Читать книгу Skyline Deluxe - Marianne Le Soleil Levant - Страница 6

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Das Boot glitt am Wat Arun, dem Tempel des Morgens, vorbei.

Wat Arun war beleuchtet.

„Ich mag, wenn sich die bunten Lichter in den kleinen Wellen und Kringeln des Wassers spiegeln. Es ist so ein unvorhersehbares, scheinbar zufälliges Spiel. Hunderte, Tausende Lichter tanzen wild durcheinander und doch kommt mir das wirbelnde Mosaik vollkommen logisch vor.“ Chi's Augen leuchteten auf den Fluss.

Sie nahm über den Tisch Thomas' Hand.

„Ich mag deine Hände. Du hast schöne Hände.“

„Es ist wie ein Tanz zu stummer Musik. Musik für die Augen. Ein zigfacher Kontrapunkt. Für die Ohren wäre ein so vielstimmiger Kontrapunkt kaum harmonisch“, antwortete Thomas.

Ein Longtailboot durchkreuzte mit knatterndem Motor die Idylle.

„Das scheint grob. Schau wie jetzt die Farblichter in der Gischt der Bugwelle rauschen.“

„Du bist sehr romantisch“, stellte Chi fest.

„Hm, ich weiß nicht. Ich glaube ich bin das, was viele Leute romantisch nennen. Für mich ist es normal, so zu sein. Romantisch hört sich nach Traumtänzer an. Es soll doch auch immer heißen, man sei unrealistisch. Sie nennen einen romantisch und nehmen dich nicht ernst. Ich denke ich bin poetisch.“

„Was ist der Unterschied?“

„Das Wort klingt anders. - The word sounds different.“ Sie lachten.

„Ich nehme dich ernst“, sagte Chi. „Mir gefällt wie du redest. Mir gefällt deine Stimme. Der männliche Sanftmut darin.“

„Danke. - Der weibliche Liebreiz in deiner Stimme schenkt mir auch ein sehr wohles Gefühl.“

Funkelnde Blicke wechselten zwischen ihren glanzweichen Augen.

„Weißt du“, fuhr er fort, „ich halte mich in dieser romantischen Art für äußerst realistisch. Vielleicht realistischer als viele von diesen angeblich vernünftigen und weltgewandten Geschäftsleuten und Rationalisten. Von spießigen Ordnungssklaven und Rechthabern nicht zu reden.“

„Nein, nicht von denen reden.“

„Ich bin ja kein Narr und weiß sehr wohl, was zu tun ist und wie es zugeht in der Welt. Deshalb muss es mir noch lange nicht gefallen, muss ich nicht dabei mitmachen oder mich einfügen. Ich möchte einfach kein dunkelbeiges Cord-Sakko tragen.“ Sie lachten.

„Was ist ein Cord-Sakko?“

Chi hatte gelacht, weil er lustig klang. Thomas erklärte diesen Cord-Stoff, der einmal in Deutschland als Ausgeburt biederer Kleidung galt.

„Aber es ist weich und bequem?“, fragte sie nach.

„Egal“, bestand Thomas auf seine Sicht, „wir sind Piraten und ziehen so was nicht an.“

„Ja, Freibeuter“, lachte Chi mit.

„Ich finde es jedes mal wieder irrsinnig faszinierend, wenn ich anfange darüber nachzudenken, dass all diese wunderschönen Erscheinungen nur die Oberfläche einer dahinterstehenden Realität sind. Der gerade nach Maßstäben einer akademischen Vernunft höchst realistischen Ebene der Nuklearteilchen. Reine Physik. Eigentlich steht die Ebene darüber. Wie man es nimmt. Äh, verstehst du mich? Atome, Moleküle, Protonen, Elektronen und so Zeug. - … and stuff like that.“

„Keep going. - Ja, ja sprich weiter. Ich finde Atome romantisch.“

„Du bist verrückt“, neckte Thomas sie.

„Nein, realistisch“, gab Chi zurück.

„Wenn man darüber nachdenkt, dass alle Dinge aus Atomen, Molekülen, ihren Verbindungen, Wechselwirkungen, Reaktionen bestehen und hervorbringen, was wir riechen, schmecken, sehen, dass es sich in Aggregatzuständen abspielt, unsere Augen und Ohren Schwingungen wahrnehmen, die unser Gehirn in diese traumhaften Erlebnisse umwandelt, die Vielfalt darin, unsere Ge­fühle und Schlussfolgerungen, bewusste und unbewusste Abläufe des Bewusstseins bewirkend und noch viel mehr, kapituliert doch die Vernunft, gerade weil sie die unfassbare, durch reine Vernunft unfassbare Komplexität dieser Realität anerkennt.“

Chi fand das toll. Man denkt viel zu wenig darüber nach.

Wahrscheinlich wissen die meisten Menschen nicht mal davon.

„Hab ich noch nicht einmal einen Bruchteil der Vorgänge nur einer Viertelstunde dieses Abends beschrieben, ist damit die subatomare Ebene noch gar nicht berührt. Leptosomen, Neutrinos. Quanten­physik ist schon nicht mehr ganz neu und sie behaupten schon die Existenz von Subquanten.“

Davon wusste Chi auch nicht eigentlich viel.

„Was sind denn Subquanten?“

„Ich bin gar nicht sicher, ob ich das wirklich weiß. Ich bin gar nicht sicher, ob die Entdecker es schon so genau wissen. Es handelt sich um wissenschaftliche Modelle, die Welt zu erklären. Angeblich die Sichtbare. Aber es wirkt schon langsam so, als ob sie sich in Theo­rien versteigen, die zwar auf Experimenten und Formeln beruhen, aber das hängt alles auch von der Richtung ab, in die man sucht. Die Ergebnisse unterliegen den Anordnungen und Messparametern, den Mitteln, die zur Verfügung stehen, dem eigenen Geist, dem Geist der Wissenschaftler. Das sind auch nur Menschen. Intelligent hin oder her.“

„Ich habe auch eine Versuchsanordnung, ein Experiment aus meinem eigenen Geist geschaffen“, sinnierte Chi plötzlich sehr nachdenklich.

„Vielleicht habe ich dich gesucht.“

„Gut möglich“, sagte Thomas, „und ich habe dich gefunden“, scherzte er.

„Das ist großartig“, sprach Chi wie in einer Trance.

„Wir sind Wissenschaftler!“, frohlockte Thomas jetzt.

„Bei einem Experiment weiß man nicht, was dabei herauskommt.

Ich bekomme gerade ein bisschen Angst. - Vor mir.“

„Brauchst du nicht. Es klappt doch alles sehr gut. Ich pass auch auf.

Hab Vertrauen.“

„Blendend - Splendid. - Vertrauen in einen tollpatschigen Schenkel­starrer, der einen misslungenen Plan des Zusammenstoßes zum Kennenlernen schmiedet. Da verlasse ich mich lieber wieder auf mich selbst“, fasste sich Chi schnell und lachte Thomas an.

„Ich meinte das mehr allgemein.“

„Ich meine das auch allgemein. Ohne deine unglaublich dreiste, wie hilflose Initiative deiner Schenkelfaszination und dem Gefühl der Anziehung nachzugeben, wäre ich kaum auf dich aufmerksam geworden.“

„Einerseits könnte man denken, es sollte dir zu leicht gemacht werden, andererseits ist es nicht naheliegender, einem Tollpatsch zu vertrauen, der keine Hinterlist erfolgreich verwirklichen könnte, als einem abgeklärten Strategen, dessen wahre Ziele verborgen sein könnten?“

„Das sind nutzlose Überlegungen. Man hat es im Gefühl und entscheidet sich. Deswegen sage ich, dass mir meine Experimentier­freudigkeit zu denken gibt. So kenne ich mich nicht.“

„Deshalb sage ich, es klappt doch bisher ganz gut.“

„Rhetorisch bist du sicher kein Tollpatsch.“

„Ich liebe Worte. Buchstaben. Zeichen. Manchmal sind sie schlimm. Sie sind auch ein Gefängnis. Für das Höchste sind Worte zu schwach.“

„Mir gefällt, was du sagst.“

Trotzdem die Worte es nicht beschreiben konnten, machte Thomas weiter mit seiner Realitätsebenenweltschau.

„Betrachtet man diese unendlichen Funktionen und Wandlungen wechselseitiger Interaktion nur auf naturwissenschaftlicher Basis der Chemie, Physik, Biologie, neben den stofflichen, wie wir gemeinhin denken nicht belebten Materien, erst die Lebewesen, wird alles noch viel wunderbarer.“

„Versuchst du mich gerade einzuwickeln?“

„Hm, Ja. Oder besser: Zu bezirzen.“

„Bezirzt hab ich dich. Das heißt, meine Schenkel haben dich bezirzt. Worte sind zu schwach. Was bedeutet bezirzen?“

Sie blickte neugierig auf die Antwort ganz ruhig.

Thomas erzählte ihr die Geschichte von Odysseus und Zirze.

„Es ist eine antike Sage.“

„Eine symptomatische Beispielerzählung menschlicher Reaktionen, Schwächen, Eigenschaften. Eine Art Lehrstück?“

„Angeblich soll die ganze Story im Kern wirklich geschehen sein. Die Irrfahrt des Odysseus, die Odyssee ist ja viel umfangreicher.“

„Das gibt es in unserer Kultur auch. Aber das führt weg von uns. Du brauchst mich nicht bezirzen. Lass uns wieder schauen.“

„Willst du meine Theorie nicht hören?“, war er mit Schauen eigentlich einverstanden, aber doch etwas in seiner Eitelkeit als großgeistiger Weltversteher gekränkt.

„Setz dich zu mir herüber. Ich zeig dir, was du mir sagen wolltest.“

Thomas setzte sich von Gegenüber auf ihre Seite des Tisches neben sie.

Es machte einen deutlichen Unterschied, ob man das Ufer von sich wegtreiben sah, das was gerade passiert war, vergehen sah oder dasselbe Ufer auf sich zukommen, quasi in die Zukunft sah. Sie blickten jetzt beide nach vorne.

Sie schwiegen.

Es dauerte nur wenige Momente, bis in beiden ein wohlig, warmes Gefühl aufstieg. Es nahm zu und nach zwei, drei Minuten stieß Chi Thomas mit ihrem Ellenbogen leicht an und bedeutete ihm seine Hand unter den Tisch zu legen. Sie nahm sie mit der ihren. Sie galten den Gästen an den umliegenden Tischen ohnehin als Paar.

Es waren Ausländer. Eine Japanerin und ein Farang.

Keine Möglichkeit, Chi mit einer Thai, gar einem Freudenmädchen oder Heiratswilligen zu verwechseln. Die wenigen Touristen auf dem Boot kümmerten sich sowieso nur um sich selbst. Die Thai waren mit sich und ihren Familien beschäftigt. Was interessieren schon die Ausländer? Die chinesischen Familien beobachteten das ungewöhnliche Paar mit amüsierter Neugierde zwischendurch immer wieder. Offenbar harmlose feine Leute mit einem momentan ausgeprägtem Hang zu zweisamen Träumen. Man konnte es in ihren Augen erkennen. Auch von den anderen Tischen.

Händchenhalten in der Öffentlichkeit mochte sich nicht ziemen, doch unter dem schamvollen Schirm der Tischplatte konnte es im Lichte des sinkenden Tages auf dem Chao Praya verständnisvoll übersehen werden. In Momenten einer Pause sahen sogar die Mädchen des Personals kurz hinüber und kicherten. Nicht lange und Chi zog Thomas' Hand an die Innenseite ihrer Schenkel. Das Fleisch war durch den feinen Stoff der Seidenhose gut zu spüren. Sie vibrierten in Schüben. Thomas bekam eine ziemlich konkrete Erektion. Er begann, sie zu streicheln. Nur ganz leicht erst kleine Kreise, ganz kleine. Dann ein paar Zentimeter. Langsam. Mit drei Fingern bald. Seine Erektion wurde fester. Er trug eine bequem weite Jeans mit festem Stoff. Die besten Copy-Levi's. Praktisch so gut wie die Originale. Da fiel es nicht so auf. Chi bebte. Den Blick entspannt in die Ferne gerichtet. Ihre Hormonströme befeuerte die Öffnung ihrer Wahrnehmungstore zusehends.

Das Schauspiel des Flusses mit dem vorbeiziehenden Ufer vermischte sich im Rausch mit den wechselnden Düften, unzähligen Klängen und dem Lichtermeer aus Tempelbeleuchtung, Gaststätten, Etablissements, Wolkenkratzern, Brückenkonstrukten, Spiege­lungen und dem Sternenhimmel. Längst hatte Chi ihre Finger in Richtung Thomas' Schritt bewegt und nur liegen lassen.

Er war steinhart.

Gut zwanzig Minuten sprachen sie kein Wort. Manchmal blickten sie sich kurz an. Kurz. Mehr ertrugen sie noch nicht. Um gleich wieder in die Schau einzutauchen. Alles um sie herum trat hinter einem Schild aus warmen Flausch zurück, der sie einhüllte. Ein fluoreszierender Flaum aus buntem Licht und weichem Klang. Durchzogen von scharfen Adern heißen Chilis, die durch die Luft wehten. Alle, auch die Kellner, waren klug genug, sie nicht zu stören.

Die Anlegestelle des Restaurantbootes kam ins Blickfeld. Erst fern erkennbar an den darum liegenden, charakteristischen Bauten, dann schleunigst sich nähernd. Chi seufzte.

Sie streckte alle fünf Finger ihrer Hand sanft auf Thomas' Schenkel aus, zog sie einen Moment später hinüber zu seiner.

Sie flüsterte in sein Ohr: „Du musst in spätestens zehn Minuten aufstehen. Besser du versuchst dich etwas zu beruhigen. -… try to come down a bit.“

Chi nahm seine Hand und führte sie zurück auf seine Seite, ließ sie los und hob ihre vorsichtig und unauffällig wieder auf den Tisch. Thomas legte seine Hand auf den Tisch. Auch er seufzte.

„Danke“, entkam es ihm.

Volles Zehntelmillimeter Mundwinkellächeln.

„Erzähl wieder ein bisschen über Subquanten. Das bringt dich runter.“

„Stimmbandarbeit regt die Hormone eher an.“

„Ja, aber das Formulieren lenkt dich ab. Gleich bringen sie die Rechnung.“

Was man für Probleme bekommen konnte, wenn man keine hatte, vielmehr rundherum glücklich war, sogar weit glückseliger, als man es sich hätte träumen beziehungsweise planen lassen. Zum Beispiel eine auch aufgrund der an sich zu befürwortenden Größe des Geschlechtsteils schwer zu verbergende und auch sonst hervor­ragend erfreuliche Erektion. Eine Sache also, die nicht als für sich gesehen unerwünscht und einerseits nicht ohne Anlass, wie dem folgend, also angebracht und rein dem Befinden der beiden verpflichtet vollkommen angenehm war. Im Gesamtzusammenhang der öffentlichen Umgebung erschien sie, trotz der Natürlichkeit im Zustandekommen und dementsprechender Vertrautheit aller Menschen mit dem biologischen Effekt jedoch höchst unpassend und zum Auslöser quasi umfassender und sicher auf Seiten der ursächlichen Betreiber nicht geringerer Peinlichkeit geeignet.

Was wäre eigentlich so schlimm daran, wenn sich die Liebe eines Paares in ihrer körperlichen Auswirkung nicht verstecken ließe? Musste man das? Liebe verstecken.

Intime Körperreaktionen Fremder, seien sie auch noch so attraktiv, zählten für die meisten Menschen zu den nicht mitteilungswürdigen Ereignissen. Umgekehrt trachteten sie nicht danach die eigenen allgemein zu verbreiten. Unaufgefordert, wie das wohl die Regel wäre, die Öffentlichkeit damit zu konfrontieren, blieb fragwürdig und konnte nicht auf breite Zustimmung hoffen. Insgeheim freundete sich Chi belustigt mit der Vorstellung an, sie müssten gleich eine beim Betreten des Bootes noch nicht vorhandene Aus­beulung in Thomas' Hose an verdächtiger Stelle durch Verhalten und absolute Nichtbeachtung ignorieren, obwohl diese niemandem entgehen konnte, der nicht selbst gerade seine ganze Konzentration auf vielleicht ähnliche Umstände seines Partners oder anderweitig die Sinne sehr in den Bann ziehende Inhalte verwandte und deshalb wirklich nichts davon mitbekäme. Selbst aus den Augenwinkeln und besonders bei einem dem allgemeinen Interesse soweit ausge­setzten Paares wäre da nichts zu leugnen. Es bedürfte aller nur möglichen Diskretion.

Chi selbst täte sich damit leichter. Es wäre ja nicht ihre Erektion. Ihr zu Ehren zwar, aber war das nicht ein Kompliment? So sehr sie verantwortlich sein mochte, so wenig konnte man ihr das Bestehen zu ungünstigen Bedingungen vorwerfen. Sie würde nicht so bald, wenn überhaupt jemals, nach Bangkok zurückkehren. Über Thomas hing wenigstens ein kleines Damoklesschwert, ein Damoklesdolch der langen Erinnerungsspannen chinesischer Geister, sollte er je einen der Anwesenden wiedertreffen. Mindestens das Personal würde noch Tage oder Wochen darüber lästern. Chi entschied ihren Teil zum Abklingen des in der Optik ein vorhersehbares Ärgernis gebärende Wohlbefinden sexueller Triebkraft beizutragen. Momen­tan vereinfachte das den Fortgang der abendlichen Ereignisse.

Sie sträubte sich nicht. Sie hätte nicht beschreiben wollen, wie sehr ihr die ungewohnte Macht, seine Stoffwechselgirlanden zu steuern, gefiel. Wozu? Man genoss das lieber. Gewissensbisse brauchte sie nicht zu entwickeln, war sie doch bereit ihm in Aussicht stehende Erfüllungen zu bieten, sollte er sich bis dahin nicht total daneben benehmen oder mit Hilfe einer anderen unerwarteten Verfehlung dies zu verhindern wissen. Jetzt war es angezeigt, sich mit Rücksicht auf die Situation davon abzukehren. Das einzudämmen, darüber mitzubestimmen, machte nicht viel weniger Spaß.

„Erzähl mir jetzt was über wunderbare Lebewesen“, nahm Chi mit Betonung auf jetzt den Faden wieder auf, um Thomas über seine lokalen Durchblutungsspitzen hinweg zu helfen.

„Oder soll ich die Rechnung übernehmen?“ Das half.

Hatte Thomas einen Augenblick nur den Wiedereinstieg in den Pantheismus als seiner Selbstverliebtheit dienliche Methode zur Genitalverflachung gesehen, riss ihn die komische Idee, Chi könnte bezahlen, so unvermutet aus den Bahnen seiner philosophischen Konstrukte, dass seine Erregtheit aus seinem Geist und somit faktisch verflog. Er vergaß sie sozusagen und die Hälfte der Arbeit war getan.

„Spinnst du?“, wollte Thomas fragen, hielt sich aber ob der, trotz schon schön gelungener Nähe immer noch zerbrechlich flackernden Flamme ihrer neuen Freundschaft zurück und sagte: „Wieso denn das?“

„Funktioniert es?“, fragte Chi zurück.

Thomas schmunzelte. „Leider gut.“

Chi nickte mit ihren Augenlidern und einem Blick zur Seite.

„Lass jetzt dein Staunen über die Vielfalt der Wesen vernehmen.“

Thomas setzte an, seine Bewunderung einschließlich ehrfürchtiger Verwunderung für den göttlichen Bauplan zu beschreiben: „Wenn man überlegt, dass Alles und Jedes, dabei des unübersehbaren, ja bis dato in seiner Gesamtheit nicht einmal von der gut entwickelten Wissenschaft der Neuzeit erfassten Artenreichtums mit noch einzelnen Varianten, deren Evolution immer weiter geht ...“

Da rückte der Kellner mit dem bill an, den er dem Herrn am Tisch reichte. Thomas hatte seine Rede angesichts des auf sie zu kom­menden Chinesen unterbrochen und überflog schnell die handge­schriebene Liste ihres Verzehrs. Er zweifelte keineswegs an der Richtigkeit. So ungern Thai Spannung durch Korrekturansprüche aufbauten, so sehr gehörte es sich doch gerade bei den zahlenorien­tierten Chinesen, die Summe durch höfliche Prüfung zu bestätigen, bevor man selbstverständlich bezahlt. Bestätigung bedeutet nicht zuletzt Anerkennung.

Chi hätte das bezahlen mögen. Er hatte das Taxi bezahlt. Hatte nicht sie ihn auf den gemeinsamen Abend eingeladen? Sicher, er wollte das sowieso anbieten. Sie war sicher, mehr Geld als er zu haben. Er hatte natürlich genug. Sie hätte das gerne bezahlt, nicht um zu zeigen, ich will nichts von dir annehmen, sondern zu sagen, du brauchst nicht um mich werben, ich werbe schon um dich. Nicht um es den Kellnern oder anderen Personen in der Umgebung kenntlich zu machen. Sie hätte ihm das Geld unter dem Tisch zugesteckt, um den öffentlichen Schein zu waren. Sie merkte, das würde so oder so keiner verstehen.

Thomas' Erektion ging gegen null. Chi hatte in ihren Gedanken gleichmütig den Zahlvorgang nicht wahrgenommen, teilnahmslos zugesehen.

Kaum zwei Minuten bis zum Andocken mit einem deutlichen, aber harmlosen Poltern, wenn das Boot die Autoreifengummipolsterung des Piers trifft. Sie hatten freundlicherweise gewartet und sie als Letzte abkassiert. Dafür nahte das Ende der Fahrt schneller. Sie würden auch bis zum Schluss sitzen bleiben, während die anderen Gäste ungeduldig vom Boot nach Hause drängten.

Thomas schwadronierte sicherheitshalber noch ein bisschen.

„Sprechen wir nur über so etwas Wunderbares wie Vögel, Möwen, Strauße, Kolibris, Tauben, Papageien, Fasane, Hühner, Pinguine, Pfauen, Adler, Störche, Falken, Schwäne, Kanarienvögel, Geier, Wellensittiche, Quetzale ...“

„Was sind denn Quetzale?“, fragte Chi.

„Guatemaltekisches Nationalwappentier oder wie die korrekte Bezeichnung ist. Gibt es nur in Guatemala. Sehr hübsch. Singt sehr schön. Zur Abwechslung mal fast ausgestorben. Jetzt aber geschützt. Sieht gut aus mit der Rettung. Es gibt immer noch Leute, die ihn genau wegen der Seltenheit jagen, um so etwas Seltenes selbst erlegt zu haben und als Beweis dafür die bunten langen Schwanzfedern zu besitzen.“

„Pervers“, sagte Chi. Thomas nickte. Fast alle Gäste hatten nun geschafft, das Boot in dem geschwätzigen Pulk zu verlassen.

„Es bleibt keine Zeit.“

„Ich glaube, ich habe dich verstanden. Ist dein Unterleibszustand wieder gesellschaftsfähig? - Is your private area in official state?“ Thomas nickte. Dann gingen sie unter ergeben sich lächelnd verbeugenden Gesichtern nah nebeneinander still über das Landungsbrückchen. Zurück auf den betonierten Teil Bangkoks.

Chi hatte verstanden, er wolle die unübersehbare Dimension der Schöpfung darlegen. Wie unterschiedlich und einzigartig nur bei einer Art Gattungen und Eigenarten sind. Jede in sich schlüssig, im Vergleich der Lebensweisen extrem voneinander abweichend. Mit Gelegenheit zu Schönheit und Stolz im Dasein und in diesem Fall einschließlich der epischen Fähigkeit des Fliegens versehen. Man hätte mit allen Säugetierarten weiterdenken, Amphibien, Fische und bald Insekten, sowie Krustentieren, Klein- und Kleinstlebewesen nennen können. Begeisterung über die Ausgestaltungen der Feder bis zu Schuppen, von Lungen, Kiemen und den Augen und Sinnes­organen. Bakterienwelten und Viren, Pflanzen boten leicht noch mal dasselbe an Vielfalt, wenn nicht mehr. Wieder die ausufernde Schönheit und Abwechslungsreichtum unbekannten Ausmaßes. Noch dazu gab es die Mineralwelt. Ferne Erkenntnisse zu atomarer, nukleare, subatomarer, nicht genug darunter Quanten- und Sub­quantenwelten. Verschiedene Aggregatzustände blieben da profan.

Und über uns ein Sternenzelt in der Milchstraße als Galaxie, die im seitlichen Bereich eines Universums liegt, dessen einzelne Bausteine, wie ein Jupiter für sich, unsere Vorstellungskraft über­steigen, das aber auch schwarze Löcher als allgemein bekannt enthält und, rätselhaft wie es dem Menschen zum absolut überwie­genden Teil noch immer ist, nicht unbedingt das einzige sein muss. Worüber man schon staunen kann.

Ihre frech doppeldeutige Frage nach dem offiziellen Stand hatte Thomas in dem angenehmen Eindruck bestärkt, sie spräche wie eine alte Freundin, ohne gehemmte Scheu vor den aktuellen Anford­erung und deren präziser Beschreibung.

Sie war schon wieder im Spielmodus.

„Und was jetzt?“, fragte Chi so unschuldig wie ihr möglich.

Echt ziemlich unschuldig.

„Wie spät ist es?“ Thomas fragte sich selbst. Er antwortete auch selbst: „Kurz nach halb elf. Es wird schwierig sein, irgendwo eine Massage zu bekommen, außer in Khaosan.“

„Nah, ich will gar keine jetzt. Da lieg ich nur alleine auf einer Matte und hab nichts von dir“, stellte Chi praxisnah fest.

Sie fand die Massage-Idee nicht gut.

„Eine Bar?“, fragte Thomas.

„Ich trinke keinen Alkohol.“

„Gut, ich bin nicht scharf darauf“, bestätigte Thomas.

Chi freute das.

„Du willst doch nicht schon zurück ins Hotel?“, befürchtete Thomas das Ende dieses schönen Abends nahen. Chi neigte den Kopf.

„Dann komm wenigstens noch mit zu Tesco, Sushi kaufen“, forderte er ein.

„Du willst mit mir in einen Supermarkt? In der Nacht? Wir haben doch gerade gegessen“, verkündete sie die naheliegendsten Punkte ihres Unverständnisses. Sie war ehrlich überrascht über diesen Aspekt ihres Experimentes.

„Warum nicht? Beeilen wir uns. Die machen um elf Uhr zu und am Schluss ist das Sushi immer alle.“

Ohne Vorwurf musste sie doch noch nachfragen, wie er auf die Idee kam, mit ihr durch Supermarkthallen zu ziehen. Ja, die schon abgewiesenen Vorschläge waren nicht nach ihrem Geschmack und sie fand auch, er hatte sich nicht genug Mühe gegeben. Aber ein Supermarkt? Originell.

„Einkaufen macht Spaß. Außerdem müssen sich Beziehungen im Alltag bewähren“, kokettierte Thomas.

„Wir werden nicht heiraten.“, gab Chi kühl in die Argumentation.

Thomas lachte sie an.

„Wer redet von heiraten?“, zwinkerte er.

„Auch Freundschaften sind Beziehungen. Partyfreundschaften sind nichts wert. Komm einfach mit oder magst du kein Sushi?“

Er war sich seiner Sache jetzt sicher und winkte einem Taxi.

„Da ist gleich ein Tesco in der Nähe des Hotels.“

Immer noch ein bisschen überrumpelt kam ihr keinerlei Gegenvor­schlag in den Sinn. Im Sinne der Erinnerung an freies Geschehen­lassen folgte sie. Thomas gab dem Fahrer in seinem stolpernden Thai zu verstehen, den Tesco Lotus auf der Narathiwas anzusteuern. In diesem Taxi konnten sie sich nun freier verhalten. Dem Fahrer von Nachtschichten wäre es egal. Chi kämpfte mit einer kleinen Verärgerung, die sich aus Kontrollverlust, jäher Störung ihrer Idealromanze durch Einkaufszentren und aufrichtiger Verwirrung über den Fortgang zusammensetzte. Es war plötzlich so profan.

Doch Thomas wusste, was er tat.

Er wusste es nicht genau, aber es war das Richtige.

„Wieso denkst du schon wieder ans Essen?“, begann ihre logische Analyse.

„Ich bekomme in der Nacht meistens Hunger.“

Eine überzeugende Erklärung. Er rechnete offenbar nicht damit, dass es zum Sex kommt. Warum eigentlich nicht, dachte Chi. Dazu bestand doch Anlass. Wollten sie nicht immer alle Sex? Sie wollte. Sicher war sie nicht. Momentan erst recht nicht.

Thomas kümmerte sich gar nicht darum. Er erwartete nicht, dass es am ersten Abend zu Sex kommen würde. Seine Erwartungen, selbst die erotischen Hoffnungen, waren bereits übertroffen. Dachte man an das Frühstück zurück. Wer wollte glauben, das sei heute Morgen gewesen? Eine Ewigkeit.

Im Moment glaubte er, sie werden zurück ins Hotel fahren.

Das wollte er reichlich vordergründig und kindisch einfach hinaus­zögern. Der Sushi-Kauf ein Vorwand mit dem Vorteil auf wahrem Bedarf zu gründen. Machte es glaubhafter.

„Magst du keinen Sushi?“, fragte er noch mal.

„Hm, doch“, äußerte sie zögerlich. „Aber Sushi muss doch frisch sein.“ Da ging es schon los. Verpacktes Sushi aus dem Supermarkt. Was soll das sein?

„Ist es.“ Thomas sah sie an. „Leg die Krone ab, Prinzessin.“

Das saß.

„Wir Japaner sind mit Sushi etwas heikel“, startete sie einen letzten Versuch.

„Das Sushi ist doch für mich“, gab Thomas zu bedenken.

„Was fragst du dann, ob ich welches mag?“, war nur logisch.

Chi hatte Schwellenangst. Sie wollte nicht in ein Einkaufszentrum. Das störte ihre Idealvorstellung. Bei ihrer vor allem einführend stringenten Souveränität war sie vielleicht romantischer als der in mystischen Subquantenanalysen verstiegene Thomas. Oder war es so, dass sie ihre Romantik durch unnötige Selbstkontrolle im Griff zu halten versuchte, während er seine überbordenden Universalbe­wusstseinszustände durch wissenschaftliche Erklärbarkeit vor dem Entgleiten bewahren wollte.

Sicher war, er wollte sie nicht gehen lassen und konnte das nicht offen sagen. Sie wollte mit ihm die Nacht verbringen und war noch nicht bereit, es zuzugeben. Deshalb zickten sie sich an. Das Schlimme war, beide hatten echte Umstände, hinter denen sie die wahre Absicht verbergen konnten. Deshalb war es so schwer sie zu durchschauen. Vor allem wenn man selbst gerade etwas verbarg, ohne es verbergen zu wollen.

Dabei erst wenige Stunden miteinander verbracht hatte.

Chi war in den paar Tagen der Fünf-Sterne-Idylle nicht entflohen. Sie hatte sich Taxis rufen lassen, an einer Besichtigungstour des Königspalastes teilgenommen und hatte neben dem hoteleigenen Spa ein paar Spitzenrestaurants besucht. Sie hatte sich außerhalb letztlich immer unter Aufsicht bewegt. Die Aufsicht des Ober­schichtenpersonals. Sie war natürlich nicht alleine durch die Straßen gezogen. Dazu gab es keinen Anlass. Unjapanisch. Als gefährlich würde es auch betrachtet. Auch wenn da keine allzu große Bedrohung vorlag, beachtete man die Grundregeln, blieb sie doch eine einzelne, fremde Frau. Ohne Thomas hätte sie auch diesen Abend ähnlich verbracht und war trotz dessen routinierten Umgang mit der wirklichen Welt von dem Großstadtflair des Parkplatzes, den wuselnden Menschen und dem profanen Gebäude aus der Fassung gebracht. Hätte sie gewusst, wie nahe das Hotel lag, hätte die Gefahr bestanden, sich dorthin zu flüchten. Eine schlimme Gefahr, aber keine große. Sie wollte bei Thomas sein. Und sie woll­te die Krone ablegen. Das gehörte ganz klar zum Experiment.

„Brauchst du unbedingt Sushi in der Nacht? Der Zimmerservice tut's nicht?“, drang sie jetzt entschlossen in die Untersuchung seiner wahren Absichten vor.

„Unbedingt nicht. Doch es sprechen mehrere gute Gründe für das Sushi: 1. Ich esse gerne Sushi. Der Zimmerservice bietet keines. Ich weiß gar nicht, ob ich eigentlich als Sushi-Fan gelten kann, denn ich mag nicht annähernd alles. Hauptsächlich California Rolls, Maki, Nigiri und das eine oder andere Zeug, von dem ich den Namen nicht kenne. Gibt es Sashimi?“

Chi nickte langsam, sanft und streng blickend. Sie mochte ihn gerade, musste sich aber noch an die Abgas geschwärzte Parkplatz­umgebung gewöhnen, hörte ihm gerne zu und dachte insgeheim: Ich hoffe du magst Kashiwa Sushi. Sehr innen geheim.

Und gleich riss sie sich am Riemen.

„2. Weil ich Sushi mag, esse ich es hier bei allen Gelegenheiten. Es ist in Deutschland ziemlich und ungerechtfertigt teuer. Ist seit kurzem Mode. Früher war's noch teurer und gar nicht verbreitet. Da sind diese fertigen Packungen aus den Frischfischabteilungen super. Die sind nicht älter als zwei Stunden und luftdicht. Im Vergleich zu meiner Heimat sehr günstig und jede Menge billiger als der Zim­merservice.“

Der Taxifahrer hatte nach der Schrittfahrt über das Gelände vor einem der Haupteingänge gehalten und ein schönes Trinkgeld be­kommen. Er fragte noch einmal mehr, ob man das Wechselgeld nicht wolle, aber Thomas winkte freundlich lächelnd ab.

Er war sich wohl bewusst, dass dieser Fahrer einen sehr guten Weg gefahren war und in Thomas Heimatwährung handelte es sich um einen relativ geringen Betrag. Natürlich konnte der Fahrer nicht ahnen, dass der nette Herr ein Kollege war.

„Wir haben gerade mal eine Viertelstunde und müssen uns beeilen“, sagte Thomas beim Aussteigen zu Chi. „Es ist eigentlich unhöflich so kurz vor knapp aufzutauchen. Aber sie nehmen es nicht krumm, wenn man sich beeilt und den Betrieb nicht aufhält.“

Die Thai sind da pragmatisch. Man erwartet wohl, dass man sich einfügt und sich rechtzeitig überlegt, wann etwas getan werden soll. Umgekehrt passiert so was jedem und ist nicht eigentlich der Rede wert. Warum darüber Aufhebens machen? Kostet nur mehr Zeit. Nur möchte man selbst es ebenso halten. Sicher wird niemand den Kunden abhalten, sein Geld auszugeben.

Vor allem, wenn er es schnell tut. Und kein Aufhebens macht.

Chi sah ihn an und folgte. Er war wirklich realistisch.

Die Menschenströme waren von innen nach außen gerichtet. Die meisten liefen gesenkten Hauptes uninteressiert an ihnen vorbei. Manche blickten das feine Paar kurz erstaunt an. Die für Einkaufs­zentren typischen, vermieteten Stände vor und um den eigentlichen Verkaufsbereich wurden schon zusammengeräumt oder waren bereits geschlossen und abgedeckt.

Niemand rechnete noch mit Geschäft. Der Tag war vorbei und man wollte nach Hause. Dies waren alles selbstständige Unternehmer. In den Filialen der Kleinrestaurantketten und Eisdielen saßen noch Leute. Innen dauerte es noch bis sich die Letzten zur Kasse fänden. Thomas schnappte sich am Eingang einen Einkaufskorb und steuerte nach kurzer Orientierung auf den Frische-Bereich zu, vorbei an einer Vielzahl der frischen, hübsch präsentierten Früchte des Landes, die sogleich Chi's Aufmerksamkeit erregten. Sehr europäische Äpfel waren auch darunter. Sie musste aufholen, als Thomas sich nach ihr umblickte, da er zur Fischabteilung hinter die Rolltreppen abbog. Ich laufe einem Mann nach, dachte sie kurz und schmunzelte innerlich über sich selbst.

Er hatte richtig Glück, denn es waren noch einige Packungen und reichlich Californias und Makis da. Zufrieden schmiss er sechs Packungen in den Korb.

„Ist das nicht ein bisschen viel?“, fragte Chi.

Thomas sah sie nachdenklich an, ohne ein Wort zu sagen und schmiss noch zwei Packungen mit Nigiri, Eierstich und diesen grünen Nudeln hinterher. Auch Chi blieb stumm.

„Komm, lass uns noch schnell rumschauen“, schlug er vor.

„Was willst du jetzt noch kaufen?“

„Ist doch egal, schau einfach.“

Chi fing an wahrzunehmen, wie gelassen die Thai noch immer durch die Verkaufshalle den Kassen zuglitten und wie sie als Mischung würdiger Alter, kichernder Freundinnen, Ehepaaren mit Kind im Wagen und Einzelnen aller Art doch alle auf ihre Art sauber und freundlich wirkten.

Scheu und einig zugleich.

„Wir nehmen noch Honey Lemon Tea mit. Den haben sie im Hotel nicht“, hörte sie Thomas sagen. Schwupp war er hinter einem Regal verschwunden und mit vier Flaschen im Korb wieder aufgetaucht. Das Gewirr dieser normalen Leute war ganz friedlich.

Sie waren friedlich.

Hatte Thomas gerade Wir gesagt? Fragte sie sich. Ja.

„Sie haben hier viele gute Sachen. Willst du kein Souvenir mitnehmen. Du musst nur schnell sein. Ich kauf noch schnell Cologne.“

Ihm war das billige Eau de Cologne eingefallen, dass die Thai einfach Cologne nannten, da ihnen weder das Französische noch die Stadt ein Begriff waren. Er benutzte es nach der Rasur und hatte sich an den Duft gewöhnt. Es wurde in kleinen Plastiksprühflaschen angeboten. Chi folgte ihm in die Drogerie-Abteilung in Richtung Rasierer. Sie kamen an Kondomen vorbei. Verschiedene Marken nebeneinander aufgereiht. Chi´s Blick fiel unweigerlich darauf und bevor sie ihren Schritt nach einer Sekunde Schreckensstopp wieder in Bewegung setzen konnte, drehte sich Thomas zu ihr um. Sie wurde rot. Bei ihrer hellen, transparenten Haut nicht zu verhehlen. Sie setzte an, weiterzugehen.

„Brauchen wir die?“, fragte er. Er hatte Wir gesagt.

„Brauchst du sie?“, fragte sie und wollte sich damit revanchieren.

Waren nicht Männer auch deswegen in Thailand?

„Nein“, sagte Thomas. Wohl wissend, dass er welche im Hotel­zimmer hatte. Sicherheitshalber. Immer.

Better have and no need, than need and no have.

„Die sind außerdem meistens zu klein“, erklärte er sein Desinteres­se. „Aber schön, dass du daran denkst.“ Thomas zwinkerte.

Chi´s Mauer war so brüchig geworden. Sie fühlte sich unsicher.

Wollte er nicht mit ihr Sex haben? Oder erwartete er das nicht?

Sie waren doch beide erwachsen. Die Sache mit den Schenkeln?

Drei von den Colognes flogen durch seine Hand in den Korb.

„Da vorne sind Seifen. Lass uns schauen.“ Jetzt strahlte er sie einmal richtig direkt an. „Chi. Mach dir keine Sorgen. Wir müssen zur Kasse. Lass uns die Seifen schauen. OK?“

Sie folgte ihm. Keine Krone. Experiment.

Sie war hier in einem Einkaufszentrum irgendwo in Bangkok mit einem deutschen Mann, den sie erst seit heute Morgen kannte und dem sie glaubte. Sie war für so was zu alt. So was ist natürlich vollkommen harmlos. Man ist schließlich immer irgendwo. Für Chi war es eine Ausnahme. Sie hatte keine Angst. Weit gefehlt. Sie fürchtete sich nicht. Hier waren viele normale Menschen. Sie ver­stand nur die Situation nicht mehr. Sie verstand sich nicht in dieser Situation. Vor zwanzig Minuten wollte sie diesen jungen Mann in ihr Hotelzimmer verführen. Sie wollte es immer noch, aber er hatte sie in ein Einkaufszentrum gebracht. Sie fand zu sich. Sie wäre viel besser dran gewesen, wenn sie nicht so viel nachgedacht, sondern einfach eingekauft hätte. „Erdbeerseife“, jubelte Thomas.

„Mangoseife, hier ist Tamarindseife. Keine Ahnung wie das geht. Was hältst du von Erdbeerseife?“, fragte er.

Das brachte Chi zurück zu ihren Absichten. Gute Idee eigentlich. Erdbeerseife.

Sie hatte zu sich gefunden. „Nimm ein paar mit“, forderte sie ihn auf und nahm zwei Dosen nicht parfümierter Creme auf Glycerin-Basis ohne Alkoholanteil aus einem Regal und legte sie dazu.

Damit kannte sie sich aus.

„Na also“, sagte Thomas. Man muss nur wissen, was man will”, tönte er ohne die geringste Ahnung zu haben, was Chi wollte.

„Dann macht es auch Spaß“, setzte er unwissend hinzu, wie eine weitere Seife mit Kampfer zur Durchblutung der Haut.

„Ich war nicht auf eine Einkaufstour eingestellt“, fasste Chi treffend zusammen.

Thomas suchte immer die Kasse mit der süßesten Kassiererin aus. Kleine Schlange. Es gab für Lebensmittel, Flaschen und Drogerie­artikel, je eine eigene Tüte. So muss das sein.

Chi hatte sich inzwischen an die knapp an ihnen vorbeiziehenden Menschenmengen gewöhnt. Sie waren friedlich. Auf dem Parkplatz hatte der Abreiseverkehr zugenommen und Thomas führte sie vorsichtig über einen Art Zebrastreifen zu einem Tuk-Tuk-Stand. Der Fahrer ließ sich nicht von einem überhöhten Preis für die in seinen Augen zu kurze Strecke abbringen, so suchte Thomas ein Meter-Taxi. Chi war über seine Konsequenz in dieser Situation verwundert. Hatte er nicht vorher mehr Trinkgeld als das gegeben? Sie fragte nicht. Der Taxifahrer wählte die passende Ausfahrt des riesigen Parkplatzes auf die Fahrspuren der Hauptstraße direkt in Richtung Hotel. Keine kleinen Schlenker, die im Gewirr der Stadt nur zu leicht eingebaut werden konnten, um wegen der kurzen Strecke ein paar Baht mehr herauszuschinden.

„Entschuldige“, fing er selbst im Taxi an, „dass das ein bisschen gedauert hat. Es geht nicht ums Geld. Der war einfach unverschämt, weil er meint, wir Ausländer würden das schon bezahlen. Vor allem wenn die Adresse ein so kostspieliges Hotel ist. Das geht nicht.“

Die Fahrt dauert nur etwas über fünf Minuten. Diesmal nahm er ihre Hand. Er hatte noch immer Angst, es könnte das Ende des Abends sein. Deshalb war es auch ein bisschen mit ihm durchgegangen in dem Einkaufszentrum. Sie gab ihm ihre und blickte melancholisch zu ihm herüber.

„Alles in Ordnung?“, fragte Thomas.

„Vieles ist komisch“, antwortete Chi. „Mir ist vieles komisch.“

Sie machte eine Pause. Thomas wagte nicht, etwas zu sagen.

„Es ist viel, schnell passiert. Wir sind uns sehr nahe gekommen. Du wolltest das. Ich wollte das. Ich tue Dinge, die ich sonst nicht tue. Ich wollte das. Ich will das noch. Aber wie soll es nicht komisch sein, wenn es so neu ist? Ich kann es einfach nicht zuordnen.“

Nach einer weiteren Pause setzte sie hinzu: „Normalerweise bin ich auch nicht so nachdenklich und philosophisch. Hab ich das von dir?“ Sie blinzelte ihn an.

„Experiment gelungen?“, fragte er mit geneigtem Kopf.

„Die Probandin macht immerhin gute Fortschritte“, gab sie bescheiden und selbstbewusst zurück.

Wieder regnete es großzügig Trinkgeld. Da fiel ihr ein, dass sie gerade gemeinsam im Hotel ankamen. Sie stiegen aus und sahen sich den verständigen Blicken der Empfangsdamen ausgesetzt. Zügig lenkten beide ihre Schritte zu den Aufzügen. Thomas kam sich ein bisschen doof vor mit den drei Tüten. Natürlich hielten sie sich nicht mehr an der Hand.

Es war jetzt schon fast halb zwölf und der Abschied schien unmit­telbar bevor zu stehen. Zärtlichkeiten waren in Anwesenheit anderer ausgeschlossen. Der Aufzug kam und ein lachendes Paar stieg aus, ohne die beiden zu beachten. Sie stiegen ein und waren alleine.

Sie nahm seine Hand. Die ohne Tüten. Und sah ihn an. Sie strahlte jetzt wieder. Das hob auch seine Stimmung immens. Ihre Stimme war jetzt sanft, aber ganz fest. Der Aufzug war nach einer guten Minute im 23. Stock.

„Bringst du mich zur Tür?“ Thomas nickte.

Beim Ausstiegen ließen sie die Hände los. Nebeneinander folgte er ihr um die Ecke. Sie steckte die Karte in den Schlitz, drückte die Klinke, öffnete dann die Tür und flüsterte: „Ich möchte, dass du heute Nacht bei mir bist.“

„Komm mit. Ich zeig dir was“, bedeutete Thomas ihr sofort mit dem Kopf, an eine der Panoramascheiben zu folgen.

Ganz ruhig schloss sie die Tür wieder. „Was ist?“

„Komm lieber mit zu mir ins Zimmer.“

„Na schön, und wieso?“

Beide flüsterten weiter.

„Willst du Argumente? Ich hab´ das Sush …“ Chi verzog den Mund. „… die Erdbeerseife …“ Sie lächelte links 0,06 Millimeter. „... eine Gitarre im Zimmer.“ Chi sah ihn an und war mit ihm zu dem Fenster gegangen, auf das er sich langsam von der Zimmertür hinzu bewegt hatte. „Gitarre find ich gut. - I like the guitar. - Warum gehst du hier rüber?“

„Hast du die Überwachungskameras in allen Stockwerken bemerkt? Hier ist unser Gespräch unverfänglicher.“

„Ja, die sind zur Sicherheit.“

„Klar, vertrau mir. Mein bestes Argument kennst du noch nicht.“

„Du brauchst doch keines. Ich möchte nur meinen Kosmetikbeutel und frische Unterwäsche holen. Ich muss mich Abschminken und Frischmachen können. Du kannst mitkommen.“

„Ich würde gerne dein Zimmer sehen, aber es ist besser ich fahre allein hoch und du kommst nach und klopfst an meine Tür. Fahr erst auf das Restaurant-Level und dann wieder hoch. Leg dir unten einen Schal, wie einen Schleier über den Kopf. Ich kann dein Zimmer morgen besuchen. Das ist anders.“

Chi verstand nicht ganz.

„Hast du keine Angst, dass ich es mir anders überlege - ...i may change my mind?“

„Nein. Und außerdem hab ich noch mein bestes Argument. Du hast einen Superior Room mit 32 Quadratmetern. Ich hab einen Deluxe mit 64, zwei Balkonen, Wohn- und separatem Schlafzimmer. Wir können tanzen.“

Auch Chi fand jetzt richtig Gefallen an seiner Sorte Argumenten.

Deluxe Room.

„Bis gleich“, sagte sie mit leuchtenden Augen und ging zurück in ihr Zimmer.

Skyline Deluxe

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