Читать книгу Fenster mit Licht - Marie Grünberg - Страница 6
4. Sehen, Hören und Seelen
ОглавлениеRichard atmete so ruhig wie möglich, als der Mann mit den grünen Augen langsam auf ihn zukam und dann, nur wenige Zentimeter von ihm entfernt, plötzlich innehielt und sich zu ihm hinunterbeugte.
„Er ist aufgewacht, Tom.“
Der Mann wandte sich kurz zu seinem Begleiter um, konzentrierte sich aber sofort wieder auf Richard, der Schwierigkeiten hatte, ruhig zu bleiben. Dieser Mann war ihm so nahe, er konnte seine Bartstoppeln sehen, einen dezenten Duft von Seife wahrnehmen und fühlte sich trotz der seltsamen Situation nicht von ihm bedroht. Nur mit größter Anstrengung schaffte er es nicht zu zucken, als ihm der Fremde auf einmal die Hände an Hals und Stirn hielt. Die Berührungen waren sanft, ganz anders als Richard es, gemessen an seinen Kopfschmerzen, erwartet hatte.
„Sieht nicht so aus, als hätte er Schäden davongetragen. Aber schlag das nächste Mal bitte nicht so fest zu.“
Der Mann zog seine Hände zurück, richtete sich auf und gesellte sich wieder zu seinem Begleiter, der Richard harsch musterte.
„Warum haben wir ihn nicht gefesselt?“
„Er ist ein Mensch, er kann uns nichts anhaben. Wie soll er gegen sich bewegende Schatten etwas ausrichten? Falls er uns überhaupt wahrnimmt.“
Richard schluckte und unterdrückte den Drang, sich an der Nasenspitze zu kratzen. Wovon sprach dieser Mann?
„Wie meinst du das?“
„Er ist ein Mensch, er kann uns nicht sehen.“
„Aber, Josh, seine Augen folgen dir.“
„Was?“
Sofort starrten beide Männer wieder zu Richard und er verfluchte zum ersten Mal den Tag, an dem er das Licht gesehen hatte.
Josh, der Mann mit den grünen Augen, kam nun in langsamen, tänzelnden Schritten wieder auf ihn zu. Dabei sah er ihm direkt in die Augen und beobachtete, wie Richards Augen seinen Bewegungen folgten.
Richard blinzelte. Gern hätte er die Augen geschlossen, aber er wollte wissen, was als Nächstes passierte und dieser Mann faszinierte ihn.
Josh kniete sich vor ihn hin und hob die Hand. Obwohl Richard keine Angst vor ihm hatte, zuckte er unbewusst zusammen.
„Tatsächlich, er sieht uns. Merkwürdig.“ Josh bewegte seinen linken Zeigefinger vor Richards Gesicht hin und her und Richard konnte nicht anders, als ihm zu folgen. Er sah kleine Schnitte an Joshs Hand und fragte sich, woher sie stammten.
„Er sieht uns wirklich. Aber er sieht aus wie ein Mensch und riecht auch wie einer.“ Josh überlegte. „Solange er uns nicht hören kann, behandeln wir ihn trotzdem wie einen Menschen. Vielleicht hat dein Schlag irgendwas in seinem Gehirn durcheinandergebracht und er kann uns jetzt sehen. Später wird er denken, es war eine Halluzination, falls er sich überhaupt an etwas erinnern kann.“
Josh kehrte zurück an die Seite des anderen Mannes und Richard sah ihm fragend hinterher. Warum gingen die beiden davon aus, dass er sie nicht hören konnte? Schließlich konnte er sie auch sehen. Und was meinten sie damit, dass er ein Mensch sei. Natürlich war er ein Mensch, was denn auch sonst. Aber hieß das dann, dass die beiden keine Menschen waren? Ihr Aussehen unterschied sich nicht sehr von seinem, nur ihre Kleidung war seltsam. Beide Männer waren dunkel gekleidet, in schwarze Hosen und dunkelgrüne Hemden, über denen sie wiederum schwarze Westen trugen. Sowohl die Westen als auch ihre Hosen waren mit kleinen Taschen übersät, die so dunkel gefärbt waren, dass Richard mehrmals hinschauen musste, um die verschiedenen Farben zu erkennen. Josh trug an seinem Gürtel noch einen Jutebeutel und ein Messer, das viel zu klein war, um Richard Angst einzuflößen.
Während der Anzug an Josh ganz natürlich wirkte und ihn geheimnisvoll und durchaus attraktiv erscheinen ließ, wirkte Tom darin wie verkleidet. Im Gegensatz zu Josh wirkte er in den dunklen Sachen fahl und kränklich. Seine wässrig grauen Augen verstärkten diesen Eindruck noch. Joshs Augen dagegen leuchteten förmlich. Selbst wenn Richard seine Augen schloss, konnte er sie deutlich vor sich sehen, ein erdiges Grün, das man sonst nur in tiefen Wäldern zu sehen bekam. Richard konnte sich einfach nicht sattsehen an ihnen und ertappte sich dabei, wie er immer wieder zu Josh hinüberschaute, der flüsternd mit Tom sprach. Doch lange hielt er es nicht aus, seine Stimme zu senken, und unterhielt sich bald wieder in normaler Lautstärke mit seinem Freund.
Richard verstand trotzdem nicht alles. Wohl registrierte er die Worte, nicht aber ihre Bedeutung. Alles, was er verstand, war, dass die beiden an diesem Ort waren, um Seelen an einen anderen Ort zu schicken. Für Richard hieß das, dass sie etwas mit dem Tod zu tun haben mussten und dieser Gedanke ließ ihn schaudern.
„Josh, bist du dir sicher, dass er uns nicht hören kann?“
„Ja, warum?“
„So sicher wie vorhin, als du meintest, er könne uns nicht sehen? Ich fürchte, er hört uns doch. Die Rede von Seelen hat ihn irgendwie aufgewühlt.“
Im nächsten Moment stand Josh vor Richard. Er hatte nicht einmal gesehen wie dieser sich bewegte. In einem Augenblick stand er noch neben Tom und im anderen direkt vor ihm und sah ihn mit seinen grünen Augen an, als wolle er ihm direkt in die Seele schauen. In Richards Bauch breitete sich ein flaues Gefühl aus. Josh fixierte ihn für eine Weile, sah ihn abschätzend an, als wäre er sich nicht sicher, was er von ihm halten sollte.
„Du kannst uns also sehen.“
Es war nicht als Frage formuliert und Richard widerstand dem Drang zu nicken nur gerade so.
„Aber kannst du uns auch hören?“
Dieses Mal war die Frage genau erkennbar. Richard schluckte und nickte langsam. Gleichzeitig versuchte er sich so klein wie möglich zu machen, um dem drohenden Schlag auszuweichen. Es nützte nichts. Er sah die Hand nicht einmal kommen, sah keine Bewegung. Fühlte nur einen kurzen Schmerz und dann war da nichts mehr.
Als er wieder aufwachte, bemerkte er sofort, dass man ihn an einen Stuhl gefesselt hatte. Seine Augen waren jedoch nicht verbunden und auch sein Mund war knebellos. Bewegen konnte er sich aber nicht einen Zentimeter. Sie hatten ihn mit einem starken Seil gefesselt, das seinem Körper keinerlei Bewegungsspielraum ließ.
Er befand sich auch in einem anderen Raum des Hauses. Zuerst dachte Richard noch, er wäre an einem völlig anderen Ort, aber dann erkannte er durch das schmutzige Fenster das Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite und sah die schlafende Katze auf ihrem Kissen.