Gesichter. Man musste nur die Signale zu deuten wissen. Die Mimik der Asiaten unterschied sich von der extrovertierten, europäischen Version. Trotzdem existierte eine. Vielleicht könnte er ein minimales Lächeln, ein klitzekleines Hochziehen der Mund­winkelenden nachweisen, das einem Gesicht diesen sympathischen Ausdruck verlieh. Oder bildete er sich das ein. Wunschdenken. Wenn, waren es allerhöchstens o,o2 mm ihrer Mundwinkel.

Immerhin auf beiden Seiten zusammengerechnet fast ein halbes Zehntel.

Diese Gedanken hätten sie wirklich amüsiert und ihr einen deutlicheren Ausdruck guter Laune abgerungen, dessen Lächeln sie nicht verhindern wollte oder hätte können. Die Konzentration des Blickes auf den jungen Mann, der bemüht war wieder auf das Display seines Smartphones zu schauen, ließ sie nichts dergleichen erahnen.

Tom war irritiert. Sie kam auf ihn zu. Er drückte auf den Liftknopf. Zu seinem Glück öffnete sich die Tür, der bereits zuvor erfolgten Betätigung geschuldet, praktisch im folgenden Moment. Allerdings war das nicht sein Plan. Er hatte mit einer Anfahrt aus den höheren Stockwerken gerechnet und wollte in der Zeit seine Stolperszene einleiten. Nun trat er wie selbstverständlich, jedoch, um nicht durch eine unbegründbare Verzögerung seltsam zu wirken, zwangsläufig in die Aufzugstür, den Blick weiter scheinbar auf das Telefon­display gesenkt und höflich zu ihr, wie zu jemand, der einem so angenehm wie bisher unbekannt erschien, hinüber schielend. Sie fixierte ihn ununterbrochen. Er hielt die Tür den Moment bis sie da war auf, sie trat hinein und vermeldete in einwandfreiem Englisch mit eindeutig amerikanischem Akzent und ganz unverfänglich: „Thank you for waiting.“

Tom war bis ins Mark gerührt. Der sanfte Klang ihrer Stimme schenkte ihm eine liebevolle Flut an Zuneigung. Er hatte versucht, noch ein wenig den Gleichgültigen durch die Telefonstarrerei zu spielen, brauchte jetzt aber einen verräterischen Moment zu lange, um sich zu fassen. Sie waren vorerst allein im Lift. Zu zweit. Tom blickte auf. Der Stolperplan war dahin. Er traute sich vorsichtig und langsam, in ihre Augen zu sehen. Er suchte noch immer das erlösende Lächeln. Wenn es denn da war, musste es sich um eine fünfzigprozentige Steigerung auf 0,03 mm der Mundwinkel handeln.

„I mean it“, sagte sie. Beinahe hätte er das Mobiltelefon fallen gelassen, der reinen Muskelentspannung wegen. Es musste am Kreislauf liegen. Tom war in einem Aufzug zum Himmel. Sie sah ihm weiter direkt in die Augen. Die Intimität des winzigen Fahrstuhlraumes war optimal. Man konnte nicht weg. Zu zweit. Keine Zeugen.

„Have you got any plans for this evening?“, fuhr sie fort. Die Tür ging auf. Die Gäste davor realisierten, dass diese Fahrt weiter nach oben gehen sollte, und hielten sich mit Einsteigen zurück. Sie wollten hinunter.

Die Tür schloss.

„I am free“, brachte Tom zum Glück knapp heraus und es war die richtige Antwort. „My room no. is 2324. Will you give me a call around seven?“ Ihrer beider Blicke waren irgendwie eingeloggt, aber Toms Verzauberung rührte einfach von ihrer wundervollen Stimme. „Sure“, antwortete er und lag auch damit richtig. Die Tür öffnete sich. 23. Stock. Sie löste den Blick und verschwand. Tom blieb selig zurück. 25. Stock. Aussteigen Tom.

Er schwebte durch den Flur in sein Zimmer als ihm einfiel, dass ihm nicht so recht klar war, wie er in ihrem anrufen sollte. Er sah auf eines der Telefone. Da stand die Lösung auf einem Aufkleber mit Nutzungserklärung und steigerte seine Stimmung erneut. Einfach die 8 vorwählen und die Zimmernummer. Unglaublich praktisch diese Fünf-Sterne-Hotels.

Nach endlosen Minuten weiter, horizontloser Blicke über Bangkoks Dächer, in welchen nur die Vision dieser unscheinbaren Frau erschien, fiel ihm ein, dass er an dem Tag ein Studio besichtigen wollte. Erst als er ihre wenigen, an ihn gerichteten Sätze und den Klang ihrer Stimme zigmal in seinem Geist wiederholt hatte und sich in der Erinnerung ihrer Schenkel und der Nase, ihrer inzwischen unbedingt liebenswerten Unscheinbarkeit ergehen konnte, dachte er daran, auf die Uhr zu sehen. Ziemlich übermannt von der leichten Fügung der Kontaktaufnahme, fand er sich immer noch nicht verliebt. Tom beglückte sich darüber, dass ihn sein Gefühl nicht getäuscht hatte. Er mochte diese Frau und sie mochte ihn. Gegen die Vernunft, gegen seine Gewohnheit, gegen seine Erfahrung über seine Neigung, aus heiterem Himmel. Er dachte jetzt an Freundschaft, was weit unrealistischer war, als reiner Sex. Kurz gesagt, ging seine romantische Seele mit ihm durch.

Das einzige, was wirklich klar sein mochte, weil es einigermaßen nachweislich erkennbar war, blieb der naheliegende Umstand, dass sein auffälliges Interesse an ihr, seine langen Blicke, natürlich nicht unbemerkt geblieben waren und die unscheinbare Dame als Alleinreisende, vielleicht alleinstehende Frau der Neugierde eines gutaussehenden, jungen Europäers nicht abgeneigt gegenüberstand. Tom war doch immer noch sehr naiv. Gerade Frauen betreffend. Der unverbesserliche Romantiker. Dann wieder nicht.

Wie hätte sie seine aufmerksame Beobachtung im Frühstücks­restaurant übersehen können? Hätte sie ja vielleicht blöd sein müssen. Ihre Konsequenz, diese vorerst zu ignorieren, war nicht als Abneigung zu deuten, sondern war taktisch oder zumindest begründet. Wirklich nicht abwegig. So viel verstand auch der in seinem selbstsüchtigen Narzissmus einfältige Tom. Er war zu klug, um sich von seinen sehnsuchtsvollen Träumereien blenden zu lassen und zu weise, um sich nicht seiner träumerischen Glückseligkeit hinzugeben, solange es ging.

Er hatte diese Frau kennenlernen wollen und es war entgegen seiner Bedenken so einfach passiert.

Im Moment war sein Glück perfekt.

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