Читать книгу Wer bist du, dass ich dich immer noch liebe - Marie Bazas - Страница 9

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Titus

Warum habe ich Friederike nicht eingeweiht? Sie kennt Paul doch auch. Warum nur vertraue ich ihr das Unglaubliche nicht an? Weil ich es selbst nicht greifen kann?

Nachdem Friederike Bea mit vielen Wünschen und der Ermahnung, ihr Handy für den Notfall immer bei sich zu tragen, allein gelassen hatte, war Bea den flach hereinfallenden Sonnenstrahlen Richtung Pauls Zimmer gefolgt, um Trost und Antworten zu finden. Beim Eintreten griff sie zum Medaillon. Die Schmerzen hinderten sie daran, sich ins Bett zu kuscheln. Dafür lehnte sie sich gegen die von der Sonne in Szene gesetzte Postertapete mit dem Sonnenuntergang unter Palmen, über die Paul immer geschmunzelt hatte. Doch trotz der Rituale blieb die innere Verbundenheit mit Paul aus. Paul sprach nicht mit ihr. Das Bild des neuen, anderen Paul drängte sich vor jede Erinnerung.

Auf ihrem Handy öffnete Bea die Webseite des Office de Tourisme von Six-Fours-Les-Plages, denn nur über diesen Newsletter konnte die absurde E-Mail zu ihr gelangt sein. Sie ließ die Ankündigung des spectacle de musique – der Musikaufführung - ein weiteres Mal auf sich wirken. Der Effekt war derselbe wie vor einer Stunde: Da war Paul. Sie musste ihn sehen.

Bea ließ das Handy sinken, schaute an sich hinunter und stellte fest, dass sie immer noch das blumige Sommerkleid anhatte, mit dem sie heute Morgen das Haus verlassen hatte. Doch sie war nicht mehr die Gleiche.

Bea durchquerte den Loft, zog sich im Schlafzimmer dunkelgraue Leggings, dicke schwarze Flauschsocken, ein weißes T-Shirt und eine weiche Mohairstrickjacke an. Den quälenden Durst löschte sie an der Theke mit zwei Gläsern Wasser. Mit dem dritten spülte sie eine der Schmerztabletten hinunter, die ihr der Arzt im Krankenhaus mitgegeben hatte. Auch wenn sie es nicht wahrhaben wollte: So langsam nahmen die Schmerzen im Brustkorb zu, und in ihrem Kopf wurde alles zunehmend schwabbeliger und unkontrollierbarer.

Bitte nicht, dachte Bea. Ich muss doch in wenigen Tagen in Six-Fours sein. Wie soll das überhaupt gehen, mit Schmerzen, ohne Auto? Was muss wegen des Unfalls alles erledigt werden? Und was sage ich Titus, warum ich nach Six-Fours muss? Und was, wenn er mich begleiten möchte? Zu besprechen hätten wir einiges mit Didier.“

Organisatorische Fragen setzten in Bea immer neue Kräfte frei. Das war ihr Programm. Bea war nicht der Typ, der sich in Kummer suhlte und abwartete. Vielleicht hatte sie auch deshalb ihre Firma nach dem Klatschmohn benannt. Diese Pflanze schien ein Spiegelbild ihres Lebens zu sein. Die Blüte hauchzart und schnell vergänglich. Und trotzdem verstreut diese Blume ihr intensives Rot einen ganzen Sommer lang.

Ach, Coquelicots, seufzte Bea, löste sich von der Theke und stieg, Stufe für Stufe, die gebürstete und weiß lasierte Holztreppe hinunter.

Im Büro streiften Beas Finger über das abgewetzte Türblatt, das auf zwei alten Nähmaschinengestellen lag. Ihr Schreibtisch, bequem mit großem Bildschirm und Tastatur. Bea träumte sich weiter in die Ladenräume, nahm mit allen Sinnen all die Kleinode in sich auf, die sie gesammelt hatte und die ihr ein abwechslungsreiches und ein Leben ohne Geldsorgen bescherten. Als ihr Blick den weiß gerahmten Kunstdruck des Klatschmohnfelds von Monet streifte, fiel ihr die E-Mail von Monsieur Parignol wieder ein. Es würde sich lohnen, die Kiste nochmal anzuwerfen.

Die übersichtliche Anzahl fettgedruckter Zeilen im E-Mail-Eingang beruhigte Bea. Die Betreffe waren rasch kategorisiert. Drei Kunden, die einen Termin im Laden vereinbaren wollten. Sie würde ihnen eine Uhrzeit morgen Nachmittag nennen. Eine Nachricht von Didier, der bestätigte, dass die Grundrisse angekommen waren. Bon rétablissement, gute Besserung, und bisous, Küsschen, inklusive. Eine Erinnerung von Martin, ihrem Steuerberater, die Buchhaltungsunterlagen für Mai rechtzeitig abzugeben. Eine Spam-Mail, die sie sofort löschte, und die E-Mail aus Aix-en-Provence.

Zögernd näherte sich Bea mit der Maus dieser E-Mail. Was würde sie erwarten? Schlechte Nachrichten? Oder die spontane Erfüllung ihres Traums, ein paralleles Leben mit einem zweiten Paulzimmer in Frankreich?

Aber galt das noch? Wollte sie das noch? War Paul ihr inzwischen nicht anders nähergekommen?

„Veit“, meldete sich Bea, als das Telefon am Schreibtisch klingelte.

„Wusste ich´s doch, dass du es nicht lassen kannst. Wie geht es dir, meine beste und einzige Geschäftspartnerin?“, fragte Titus mit seiner weichen Stimme.

„Ach, dafür, dass es mich erst heute Vormittag total zusammengequetscht hat, eigentlich ganz gut. Du kennst mich ja, am Schreibtisch zu sitzen und mich abzulenken, ist ok. Hat heute alles geklappt?“

„Ja, alles bestens. Die Idee mit den Seilnetzen sieht super aus. Ich habe in der Scheune ein Eck damit abgeteilt. Das könnten wir auch im Laden ausstellen. Mit Paris habe ich den Termin für Mitte Juni ausgemacht. Aber warum ich anrufe: Wann soll ich Dich morgen Vormittag abholen? Wir gehen zur Polizei, zum Anwalt? Sonst noch was?“

„Ich brauche ein Auto.“ Bevor Bea nachgedacht hatte, war ihr dieser Satz rausgerutscht und sie hatte ihn so betont, als ob ihr Leben davon abhinge. Sie merkte, wie Titus tief Luft holte.

„Das Auto kann doch warten, Bea. Ich erledige die Dinge, wofür du ein Auto brauchst, und du betreust den Laden und die Anfragen. Das geht auch ohne Auto. Du hast doch alles fußläufig. Traust du dir das Autofahren überhaupt schon wieder zu?“

„Du weißt doch, wie gerne ich Auto fahre und wie viel mir meine Selbstständigkeit bedeutet.“ Bea zögerte. Mir muss schnell etwas einfallen, warum ich dringend ein Auto brauche. Von Six Fours darf Titus nichts erfahren.

Nebenher hatte sie die Nachricht von Monsieur Parignol überflogen. Sie war weder Hop noch top. Es würde einen Termin vor Ort geben mit allen Interessenten, am Freitag in einer Woche, am 3. Juni um 10 Uhr. Bea jubelte innerlich. Das war die Lösung.

„Und ich darf nach Aix. Les Rêves ist der Grund. Ich lese gerade die E-Mail von Monsieur Parignol. Du erinnerst dich, der Makler, der für mich seit Jahren an dem Château dranbleibt. Er schreibt, dass am kommenden Freitag, also in mehr als einer Woche, ein Termin der Interessenten ansteht. Es wird beraten und entschieden werden, wie es mit dem ehrwürdigen Château weitergehen soll. Paul würde das gefallen. Er hatte Les Rêves geliebt, und er hatte seine Träume damit.“

Wieder hörte sie Titus tief Luft holen und in ihrem Hinterkopf rumorte ein Gedanke, der nichts Gutes verhieß. War da nicht was mit Les Rêves gewesen?

Aber ich nicht, dachte Titus am anderen Ende der Leitung. Lange hat mich dieses Château in Ruhe gelassen. Das hätte so bleiben können. Wenn sie Les Rêves kauft, wird sie über kurz oder lang von hier weg sein. Sie wird mich und unsere Geschäftsidee, in der Paul weiterlebt, im Stich lassen. Das werde ich nicht erlauben.

„Bist du noch da, Titus?“, fragte Bea in die Stille.

„Hat der Arzt nicht gesagt, dass du dich schonen sollst?“ Auf die Informationen zum Château ging Titus nicht ein. „Außerdem haben wir am Sonntag, 5. Juni, Gartenmarkt in der Stadt und damit Tag der Offenen Tür im Laden. Hast du das vergessen? Mitte Juni wollen wir nach Paris fahren. Wir haben Hochsaison. Die Menschen sind in Aufbruchstimmung, wollen alles schön haben. Du wirst doch nicht wegen dieser alten Ruine deine Gesundheit und Coquelicots aufs Spiel setzen.“ Titus hatte seine Antwort gehässig und vorwurfsvoll ausgespuckt.

„Was ist denn in dich gefahren, Titus? Du weißt doch, was mir Les Rêves bedeutet.“

„Ich verstehe dich nicht, Bea. Sei zufrieden mit dem, was du hast. Belaste dich nicht mit mehr. Ich hole dich morgen um zehn Uhr ab.“ Titus hatte aufgelegt.

„Danke der Nachfrage, ich freue mich auf Les Rêves. Und auf Boris Vian. Und auf Paul.“

Erstaunt über die heftige Reaktion von Titus hatte Bea den Satz trotzig vor sich hingemurmelt. Da fiel ihr wieder ein, dass sie mit Titus vor vielen Jahren schon einmal wegen Les Rêves gestritten hatte. Worum war es damals gegangen? Bea dachte, Titus hätte ihren Traum akzeptiert und ihr Versprechen an Paul geahnt. Aber da hatte sie sich wohl getäuscht.

Bea teilte den drei Kunden die Öffnungszeiten für den nächsten Tag mit. Sie würde am Nachmittag von fünfzehn bis siebzehn Uhr im Laden sein.

Blieb das Telefonat mit Zoë, Didier´s Exfrau, groß gewachsen, mit tiefer Stimme, in bunte, wallende Gewänder gehüllt, die in krassem Kontrast zu den zentimeterkurz gehaltenen, schwarz gefärbten Haaren mit roten Strähnen standen. Zoës Exzentrik faszinierte Bea. Sie beide verband die Liebe zu Büchern, Kleinkunst und Sprachen.

Zoë leitete die Bibliothek in dem kleinen, von Meer und Inseln umgebenen Stadtteil von Six-Fours, Le Brusc, und war dort Dreh- und Angelpunkt für kulturelle Veranstaltungen. Deshalb wollte sie Zoë unbedingt sprechen. Sie würde ihr vieles über das Theaterstück zu Boris Vian und den Akteuren erzählen und ihr kurzfristig eine Karte für den Abend besorgen. Bea würde Zoë zudem bitten, ihr ein Zimmer im Hôtel du Parc zu reservieren, ihrem Stammhotel, wenn sie in der Gegend war.

Das wird hoffentlich bald unnötig sein. Les Rêves wird mich empfangen.

Auf der Festnetznummer des kleinen Hauses am Chemin de la Guardiole, einem Randweg von Le Brusc in einem Pinienwald oberhalb der Steilküste, nahm niemand ab. Da Zoë abends oft bei Veranstaltungen war, wollte Bea sie nicht auf dem Handy belästigen.

Deshalb tippte sie mit schwindenden Kräften ihr Anliegen in den Computer. Die Nachfrage nach dem Schauspieler und Trompeter konnte sie sich nicht verkneifen. Zoë würde sich darüber wundern und nachhaken. Was Bea dann antworten würde, ließ sie offen.

Die Luft war raus. Mit dem Gefühl, diesen Tag überlebt und am Ende das Wichtigste erledigt zu haben, sank sie wenige Minuten später mit einer Flasche Wasser und einer Decke auf die Chaiselongue im Loft. Dieses Möbelstück hatte genau den richtigen Winkel, um die Nacht zu verbringen, die beste Körperhaltung für den Moment.

Glück? Ja, ich hatte heute Glück. Und nicht nur heute. Mein Beruf ist vollkommen. Ich bin kreativ. Ich bin frei. Danke, Paul.

Diese Gedanken begleiteten sie ins Reich der Träume.

Zur gleichen Zeit versank Friederikes Blick in Leanders Augen. Sie hatten sich, wie schon am Abend vorher, im Storch´n verabredet, einer Traditionskneipe, die vor kurzem unter neuem Besitzer im alten Gasthausambiente wiedereröffnet hatte. Beide hatten sie am Nachmittag Klausuren korrigiert, Leander in Freiburg, Friederike in Emmendingen. Am frühen Abend hatte ihre Sehnsucht die Pflichten verdrängt. Friederike und Leander saßen sich an einem Zweiertisch gegenüber, eine Hand am Pilsglas, die andere mit der des anderen verschlungen. Um sie herum hätte die Welt untergehen können. Sie hätten sich nicht voneinander gelöst. Abwechselnd atmeten Friederike oder Leander tief ein, das Lächeln wurde breiter, sie schüttelten die Köpfe, kamen sich näher, küssten sich.

Leander zeichnete mit seinen Augen die runden Formen Friederikes nach. Für ihn war sie schon immer der Inbegriff von Wärme und Geborgenheit.

Während Friederike nicht aus dem Schwärmen herauskam. „Du siehst noch besser aus als früher.“ Sie strich über seinen gepflegten Dreitagebart und malte sich den weiteren Fortgang des Abends aus.

„Bitte Leander, das ist alles so traumhaft schön. Das lassen wir uns nie wieder nehmen“, raunte Friederike zwischen zwei Schluck Bier.

„Dass wir uns wiedergefunden haben, Freddi. Nur mir dir. Ich bin so glücklich. Dass wir das erleben dürfen. Versprochen. Keine Vorwürfe, kein Warum tust du dies? Warum tust du das? Einfach wir beide. In dem Vertrauen wie früher“, nuschelte Leander in Friederikes Ohr und grub seinen Kopf in die weiche Kuhle am Schlüsselbein.

„Zweimal Flammkuchen mit Salat.“

Sie stoben auseinander, um Platz zu machen, für die üppig beladenen Holzbretter.

„Lass es dir schmecken, Freddi.“ Leander nickte Friederike zu.

„Guten Appetit.“

Freddi, hallte in Friederike nach. So hatte nur Leander zu ihr gesagt, während sie es immer bei seinem Vornamen belassen hatte.

„Erzähl mir von Bea. Wie hast du sie heute verlassen? Hast du ihr deine Notfallkügelchen dagelassen?“ Leander lächelte liebevoll.

„Klar, und sie ist so durcheinander, dass sie sie sogar geschluckt hat. Vielleicht wollte sie mich aber auch nur loswerden. Irgendetwas hat sie im Büro erschreckt. Es war nicht nur der Unfall.“

„Hast du eine Ahnung, was?“

„Ich habe ihr heute von uns erzählt. Es tut mir schon weh, dass ich so glücklich sein darf und sie immer noch nach Paul sucht. Aber das ist es nicht.“

Etwas krampfte sich in Friederikes Bauch zusammen. Sie litt mit ihrer Freundin.

„Ob sie wohl jemals frei wird von ihm? Was muss für ein Mann kommen, um Paul abzulösen? Kannst du nicht einen guten Freund aus dem Ärmel zaubern?“

„Würde ich ja gerne. Aber so, wie du Bea beschreibst, ist sie mit ihrer Arbeit, Frankreich und ihren Erinnerungen verheiratet. Und doch auch glücklich. Meinst du wirklich, da passt ein Mann dazwischen?“

Eine Stimme riss Friederike aus ihren Gedanken.

„Hallo Rike. Schmeckt´s?“ Titus musterte ihren Begleiter. „Leander, bist du das? Wie kommst Du denn hierher? Ihr beide? Wie früher?“ Titus schüttelte ungläubig den Kopf.

„Wahnsinn, oder? Was das Leben für Überraschungen bereithält. Wir sind total happy.“ Leander war aufgestanden und umarmte Titus. Wie alte Kumpels klopften sie sich auf den Rücken.

„Wo hast du Christine gelassen?“, fragte Friederike.

„Sie wollte nicht mit. Sie hatte heute einen stressigen Tag. Aber ich musste nochmal raus. Weißt du, was Bea vorhat?“ Titus war laut geworden.

„Setz dich zu uns. Von Bea sprachen wir gerade.“

„Ich möchte euer Glück nicht stören.“

„Ein bisschen Glück musst du schon ertragen. Den Rest heben wir uns für später auf.“

Dabei drückte Friederike Leanders Arm.

„Also: Bea möchte nach Frankreich fahren, um genau zu sein, nach Aix. Zu so einem Termin wegen Les Rêves. Nächste Woche.“ Titus schnappte nach Luft. Seine Sommersprossen hatten jeden Schalk verloren. „Das lasse ich nicht zu.“

„Sie hat mir nur erzählt, dass da eine E-Mail ist. Aber gelesen hatte sie sie nicht, als ich gegangen bin. Weißt du, wie Bea sich das vorstellt? Möchte sie mit dem Auto fahren? Mit dem Zug? Vielleicht könntest du ja mitfahren, und ihr könntet es mit dem Geschäft verbinden.“

„Keine tausend Pferde bringen mich da hin. Ja, wir haben deshalb gestritten. Ein Pils bitte“, ergänzte Titus schroff, an die Bedienung gewandt.

„Ihr habt gestritten? Titus, was ist wirklich los? Normalerweise ermöglichst du Bea jeden Wunsch. Ihr versteht euch blind. Ihr führt das Geschäft auf einer Wellenlänge. Und du weißt, was sie schon alles investiert hat, um dieses Château zu besitzen. Denk nur an den Aufwand mit den Architektenplänen, die sie dafür hat machen lassen. Ich kann sie verstehen, dass sie nach Frankreich möchte, wenn sich endlich etwas tut, auch wenn ich dir Recht gebe: Es ist unvernünftig. Aber nicht zuletzt wegen Paul muss sie das machen. Und das weißt du. Ich wünschte nur, sie könnte Paul loslassen.“

„Titus, es tut mir leid wegen Paul.“, warf Leander ein. „Freddi hat mir alles von damals erzählt. Ich bewundere, was Bea und du aus all diesen Jugendträumen gemacht habt.“

Titus ließ Leander links liegen.

„Meine Meinung, ehrlich? Sie wird alles hier aufgeben, wenn sie Les Rêves besitzt. So vernarrt wie sie in alles Französische ist. Sie wird abhauen. Das ist ihre Lösung mit Paul. Und ohne ihren Elan, ihren Mut, ihre Französischkenntnisse kann ich hier dichtmachen. Kreative Schreiner gibt es auch in Südfrankreich.“

Titus kippte das Pils in einem Zug hinunter und bestellte gleich das nächste. Friederike und Leander schauten sich an. Was zog da für ein Unwetter auf? Der Appetit war ihnen vergangen.

„Und bevor du Bea weiter verteidigst, Friederike: Nein, ich verstehe das nicht. Ich werde morgen mit ihr zur Polizei und zum Anwalt gehen. Das habe ich versprochen. Aber mehr nicht. Nichts für ungut, ihr beiden Turteltauben. Einen schönen Abend noch.“

Damit nahm Titus sein drittes Bier und verschwand Richtung Theke.

Friederike und Leander tranken schweigend ihre Gläser aus, orderten die Rechnung, legten beide etwas mehr als die Hälfte des Betrags auf den Tisch und verließen den Storch´n.

Leander nahm Friederike in den Arm, um sie zu beschützen und zu wärmen. Sie schlenderten Richtung Friederikes Wohnung an der Elz. Vertraute Liebe hatte etwas Magisches. Sie freuten sich darauf, ihre Körper immer wieder von Neuem zu entdecken, zart, langsam, sinnlich, erfüllend. Es würde eine kurze Nacht werden. Und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie zusammenzögen.

„Die nächste Kemenate soll genauso werden.“ Paul lümmelte in einem schwarzen Sitzsack. Sie hielten sich in einem quadratischen Raum auf, dessen grobe Steinmauern bis unter die Decke mit übervollen Bücherregalen bedeckt waren. Bea stand in der Mitte und schaute auf Paul und seine vier jüngeren Brüder hinunter, die auf Flickenteppichen lagen.

„Ich bin der Älteste. Ich bestimme hier. Und es wird einen weiteren Bücherraum geben. Für Bea.“

Paul unterstrich seine Sätze energisch mit dem erhobenen Zeigefinger.

Verdutzt schüttelte Bea den Kopf, was unangenehm war. Seit wann hatte Paul vier Brüder? Seit wann las er gerne? Seit wann sprach er so? Und sie stand doch gar nicht, sondern lag in ihrem Loft. Endlich realisierte Bea, dass sie geträumt hatte. Von Paul. Etwas, was sie sich in den letzten Jahren oft gewünscht hatte, was aber nie vorgekommen war. Wahrscheinlich, weil sie immer mit Paul gesprochen hatte. Und er mit ihr. Aber das hatte er ja gestern verweigert.

Bea rappelte sich langsam in Sitzposition hoch. Fragen über Fragen tauchten in ihrem Kopf auf. Was meinte er nur mit dem zweiten Raum? Mit dem Bestimmer? Mit den Büchern? Das konnte nur ein Hinweis auf Les Rêves sein. Ja, so musste sie das einordnen. Und vorher Paul persönlich treffen.

Der Blick auf einen der vielen Wecker ließ Bea staunen. Sie musste am Ende der Nacht tief geschlafen haben, denn es war nach acht Uhr, die Weckerzeit im Loft war schon vorüber.

Umso besser, dachte sie. Dann wird mein Trip nach Frankreich nicht gar so unvernünftig. Ein wenig flau im Magen war Bea trotzdem, wenn sie an die achthundert Kilometer dachte, in einem fremden Auto und den Aufprall im Ohr.

Behutsam bewegte sie sich im Loft und frühstückte im Stehen an der Theke, Schwarztee, Honigbrot und eine Schmerztablette. Sie informierte Friederike per WhatsApp, dass sie die Nacht gut überstanden hatte, und las die Nachricht von Zoë, die ihr mitteilte, dass sie sich freue, sie wiederzusehen.

„Tout va bien! Alles gut!“

Aus Zoës Sicht war damit bis zu Beas Ankunft alles gesagt. Auf den Trompeter war Zoë erstaunlicherweise nicht eingegangen.

Draußen war ein düsterer Tag aufgezogen und Bea wählte nach dem Duschen einen grauen Hosenanzug, dem sie mit einem roten T-Shirt und einem Seidenschal mit Klatschmohnmotiv Farbe verlieh. Auf High Heels verzichtete sie. Das wäre zu dick aufgetragen. Schließlich war sie Unfallopfer und kein Millionendeal-Partner. Telefonisch hatte sie beim Anwalt einen Termin für elf Uhr vereinbart. Sie war gerade fertig, als Titus sie abholte.

„Hallo. Gehen wir zuerst zur Polizei oder zum Anwalt?“ Titus hatte die Beifahrertür vom Fahrersitz aus geöffnet.

„Guten Morgen, Titus. Danke, dass du da bist. Zuerst zur Polizei. Beim Anwalt habe ich für elf Uhr einen Termin ausgemacht. Bist du immer noch sauer? Was ist denn los? Es geht mir ok. Mach dir keine Sorgen. Es geht besser, als ich dachte.“

„Weißt du, bei wem du dich bei der Polizei melden musst?“

„Patrick Maier. Ich habe die Visitenkarte dabei. Bleiben wir heute beim Staccato?“

So abrupt hatte Bea Titus noch nie erlebt. Titus war der ausgleichende Pol in ihrer Geschäftsbeziehung. Er fand für die abwegigsten Kundenwünsche eine Lösung und akzeptierte Beas intensiven Arbeitsstil. Der ungute Gedanke im Hinterkopf meldete sich wieder:

Was gefiel Titus nicht an Les Rêves?

Die beiden offiziellen Termine gingen zügig und sachlich über die Bühne. Bea müsste sich nur um das Auto kümmern, Mietwagen, Neuwagen. Die übrige Abwicklung würde komplett über den Anwalt laufen. Das erleichterte die Sachlage, denn Beas Plan, die folgende Woche nach Six-Fours zu fahren, war in Stein gemeißelt.

Wie angekündigt, setzte Titus Bea direkt nach dem Termin beim Anwalt vor dem Laden ab.

„Wenn du dahinfährst, musst du dir einen anderen Dummen suchen!“

Titus hatte beschlossen, die Flucht nach vorne zu ergreifen. Lieber wollte er die Fäden in der Hand halten und den Schlussstrich ziehen, als von Bea nach so vielen Jahren enttäuscht und allein gelassen zu werden.

„Was redest du da, Titus?“ Bea drehte sich zu ihm um, obwohl ihr Brustkorb bedenklich schmerzte, und sah ihn mit großen Augen an.

„Ich will mir niemand anderen suchen. Wir beide sind Coquelicots. Und das werden wir bleiben. Damit hat doch das Schloss nichts zu tun.“

„Bitte, Bea, steig aus. Du willst es nicht verstehen. Bleib einfach hier.“

Titus legte den ersten Gang ein. Ihr blieb nichts anderes übrig als kopfschüttelnd auszusteigen.

Liebe dich. Sei nicht ungerecht. Pass auf dich auf. Überfordere dich nicht. Gebe der Liebe Raum. Setz nicht alles aufs Spiel. Treffe Paul im Zimmer auf Les Rêves. Räkle dich in Pauls Armen in Six-Fours.

Es riss und zerrte an Bea, als sie an der Küchentheke das nächste Glas Wasser mit einer Schmerztablette vorbereitete. Hunger verspürte sie keinen. Trotzdem aß sie einen Joghurt, denn sie hatte gelernt, dass ihr Körper Nahrungsentzug mit Knockout-Kopfschmerzen bestrafte. Und das war das Letzte, was sie im Moment brauchte. Sie würde sich ein bisschen ausruhen, bevor sie den Laden öffnete. Wieder und wieder schaute sie sich das Video an.

Paul, erlöse mich. Sie fühlte, wie Pauls Hände das Muttermal unterhalb des Bauchnabels sanft umkreisten. Sie spürte seinen Atem zwischen ihren Brüsten – bald.

Um fünfzehn Uhr öffnete Bea den Laden. Kunden würde sie am Klackern des Klangspiels aus Olivenholz erkennen, das über der Eingangstür hing.

Sie stellte im Büro die Unterlagen für den Steuerberater zusammen. Bis zum Monatsende erwartete sie nur noch wenige Buchungen, die schnell hinzugefügt wären. Dann rief sie in ihrem Autohaus an, um nach einem Ersatzwagen zu fragen. Herr Klein informierte Bea, dass ein Gutachter ihren Schrott bereits angeschaut und als Totalschaden eingestuft hatte.

„Wie planen Sie denn weiter, mit dem Auto, meine ich, Frau Veit?“

Ich möchte am liebsten genau meinen Mini zurück, lag es ihr auf der Zunge. Aber sie hatte vom Unfall kaum gesundheitliche Schäden davongetragen und Schrott war ersetzbar. Niemand konnte ihre Schwärmerei für ihr Auto nachvollziehen.

„Langfristig möchte ich gerne das alte Auto ersetzt, so, wie es war, ein schwarzer Mini mit dem Klatschmohn-Aufdruck. Und einigermaßen neu sollte er auch sein. Kurzfristig brauche ich einen Ersatzwagen, stabil und zuverlässig. Am Montag?“

„Ich werde das zu Ihrer Zufriedenheit veranlassen, Frau Veit. Sehr gerne. Sie können den Mietwagen am Montagvormittag abholen. Dann erledigen wir die schriftlichen Dokumente wegen der Versicherung und die Bestellung des Nachfolgers gleich mit. Sie werden keinen Aufwand damit haben.“

„Danke, Herr Klein. Freut mich, dass ich mich wie immer auf Sie verlassen kann. Ein schönes Wochenende und bis Montag.“

Schnell legte Bea den Hörer auf, denn der Klang des Olivenholzes kündigte die Kunden an. Bea ließ ihnen Zeit, im Ambiente anzukommen. Jedoch schienen die drei Personen genau zu wissen, was sie suchten. Ein älteres, elegant gekleidetes Ehepaar hatte sich an dem in Barock gehaltenen üppig eingedeckten Esstisch eingefunden. Die Frau hielt die fein ziselierte, silberne Etagère in der Hand, während eine junge Frau, groß und schlank mit einnehmendem Lächeln, den verwitterten, schmalen Holztisch mit geschwungenen Beinen und Schubladen unter der Arbeitsfläche mit einem Meterstab abmaß.

„Der passt genau auf meinen Balkon!“, schwärmte sie. „Gekauft!“

„Da bin ich ja völlig überflüssig“, warf Bea in die Runde. „Freut mich, dass Sie finden, was Sie suchen!“

„Bei Ihnen ist meine Frau immer glücklich“, antwortete der Mann, der sich als Herr Tauz vorstellte.

„Sie haben so einen schönen Beruf“, sagten die beiden Frauen fast gleichzeitig.

„Ja, und ich weiß es zu schätzen. Darf ich Ihnen die Auswahl verpacken bzw. beim Einladen helfen?“

„Gerne.“ „Nicht nötig“, kam als Antwort.

Schnell waren die Beträge kassiert und die zufriedenen Kunden freundlich verabschiedet. Bea hatte sich angewöhnt, Lücken in der Auslage sofort zu schließen. Eine Etagère aus Kristallglas und eine Holzkiste ersetzten das Verkaufte. Bea kehrte an den Schreibtisch zurück, stellte Fotos der neuen Raumteileridee von Titus ins Netz, checkte den Terminkalender für die nächste Woche. Donnerstag bis Samstag nicht da zu sein würde Coquelicots nicht in den Ruin treiben.

Als das Olivenholz ein weiteres Mal anschlug, rechnete Bea mit dem dritten Kunden, aber es war Friederike.

„Bee, wie geht es dir?“ Friederike nahm Bea vorsichtig in den Arm.

„Für den Aufprall, Rike, echt gut. Ich bewege mich ein bisschen langsamer, und mein Kopf ist etwas matschig. Aber sonst ist alles ok. Und bei dir? Du strahlst aus allen Poren.“

„Ich schaffe es kaum, mich von Leander zu trennen. Es tut so gut, sich einfach fallen lassen zu können und nichts befürchten zu müssen. Du wirst sehen, irgendwann ist es auch bei dir soweit. Ich bin zuversichtlich.“

Wie nah du an der Wahrheit dran bist, Rike, dachte Bea.

Aber Friederike plapperte schon weiter.

„Was hat uns Titus gestern Abend erzählt? Du hast Nachricht aus Aix? Du willst nächste Woche hinfahren? Traust du dir das zu?“

Das weiß ich nicht, hätte Bea ehrlicherweise antworten sollen. Aber laut sagte sie: „Darauf habe ich so lange gewartet. Einige Leute sind am Freitag zu einem Gespräch auf das Château eingeladen. Monsieur Parignol hat geschrieben, alle, die Interesse hätten, müssten dabei sein. Vielleicht ist es die letzte Chance, Les Rêves zu bekommen.“

Bea nahm Friederikes besorgten Blick wahr. „Ich werde schon am Mittwoch fahren und die Strecke in zwei Etappen zurücklegen. Versprochen.“

„Hast du eine Übernachtung unterwegs gebucht? Das möchte ich schriftlich haben, denn sonst fährst du ja doch wieder alles am Stück durch. Ich kenne dich. Wir reservieren jetzt sofort eine Übernachtung. Und am besten für die Rückfahrt am Freitag auch gleich. Du musst für den Gartenmarkt am Sonntag wieder da sein.“ Das Wetter soll sommerlich warm werden. Ich freue mich schon, den Sommer zu begrüßen und das eine oder andere für den Balkon zu kaufen. Bourg en Bresse ist ungefähr die Hälfte der Strecke. Lass mal schauen.“ Schon hatte Friederike auf dem Bürostuhl Platz genommen und präsentierte Bea eine Hotelauswahl.

„Wie wäre es mit dem Hotel auf dem Aire – Rastplatz – bei Bourg en Bresse? Dann müsste ich die Autobahn gar nicht verlassen. Und einen bewachten Parkplatz gibt es dort auch. Das wäre ideal“, schlug Bea vor.

„Voilà. Bitte. Jetzt muss ich wohl, bist du zufrieden?“ Bea nahm die Reservierungsbestätigungen aus dem Drucker.

„Hat Monsieur Parignol in Aix ein Zimmer für dich reserviert?“

„Aix? Warum Aix?“ Bea drückte mit je drei Fingern auf die Knochenplatten hinter den Ohren. Das entlastete den Kopfdruck und half, ihre Gedanken zu sortieren.

„Aix? Ach ja, die Besprechung. Nein, ich übernachte in Six-Fours. Bis dahin wird Didier die Einrichtung für Freiburg haben, und ich kann Zoë endlich mal wieder treffen.“

Zum Glück funktioniert er schnell genug, mein Kopf.

„Sie wird dich hoffentlich nicht mit ihrem Kulturelan überfordern. Von mir bekommst du eine Nusstüte und ein paar Fruchtschnitten für die Fahrt, dann bist du versorgt.“

„Du sagtest vorher: Wir haben Titus gesehen. Wo? Und was ist mit ihm los?“

„Leander und ich haben ihn gestern im Storch´n getroffen. Manchmal denke ich, Titus ist in dich verliebt, Bea. Und seit dem Unfall ist etwas anders mit dir. Titus hat Angst um dich, um Coquelicots, um seinen Lebensrhythmus. Mit Christine läuft es nicht so, sie war gestern Abend nicht dabei. Vielleicht weiß er selbst nicht so genau, warum er so garstig ist.“

Ich werde in diesem einen Fall keine Rücksicht auf ihn nehmen. Für mich steht zu viel auf dem Spiel. Ich weiß, dass Titus in Sicherheit ist. Da muss er durch.

„Was ist denn mit dir? Gibt es noch etwas, das ich wissen darf? Es geht doch um mehr als um Les Rêves, Bee. Du warst so erschreckt, gestern Abend.“

„Es gibt etwas, Rike, ja, das spürst du gut. Ich freue mich, dass du das merkst. Ich kann es aber selbst noch nicht fassen. Lässt du mir ein bisschen Zeit?“

„Ich bin für dich da, egal wann. Ich drücke dir die Daumen. Soll ich dir noch einkaufen? Hast du alles?“

„Meine Vorräte aus der Bretagne reichen übers Wochenende. Danke. Ich werde mich treiben lassen und ein bisschen arbeiten. Wenn ich dich brauche, melde ich mich. Lass dich drücken, Rike, danke.“

Friederike zog die Ladentür von außen zu und Bea schloss ab, denn die offizielle Öffnungszeit war vorbei. Sie sprach Titus eine Nachricht auf den AB.

„Ich bin von Mittwoch bis Samstag weg. Für den Tag der Offenen Tür ist alles vorbereitet. Martin bekommt am Dienstag die Unterlagen für die Steuer. Die E-Mails lese ich regelmäßig. Bitte verstehe mich. Ich lasse dich nicht im Stich.“

Wer bist du, dass ich dich immer noch liebe

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