Читать книгу Wer bist du, dass ich dich immer noch liebe - Marie Bazas - Страница 8
ОглавлениеDoppelgänger
Am nächsten Morgen erwachte Bea durch das Klingeln des rostigen Vintage-Weckers, der auf dem Boden neben dem Bett stand. Auch er ein Relikt aus Pauls Zeiten, gekauft auf einem Flohmarkt in Lyon. Sie hatten es geliebt, über die vide greniers zu schlendern und alte Möbel oder Deko-Sachen zu ergattern. Titus hatte schon damals aus dem Plunder die verrücktesten Kreationen in seiner Schreinerwerkstatt entworfen. Und er tat es heute noch erfolgreich für Coquelicots.
Die aufgehende Sonne zeigte ihr schönstes Frühlingslachen. Bea mochte es, frühmorgens mit der Arbeit zu beginnen. Das gab dem Tag ein Gefühl von Unendlichkeit. Um diesen Zeitpunkt nicht zu verpassen, hatte sie überall im Loft Wecker aus verschiedenen Epochen verteilt.
Bea spürte in den vergangenen Abend hinein, lächelte und kuschelte sich in die Patchwork-Decke.
Danke, dass du mir helfen wirst. Aber jetzt wartet Arbeit auf mich. Gestern ist in unserem Betrieb einiges liegen geblieben.
Aufregung flatterte in ihrem Bauch.
Was würde passieren? Sollte sie sich besser noch ein bisschen Zeit für die Seelenarbeit gönnen?
Doch die Vorfreude auf die Arbeit mit verschiedenen Materialien, darauf, dem Alten neues Leben einzuhauchen, siegte. Ihre Disziplin tat ein Übriges. Bea duschte, rubbelte ihre dunkle Lockenmähne trocken und schminkte sich sorgfältig. Sie schlüpfte in ein leichtes Sommerkleid, zog einen roten Cashmere-Cardigan drüber und war gerade bei der Auswahl der Schuhe, als ihr Handy klingelte. Friederike.
„Hi, Rike, du, ich bin schon auf dem Sprung zu Titus. Mir geht´s gut. Die Arbeit ruft. Danke für deinen Anruf. Bis dann.“ Ohne abzuwarten, drückte Bea auf das rote Telefon.
Nicht, dass sie mir von Leander erzählt. Von ihrem Glück. Arbeit deckt Gefühle zu, meine Droge, dachte sie, während sie ins Erdgeschoss ging, am Laden vorbei in die Garage. Sie freute sich an dem Luxus, in der Altstadt einen Platz für ihr Lieblingsgefährt im Haus zu haben, einen schwarz lackierten Mini, auf dessen Türen je drei Klatschmohnblüten prangten – ihr Markenzeichen. Als sie mit dem Auto an der in Weiß und Beige gehaltenen Auslage des Ladens vorbeifuhr, beglückwünschte sie sich einmal mehr zu ihrer Entscheidung, keine Öffnungszeiten festgelegt zu haben. Dafür wurden ihre Kunden an der Eingangstür in klatschmohnrot auf weißem Emailleschild freundlich darauf hingewiesen, Termine telefonisch oder per E-Mail zu vereinbaren.
Sie machte sich auf den Weg zur großen Scheune außerhalb der Stadt in der Nähe von Allmendsberg, zum Lager von Coquelicots. Vergangene Woche war Bea mit Titus in der Bretagne auf Einkaufstour gewesen. Sie hatten maritime Objekte und Möbel aus Auflösungen einer Fischfabrik und eines Hotels in Concarneau ergattert. Gestern waren die Sachen geliefert worden.
Mit Titus war es einfach für Bea. Beide dachten sie bei ihrer Arbeit an Paul. Paul schwebte wie selbstverständlich zwischen ihnen. Ob Titus wie sie mit Paul sprach? Das fragte sie sich oft. Titus, kleiner und gedrungener als Paul, Kurzhaarschnitt und Sommersprossen, ein Lausbub in Latzhose und Arbeitsschuhen, wartete am Scheunentor auf sie.
„Hi, Bea, war toll letzte Woche. Lass uns unsere Schätze begutachten.“ Titus begrüßte Bea mit zwei bises, den typisch französischen Wangenküsschen, dann betraten sie die große Halle.
„Schade, dass das Rattan um die Tischplatte so ausgefranst ist. Wir könnten die Schieferplatte mit der Ankerkette einfassen und den Anker als Tischfuss verwenden. Was hältst du davon?“
„Das ist verrückt genug, um Paul zu gefallen“, antwortete Bea. „Was machen wir mit den groben Seilnetzen?“
„Wir könnten sie als Raumteiler einsetzen“, meinte Titus. Sie tauchten in ihre Gestaltungsphantasien ein, streiften Bars, Café, Lofts und Wintergärten, die auf ein neues Interieur warteten. Dass es im Schuppen inzwischen dunkler geworden war, merkten sie nicht.
„Oje, ich habe Didier vergessen“, fiel Bea plötzlich ein. Didier war Beas Makler in Six-Fours-Les-Plages. „Er braucht die Grundrisse des neuen Cafés in Freiburg, um zu wissen, wie viele Bistrotische und Stühle er suchen muss. Bis dann und viel Spaß beim Aufmöbeln.“
Schnell rettete sich Bea in ihren Mini, denn die dunklen Wolkenberge, die sich im Westen aufgetürmt hatten und vom Wind herangepeitscht wurden, drohten an den Erhebungen des Schwarzwalds zu zerbersten. Bevor sie anfuhr, warf sie einen Blick auf ihr Handy. Kam Pauls Botschaft virtuell? Aber auf dem Display wurden keine Neuigkeiten angezeigt.
„Dann also Arbeit“, dachte Bea und fuhr los. Arbeit war für Bea kein Grund für schlechte Stimmung.
Mein perpetuum mobile. Ich bin glücklich damit. Ich bin frei, finde immer Ablenkung, bin kreativ, lerne Menschen und ihre Lebensräume kennen. Sie ist spannend, mein Mix aus Anerkennung und Davonlaufen. Ist das nicht ok?
Es gab Schlimmeres, als wegen des Berufs in Frankreichs sonnigem Süden zu fliehen. Mit der Wärme und Leuchtkraft des Südens kamen Lebendigkeit und Lässigkeit zurück.
Eigentlich ein tolles Leben, ein Geschenk.
Dicke Regentropfen hämmerten auf die Windschutzscheibe und holten Bea in den Schwarzwald zurück. Der Regen und die vielen Kurven zwangen sie, langsam zu fahren. Frühlingsgrüne Buchenkronen fügten sich immer wieder zu einem Tunnel zusammen. Das satte Moosgrün auf den Steinfindlingen am Straßenrand bildete dazu einen malerischen Kontrast. Dazwischen öffnete sich der Blick ins Rheintal. Und dann geschah alles blitzschnell.
Was ist das für ein schwarzes surreales Riesenmonster, das da auf mich zuschießt? Scheiße. Warum jetzt? Es ist aus.
Bea streckte die Arme, um den Aufprall abzuwehren, und dann knallte es.
Wie viel Zeit vergangen war, bis Bea die Augen öffnete, wusste sie später nicht mehr. Instinktiv arbeitete sie die Notfallcheckliste ab: Atmen, Augen auf - ich lebe! Hände zusammenballen, Oberkörper drehen – ich kann mich bewegen! Beine strecken – ich kann gehen! Niemand kommt, raus aus dem Auto – Auto Schrott! Unfallgegnerin steigt aus – ok! Rein ins Auto, Handy suchen – 110 anrufen! Klartext reden, Fragen beantworten.
Im Getöse des Gewitters gingen die Sirenen von Polizei und Krankenwagen unter. Blitze konkurrierten mit dem Blaulicht. Es herrschte Chaos.
Darf ich denn niemals nur die kleinsten Glücksgedanken haben? Mein Gleichgewicht finden? Soll das deine Hilfe sein, Paul? Dein Zeichen? Die Lösung?
Das Adrenalin in Beas Körper entlud sich in Bewegung und Tätigkeitsdrang. Mit dem Warndreieck rannte sie um die Kurve, um den Unfallort zu sichern.
„Sie kam auf meiner Seite auf mich zugerast!“, schrie sie einen Polizisten verzweifelt an. Dem nächsten zeigte sie ihren Ausweis und den Führerschein.
„Machen Sie ein Foto!“ Sie rannte auf einen Mercedesfahrer zu, der hinter dem Unfall angehalten hatte. „Sie ist geschleudert! Sieht man doch an der Spur!“
„Haben Sie Schmerzen?“, fragte eine Frau, die sie nicht kannte.
„Mein Brustkorb“, presste Bea heraus und spurtete schon wieder zu ihrem Auto, um den KFZ-Schein zu holen.
Niemand konnte Bea greifen.
Warum? Es sollte doch gerade aufwärtsgehen. Mit dir, Paul.
Bea hatte nicht bemerkt, dass inzwischen ein zweiter Krankenwagen gekommen war. Ein älterer, beleibter Sanitäter ging mit festen Schritten auf sie zu.
„Wir nehmen Sie jetzt auch mit ins Krankenhaus.“, sagte er freundlich, aber bestimmt.
„Muss das sein?“, fragte Bea panisch. Sie spürte eine neue Unruhe in sich aufkommen und mit ihr ein Bild von vor zehn Jahren. Sie war mit einem Krankenwagen in die Frauenklinik gebracht worden. Die Fruchtblase war geplatzt. Ihr Sohn war an dem Abend tot zur Welt gekommen.
„Ja, zu Ihrer Sicherheit.“
Der Sanitäter strahlte eine derartige Klarheit und Ruhe aus, dass Bea gehorchte.
„Ich hole meine Tasche aus dem Auto.“
„Ich begleite Sie.“ Er würde Bea nicht mehr auslassen.
Als Bea schon im Krankenwagen lag, teilte ihr der Polizist mit: „Wir sehen uns im Krankenhaus. Und wir haben Frau Winterhalder erreicht. Sie kommt ebenfalls dorthin.“
„Sie haben einen Brustbeinbruch“, teilte der Unfallarzt Bea nach dem Röntgen mit. „Das Herz könnte verletzt sein. Deshalb müssen wir Ihre Herzenzyme prüfen. Ich nehme Ihnen Blut ab und lege gleich einen Port, falls Sie hierbleiben müssen. In etwa einer Stunde wissen wir Bescheid. “
„Darf ich draußen warten?“
Beas Herz schlug wie ein Hammer gegen ihre Rippen, die vom Aufprall empfindlich schmerzten. Der Fatalismus, der sie im Krankenwagen alles hatte ertragen lassen, verschwand. Es war nicht die Angst vor einer Verletzung, die sie erneut zittern ließ, sondern die Erinnerung an den Tag vor zehn Jahren.
Hast du das beabsichtigt, Paul? Dass auch noch Benjamins Tod eine Rolle spielt? Musst du mir so wehtun? Wenn ich diese Nacht im Krankenhaus bleiben muss, werde ich die Stunden mit Benjamin wieder und wieder durchleben, ohnmächtig, wie damals. Ich werde diesen Gefühlen ausgeliefert sein. Der Krankenhaustrott bietet keine Alternative.
Bea verließ den Warteraum und lief im Krankenhausflur auf und ab. Sie informierte Titus, das war ihr wichtig. Dazwischen tauchten immer wieder die Bilder von damals auf, die Abdrücke ihres Kindes durch den fruchtwasserleeren Bauch. Als sie aufgelegt hatte, kam Friederike auf sie zu und nahm sie in die Arme.
„Bea, was ist passiert? Ich sagte doch, pass auf dich auf.“
Bea versteifte sich, ließ die Umarmung aber zu.
„Friederike, danke, dass du da bist. Wenn ich dich nicht hätte.“
„Das weißt du doch. Du würdest dasselbe für mich tun. Die Klassenarbeiten laufen mir nicht davon. Was liegt an? Was ist passiert?“
Bea beschrieb Friederike den Unfall, teilte ihr die Diagnose mit und fuhr fort:
„Entschuldige, dass ich heute Morgen so kurz angebunden war. Es tut mir echt leid. Weißt du, ich wollte dir wehtun, weil ich weiß, was mit dir und Leander ist. Aber das ist ungerecht. Ich gönne es dir.“ Das Adrenalin half ihr zu lächeln. Und sie meinte es ehrlich.
„Woher weißt du?“
„Friederike, ich kenne dich doch. Du strahlst übers ganze Gesicht. Dein Lachen, als du gestern auf die Terrasse gekommen bist. Das kann bei dir nur einer auslösen.“
„Liebes, ich will dir nicht wehtun. Mir wurde gestern erst wieder klar, wie sehr du leidest, wie sehr Paul dich beschäftigt. Aber ich bin mit Leander so glücklich. Ich kann nichts dafür. Darf ich es dir erzählen?“ Sie setzten sich ins Wartezimmer und Friederike sprudelte los.
„Nimm die Liebe an, Friederike“, sagte Bea, als alles erzählt war und sie eine Zeitlang geschwiegen hatten. Sie waren nur von den Polizisten unterbrochen worden, die sie darüber informierten, dass ihr Auto beim Autohändler stand und dass die Aussage und alles Weitere am nächsten Tag erledigt werden könnten.
„Weißt du, was heute für ein Tag ist?“, fragte Bea.
„Ja, ich habe an Benjamin gedacht, an deine Fahrt ins Krankenhaus am Ende deiner Schwangerschaft, aber ich habe mich nicht getraut, danach zu fragen. Wie geht es dir damit?“
„Bis vor dem Unfall war es ein Tag wie jeder andere. Du weißt, dass ich seit diesem Jahr liebevoll mit Benjamin umgehen kann, mit meinem kleinen Braunauge. Sein Tod schmerzt nicht mehr schneidend. Wenigstens das habe ich gelernt. Ich habe das Gefühl, dass er mir überall nahe ist, er gibt mir Kraft von da oben. Trotzdem: Wenn ich hier im Krankenhaus bleiben muss, werde ich den Krankenschwestern die ganze Nacht auf die Nerven gehen, wie damals, als ich auf seine Geburt gewartet habe. In ihrer Verzweiflung ließen sie mich Mullbinden wickeln.“
Warum erlaubte sie sich, mit Benjamins Tod im Positiven zu leben? Kinderwägen und stillende Mütter wühlten nicht mehr ihr Innerstes nach außen. Warum war ihr das bei Paul nicht gelungen? War es der jahrelange Zusammenhalt mit anderen Mamas, dieselbe Trauer gemeinsam zu verarbeiten? Die Tanztherapie, die sie über viele Jahre verbunden hatte? Noch heute existierten Freundschaften aus dieser Zeit.
Den Verlust von Paul hatte sie nie verarbeitet. Sie hatte sie verkapselt, ihr nur einen inneren Raum gegeben, denn nach außen zu trauern war damals keine Option gewesen. Weitermachen. Männer gibt es genug. Du bist jung. Diese Lösungen waren akzeptiert gewesen. Paul war auf dem Kultstatus hängen geblieben.
„Ich darf dich mit nach Hause nehmen. Ich weiß das.“ Friederike war zuversichtlich und Bea vertraute darauf.
„Frau Veit, kommen Sie bitte?“ Der Pfleger rief sie wieder in die Notaufnahme.
„Es ist alles in Ordnung, Frau Veit.“, sagte der Unfallarzt und entfernte den Port. „Sie dürfen nach Hause. Sie müssen sich eine Weile schonen, denn die Schmerzen werden in den nächsten Tagen stärker werden. Aber es wird alles wieder gut. Alles Gute. Ach, ja, da ist jemand, der sie sprechen möchte.“
Eine Frau Anfang sechzig quälte sich in den Raum, fahl im Gesicht, das von dünnen grauen Haarsträhnen umrahmt war. Ihre Unfallgegnerin.
„Es tut mir so leid, dass ich sie verletzt habe. Zum Glück leben sie. Ich bin Frau Saier“, sagte die Frau mit weinerlicher Stimme.
Zum Glück? Welches Glück? Gestern war ich am Boden, vor wenigen Stunden wieder. Will ich leben?
„Ich war unachtsam. Das tut mir so leid. Mir ist seit einiger Zeit alles so egal. Wenn Ihnen Schlimmeres passiert wäre, wäre ich lieber an Ihrer Stelle gewesen.“
Was erzählte die Unbekannte da? Was wusste die schon von ihr?
„Sie müssen einen Schutzengel haben, Frau Veit. Danken Sie ihm. Nehmen Sie sein Geschenk an. Leben Sie. Ohne ihn hätten wir beide heute nicht überlebt. Halten Sie mich bitte nicht für verrückt. Aber jemand hat zu mir gesprochen während dieser Schrecksekunden. Liebe das Leben. Das werde ich wieder tun, mein früherer Mann würde das genauso wollen.“
Bea wurde es eng im Hals, und sie ließ Tränen zu, die sie seit Jahren unterdrückt hatte.
Sie lag in den Armen einer fremden Frau, der sie sich gerade näher fühlte als sich selbst.
„Sie sind nicht verrückt. Sie wissen gar nicht, wie nahe Sie mir sind.“
Bea schluchzte und sah Frau Saier in die Augen.
Doch der magische Moment war vorbei.
„Sind Sie verletzt, Frau Saier?“, fragte Bea aufmunternd.
„Ich habe Prellungen, aber das wird wieder. Wir hatten Glück im Unglück. Gute, gute Besserung.“
„Danke, Ihnen auch. Passen Sie auf sich auf.“
Gemeinsam verließen sie die Notaufnahme, wurden von den Freundinnen in Empfang genommen und traten ins Freie. Seit dem Knall waren nur drei Stunden vergangen. Die Sonne lachte wieder.
„Was ist zu tun?“
Bea funktionierte immer noch wie eine Aufziehpuppe. Rein ins Auto, anschnallen, To-do´s checken, den Terminkalender anschauen. Die Meldungen der Schmerzsynapsen hatten das Adrenalin noch nicht verdrängt.
„Ich bringe dich erst mal nach Hause. Hast du Schmerzen? Brauchst du irgendetwas? Was zu essen, zu trinken?“, fragte Friederike.
„Ein Baguette wäre lecker. Ich habe aus der Bretagne allerlei Leckereien mitgebracht, wie immer. Darf ich dich zu Rillette, scharfem Senf, Tomaten und Mousse au Chocolat verführen? Einen Cidre dazu? Ich bin schon ein bisschen frankreichverrückt. Aber das macht nichts. Hauptsache, es schmeckt. Ich habe echt Hunger.“
Mit einem Lächeln legte Friederike eine Hand aufs Beas Schenkel. „Danke für die Einladung. Wird erledigt. Ich setze dich zu Hause ab, gehe kurz zum Bäcker, und dann essen wir zusammen.“
„Die kam quer auf mich zu. Das war wie im Horrorfilm. Die schoss wie ein Riesengürteltier auf mich zu. Die muss die Kurve völlig übersehen haben. Ich konnte nichts mehr tun. Friederike, warum? Ich fühle mich platt, im wahrsten Sinne des Wortes.“
„Das wird eine Weile anhalten. Bea, ich bin so froh, dass du lebst. Du hattest Glück im Unglück. Oh nee, nicht schon wieder was. Schau mal, da vorne. Die Straße ist gesperrt. Umleitung wegen Überflutung. Hältst du den Umweg noch aus?“
Bea nickte, drückte aber gleichzeitig mit den Handballen rechts und links auf den Brustkorb, um ihn zu entlasten. Dann griff sie zum Handy und informierte Titus über den aktuellen Stand. Er hörte gelassen zu und beendete das Telefonat mit:
„Pass auf dich auf. Du musst dir Ruhe gönnen. Hör auf deinen Körper, auch wenn Ruhe halten nicht so ganz deine Stärke ist. Du hattest so viel Glück. Ich kümmere mich um die Liefertermine. Mach dir keine Sorgen. Melde dich, wenn du was brauchst.“
Schon wieder dieser Satz, du hast Glück gehabt.
In Bea regte sich ein Gefühl, wie eingestreuter Kakao in einer Teigmasse, sanft und warm. Greifen konnte sie es nicht.
„Eine Umleitung – es muss ja ordentlich geschüttet haben. Das habe ich in der Schule gar nicht so mitbekommen. Wir sind gleich da. Schaffst du es?“, erkundigte sich Friederike.
„Ja, es geht. Dieser Augenblick, dieser Knall. Ich hätte echt tot sein können. Es ist schon verrückt: Gestern war ich noch so verzweifelt und vor dem Zusammenstoß merkte ich, ich möchte leben.“
„Ja hoffentlich. Wir brauchen dich. Denk an Frankreich, an Coquelicots, was du dir alles aufgebaut hast. Oft beneide ich dich dafür, für deine Freiheit, deine vielen Wochen im Süden.“
Als sie die Elz überquerten, schoss der Bach darunter durch, wie sie es nie zuvor gesehen hatten.
„Vielleicht war es auch der Regen, der zum Unfall führte. Was meinst du?“
„Mach dir keine Gedanken darüber. Die Polizisten sagten vorher, dass die Schuldfrage klar ist. Dich trifft keine Schuld. Ich sage Titus nachher Bescheid. Er soll dich morgen zur Polizei und zum Anwalt begleiten. Es ist ja alles in der Nähe. Und nur Blech. Kannst du aussteigen?“
Inzwischen waren sie in der Torgasse angekommen. Bea fühlte sich ein bisschen verlassen ohne ihren geliebten Mini. Sie drehte sich langsam aus Friederikes Auto, um den Schmerzen im Brustkorb zu entgehen, und schleppte sich ins Haus.
Wieder spulte sie in Gedanken den Unfall ab, gleich danach aber die Termine. Didier. Der wartete auf die Pläne.
„Bis Rike mit dem Baguette kommt, erledige ich das“, dachte Bea und verschwand im Büro.
Bea merkte, dass nicht nur das Pflichtgefühl sie an den Schreibtisch getrieben hatte, sondern auch der Wunsch, die Ereignisse auf Französisch mitzuteilen. Das dicke Französischlexikon lag immer auf dem Schreibtisch.
Sie drehte sich mit dem Bürostuhl zum PC, der nur aus dem Standby-Modus erweckt werden musste. Den Stuhl in Position zu ziehen, hatte wehgetan.
„Bonjour Didier, ca va? Ich hoffe, es geht dir gut“.
Bea war bereits so mit ihren Gedanken im französischen Text, dass sie gleich losschrieb und die eingegangenen E-Mails gar nicht beachtete. Sie liebte die klare und soziale Vorgehensweise im französischen Dialog. An erster Stelle standen immer die Gefühle, das Ambiente und das Miteinander. Erst dann folgte das Geschäftliche. Sie vertiefte sich in die Suche nach den richtigen Worten und Redewendungen, um den Unfall zu beschreiben. Didier war ihr vertraut genug, um so persönlich zu werden. Sie merkte, dass sie das Unglück loswerden musste, immer und immer wieder. Es schien ihr, als ob sie sich mit jedem Mal häuten würde und mit jedem Mal wurde das vage Gefühl von Sanftheit, das sie beim Telefonat mit Titus das erste Mal gespürt hatte, in ihr größer. Es fühlte sich an wie Selbstliebe. Es war ein angenehmes Gefühl.
Möchtest du mir das zeigen, Schutzengel?
Diese Frage hatte sie laut vor sich hingesagt und dabei gen Decke geschaut.
„Mit wem sprichst du?“, fragte Friederike, die inzwischen hereingekommen war.
„Mit niemand Bestimmtem“, antwortete Bea schnell. „Das mache ich öfter. Du nicht? Wenn man so alleine lebt, tut das manchmal gut.“
„Ja, klar. Sonst alles ok? Ich gehe schon mal hoch und decke den Tisch. Möchtest du lieber sitzen oder eher liegen?“
„Ich glaube, sitzen ist besser. Mach es wie immer, an der Theke. Da kann ich zur Not auch stehen. Ich sende kurz die E-Mail an Didier und dann komme ich.“
Bea hängte die PDF-Datei mit den Grundrissen des Cafés an die E-Mail an, drückte auf Senden und drehte den Bürostuhl schon langsam Richtung Treppenhaus, als es zweimal Pling machte. Der kleine Kasten am rechten unteren Bildschirmrand zeigte zwei neue E-Mails an.
Mit dem Lesen der eingegangenen E-Mails hatte sie bis zum Abend warten wollen. Aber der Betreff Les Rêves – Träume elektrisierte sie. Was hatte Monsieur Parignol mitzuteilen? Seit Jahren versuchte sie, das Château Les Rêves in der Nähe von Aix-en-Provence zu kaufen. Ein Teil des Châteaus war lange Zeit als Jugendherberge genutzt worden. Vor einigen Jahren hatte der Besitzer den Betrieb einstellen müssen, da baufällige Mauern die Sicherheit der Gäste gefährdeten. Seither stand die alte Templerburg leer. Nur im Sommer fanden im Innenhof kleinere Konzerte statt. Für Bea war das Château Les Rêves das Sinnbild für Wärme und Liebe. Von Frühjahr bis Sommer schwebte es über den Klatschmohnfeldern der Provence. Hierher rührte ihr Tick mit dem Klatschmohn. Auf Les Rêves hatte Bea die ersten Ferien mit ihren Eltern verbracht, einfache gelassene Tage voller Freiheit. Später war das Château jedes Jahr ein Ziel während des Schüleraustauschs mit Six-Fours-Les-Plages gewesen. Das alte Gemäuer hatten dem jugendlichen Übermut traumhafter Nächte gelassen zugeschaut und die Geheimnisse für sich bewahrt.
Ach Paul, weißt du noch?
Das Château mit all seinen Schätzen und Erinnerungen zu besitzen, war ein Traum, den sie sich mit dem Erfolg von Coquelicots erfüllen wollte. Les Rêves war mehr als ein Traum. Es glich einem Versprechen, das sie Paul schuldig war.
Was würde in der E-Mail stehen? Hatte der Besitzer endlich das OK zum Verkauf gegeben? Würde sie nun auch in Südfrankreich ihr Zimmer mit Paul bekommen?
Bea hatte die Maus schon in der Hand und ließ sich auf den Bürostuhl zurücksinken. Ein Stechen in der Brust veränderte ihre Bewegungsrichtung und es öffnete sich nicht die E-Mail von Monsieur Parignol, sondern die zweite.
Grand spectacle à Six-Fours, 2. Juni 2016. „Boris Vian – sein Leben, ein Theaterstück mit Musik“ leuchtete in bunten Lettern als Link auf dem Bildschirm. Automatisch öffnete sich das dazu gehörige Video. Es zeigte eine selbstgezimmerte Bühne unter Pinien, Musiker mit Gitarren und Trompete, die Ile de Grand Gaou – Bea wurde warm ums Herz. Die Filmabschnitte waren wie Heimkommen. Sie tauchte in ihre französische Welt ein, bis ein Schauspieler mit Trompete Panik in ihr auslöste: Paul. War das Paul gewesen?
Ich muss das Video anhalten, Paul…
Sie klickte wild auf dem Bildschirm herum, ging zurück in die E-Mail, öffnete dieses Mal selbst den Link, wartete und wieder war einer, der aussah wie Paul, in Millisekunden vorbeigehuscht.
Ich muss das doch anhalten können.
„Bea, kommst du?“, rief Friederike von oben. „Ich habe den Cidre schon eingeschenkt.“
Bea hatte alles um sich herum ausgeblendet. Sie starrte den Bildschirm an, auf dem das Video immer wieder von vorne durchlief und der Trompeter bei jedem Durchlauf mehr zu Paul wurde: die langen Haare, das breite Gesicht, die platte Nase, die beim Gehen nach vorne gezogenen Schultern, die ruckartigen Bewegungen des Oberkörpers – wie Hühner beim Körnerpicken. Sie krallte sich am Schreibtisch fest, alle Muskeln in höchster Spannung, alle Synapsen auf Paul programmiert.
Das ist das Zeichen. Paul, du lebst. Was spielst du für ein Spiel mit mir? Ich muss gar niemanden suchen. Ich werde dich finden. Ich werde kommen.
Als Antwort schien der Paul auf dem Bildschirm mit dem linken Auge zu zwinkern.
„Bea, bist du umgefallen? Warum reagierst du nicht? Hast du Schmerzen?“ Friederike kam die Treppe heruntergepoltert.
Blitzschnell wechselte Bea zurück zum E-Mail-Account. Das durfte Friederike nicht sehen. „Ich wollte nur noch kurz die E-Mail von Monsieur Parignol lesen. Du weißt doch, wie lange ich schon auf seine Antwort wegen Les Rêves warte“, stammelte Bea.
„Es reicht. Wenn du dich sehen könntest. Du bist ganz weiß im Gesicht. Jetzt wird zuerst etwas gegessen. Du hattest genug Aufregung heute.“
Mit diesen Worten drehte Friederike den Bürodrehstuhl vom Bildschirm weg. Erleichtert darüber, dass sie die Ausrede geschluckt hatte, ließ sich Bea in den Loft führen.
Die liebevoll gedeckte Theke, altes beiges Porzellan, das Bea mit Klatschmohn hatte bemalen lassen, elegante Weingläser, dazwischen die Cidreflasche, das Baguette, das zum Abreißen bereit quer auf der Theke lag, das Rilletteglas, der Senf und die Tomaten, weckten Beas Instinkte wieder. Da war doch was gewesen? Hunger.
Sie ließ sich halb sitzend, halb stehend auf dem Thekenhocker aus schwarz-weiß geflecktem Ziegenfell nieder, so hatte sie am wenigsten Schmerzen.
„Auf dein Wohl und dein Glück und dass deine Verletzungen nicht zu stark schmerzen und du heute Nacht schlafen kannst.“
Friederike hob das Glas und stieß mit Bea an. Schweigsam aßen sie. Dafür war Bea dankbar, denn in ihrem Kopf purzelten die Bilder der letzten Stunden unkontrolliert durcheinander wie Kinder in einer Hüpfburg. Der Knall des Aufpralls kollidierte mit der Unfassbarkeit des Videos eines Toten und der Liebe eines Schutzengels.
„Ich fasse es nicht, Rike. Warum immer ich? Erst gestern saßen wir hier. Ich war völlig durch den Wind. Heute Morgen hatte ich mich wieder aufgerappelt und jetzt sitzen wir wieder hier. Hört das denn bei mir niemals auf?“
„Nimm ein paar Notfallkügelchen und sei froh, dass es nicht schlimmer gekommen ist.“ Friederike hatte die kleine braune Glasflasche aus den Tiefen ihrer Handtasche herausgekramt.
„Ach Rike, vielleicht hilfts ja tatsächlich. Vielleicht sollte ich das Glück im Unglück annehmen. Du bist eine Gute.“
Und für sich dachte Bea: „Ich muss zu diesem Konzert, in einer Woche. Ich muss ihn sehen. Ich werde Zoë anrufen.“