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I

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»Ich könnte den Kerl erschlagen!« sagte Rechtsanwalt Dr. Kreuger in hellem Zorn. Er ging mit raschen Schritten, die Hände auf dem Rücken, in dem behaglich und sehr geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer auf und ab – ein dunkler, schlanker Mann, hinter dessen schmächtiger Figur sich ungeheure Energie und Zähigkeit verbargen.

Seine Frau stand am offenen Kamin und schob die brennenden Holzscheite mit der Feuerzange zurecht. Jetzt sah sie zu ihm auf. »Aber, Friedrich, wie kannst du! Wenn Birgit dich gehört hätte!«

Er blieb vor ihr stehen. »Ich dachte, sie wäre nach oben gegangen?«

»Ja, sie macht sich frisch. Aber sie kann jeden Augenblick hereinkommen.«

»Es würde ihr nicht schaden, die Wahrheit zu hören«, sagte Rechtsanwalt Kreuger, aber er senkte doch unwillkürlich seine Stimme.

Seine Frau hatte die Feuerzange wieder auf den schmiedeeisernen Ständer gehängt; sie setzte sich auf den hochlehnigen Gobelinsessel vor das Feuer. »Du solltest nicht so hart urteilen, Friedrich«, sagte sie. »Wenn du diesen Mann erst einmal kennenlernst, wirst du vielleicht deine Meinung ändern.«

»Den Gefallen tu’ ich ihm nicht, darauf kannst du dich verlassen, Sabine. Was ich bis jetzt von ihm weiß, genügt mir völlig. Sein ganzes Vorgehen ist einfach verantwortungslos.«

»Vielleicht liebt er Birgit wirklich«, wandte Sabine ein.

»Liebe! Ach, erzähl mir nichts! Liebe! Das glaube ich nicht!« Rechtsanwalt Kreuger begann wieder unruhig im Raum auf und ab zu gehen. »Ich wundere mich über dich, Sabine, ich wundere mich sogar sehr. Ich hätte nie gedacht, daß diese unglückselige Geschichte dich so kalt lassen würde. Anscheinend ist es dir völlig gleichgültig…«

»Nein«, unterbrach sie ihn, »du weißt ganz genau, daß es nicht so ist. Ich hätte mir wahrhaftig gewünscht, daß Birgit sich in einen netten, anständigen jungen Mann… ich meine, in einen Mann ohne familiäre Bindungen verliebt. Aber das Leben richtet sich nun einmal nicht nach unseren Wünschen. Ich fürchte, wir werden uns mit Birgits Wahl abfinden müssen.«

»Niemals!« sagte Rechtsanwalt Kreuger heftig. »Niemals werde ich zulassen, daß Birgit sich an einen geschiedenen Mann wegwirft.«

»Friedrich«, sagte sie, »ich bitte dich! Wenn man dich so reden hört… Glaubst du wirklich, daß man einen Menschen vor sich selber schützen kann?«

»Wir müssen es«, sagte er hartnäckig. »Wir sind ihre Eltern, und wir sind für sie verantwortlich.« Er blieb einen Augenblick lauschend stehen, aber es war nichts zu hören, bis auf das Prasseln der Flammen im Kamin. »Wo bleibt sie nur?« fragte er ungeduldig. »Herrgott, ich möchte diese Sache wirklich bald hinter mir haben!«

Er öffnete die Tür eines schweren norddeutschen Bauernschranks, hinter der sich die Hausbar verbarg, holte eine angebrochene Flasche Whisky und einen geschliffenen Kristallbecher heraus, schenkte sich zwei Finger breit ein und trank. Dann erst fiel ihm ein, seine Frau zu fragen: »Möchtest du auch?«

Sabine schüttelte den Kopf mit dem gepflegten weißen Haar, das in vorteilhaftem Kontrast zu der Frische ihres rosigen, immer noch jungen Gesichtes stand. »Nein, danke, nicht gerade jetzt.«

Als Birgit nach einem heißen Bad und einer kalten Dusche aus der Wanne stieg, fühlte sie sich sehr erfrischt. Sorgfältig rieb sie ihren Körper mit dem großen, angenehm rauhen Badetuch trocken. Sie wollte sich ihr Körperöl aus der Toilettentasche holen, als sie die Flasche mit dem Zitronenöl auf der Glasplatte über dem breiten Waschbecken sah. Birgit wußte sofort, daß die Mutter diese Flasche nur für sie dorthin gestellt hatte. Sie hatte es längst vergessen, aber plötzlich fiel ihr wieder ein, wie sehr sie als junges Mädchen den Geruch des Zitronenöls geliebt hatte. Jetzt benutzte sie längst eine französische Marke, die mit ihrem Parfum harmonierte, aber gerade deshalb fand sie die Aufmerksamkeit ihrer Mutter rührend. Sie brachte es nicht übers Herz, sie zu enttäuschen, schraubte die Flasche mit dem Zitronenöl auf und begann, ihre langen, schlanken Glieder mit kreisenden Bewegungen einzuölen. Der vertraute, längst vergessene Geruch weckte tausend Erinnerungen. Birgit fühlte sich auf seltsame Weise um Jahre zurückversetzt. Mit einer trockenen Bürste massierte sie das Öl tief in die Haut, schlüpfte in ihren Bademantel und lief die wenigen Schritte über den Flur in ihr Zimmer, dieses Zimmer, das für sie als junges Mädchen Freude und Stolz gewesen war.

Birgit wußte noch, wie sie selber mit Säge und Hobel das Bett in eine Couch verwandelt hatte, erinnerte sich genau an ihren siebzehnten Geburtstag, an dem ihr Vater ihr den hübschen kleinen Nußbaumschreibtisch geschenkt hatte, an dem sie in so vielen Nächten voller Feuereifer geschrieben hatte, überzeugt, etwas Großes zu vollbringen.

Birgit konnte der Versuchung nicht widerstehen, die Schreibtischschublade aufzuziehen. Sie wußte, hier mußte noch ein angefangenes Manuskript liegen, das letzte, das sie vor ihrem Weggang nach München begonnen hatte. Alle früheren Arbeiten hatten ihren Ansprüchen nicht genügt; sie hatte sie feierlich verbrannt. Sie nahm das mit der Schreibmaschine geschriebene Manuskript in die Hand, las den Titel »Liebe ohne Gnade«, überflog die ersten Seiten und errötete und lächelte gleichzeitig. Wie hatte sie je so dummes Zeug verbrechen können! Es hatte ein Roman voll Leidenschaft und tiefer Gefühle werden sollen, aber alles las sich jetzt übertrieben, falsch, unerträglich sentimental. Bei jedem Wort spürte sie, daß sie damals, vor vier Jahren, noch nichts vom Leben und nichts von der wirklichen Liebe verstanden hatte.

Sie legte das Manuskript aus der Hand, kramte weiter, fand einen Schnellhefter, in dem fein säuberlich alle Artikel eingeklebt waren, die sie während ihrer Schulzeit veröffentlicht hatte. Es waren kaum zehn, und dennoch erinnerte sie sich noch deutlich, wie stolz sie damals gewesen war. Welch ein Triumph, als der Geldbriefträger ihr für ihren ersten Aufsatz zwanzig Mark ins Haus gebracht hatte! Heute konnte sie nur noch darüber lächeln, und dennoch spürte sie, daß es der Anfang einer Entwicklung gewesen war, deren Gipfel sie heute bei weitem noch nicht erreicht hatte.

Mit einem kleinen Seufzer legte sie alles wieder in die Schublade zurück. Es war töricht, sich gerade jetzt in Erinnerungen zu versenken, wo so viel auf dem Spiel stand. Sie mußte einen klaren Kopf behalten, mußte überlegen, wie sie den Vater überzeugen konnte. Noch als sie auf dem Hamburger Hauptbahnhof aus dem Zug gestiegen war, hatte sie fest geglaubt, bei ihren Eltern Verständnis zu finden.

Die unverhohlene Mißbilligung, die ihr Vater ihrem Heiratswunsch entgegengebracht hatte, kam für sie völlig überraschend.

Birgit hatte ihre Eltern für moderne, aufgeschlossene Menschen gehalten; plötzlich erschienen sie ihr in einem ganz neuen Licht. Vielleicht hatten die Jahre der Fremde sie selber verändert, ohne daß sie es gemerkt hatte. Sie war aus der festgefügten bürgerlichen Welt ihres Elternhauses herausgewachsen. Die Eltern, so schien es ihr, waren ohne Einsicht und voller Vorurteile. Dennoch konnte sie nicht böse auf sie sein, nicht einmal über sie lächeln. Selbst wenn man sich auseinandergelebt hatte, so liebte und achtete sie ihre Eltern noch genauso wie in den Tagen ihrer Kindheit. Es tat ihr weh, sie um ihretwillen leiden zu sehen. Aber sie hatte keine Wahl, sie mußte es durchstehen – um ihrer Liebe willen.

Entschlossen begann Birgit ihren Koffer auszupacken, stapelte Bücher und Manuskripte, die sie während ihres Hamburger Aufenthaltes lesen wollte, auf das Tischchen neben dem Bett, hängte ihre Kleider in den Schrank, legte die Wäsche in die Schubladen. Dann begann sie, sich anzuziehen. Sie wählte ein einfaches, stahlblaues Wollkleid, weil sie wußte, daß ihr Vater immer der Meinung gewesen war, daß Blau ihr besonders gut stand. Dann bürstete sie mit kräftigen Strichen ihr weizenblondes Haar, zog die Augenbrauen sorgfältig mit einem dunkelgrauen Stift nach, tuschte ihre Wimpern und bürstete sie nach oben, benutzte einen zarten pastellfarbenen Stift für ihren schöngeschwungenen Mund. Sie wußte, daß Schönheit die wirkungsvollste Waffe der Frau war, und sie hatte gelernt, ihre Waffen zu gebrauchen. Mit raschen Schritten stieg sie die knarrende Treppe hinunter, atmete tief durch und öffnete die Tür.

»Na, endlich!« sagte Rechtsanwalt Kreuger, und seine Herzlichkeit klang gezwungen. »Wir haben schon gedacht, du wärst in der Badewanne ertrunken!«

»Tut mir leid, Paps, wenn ich gebummelt habe!« sagte Birgit lächelnd und küßte ihren Vater zärtlich auf die Wange. »Es ist schön, wieder einmal zu Hause zu sein!«

Rechtsanwalt Kreuger trat einen Schritt zurück und betrachtete seine Tochter mit Stolz. »Na, laß dich mal anschauen… Also, allzu schlecht scheint es dir in der Fremde nicht zu gehen. Du siehst großartig aus!«

»Vater und ich«, sagte die Mutter, »hatten immer mal vor, dich in München zu besuchen… Aber du weißt, wie das so geht, es ist immer wieder etwas dazwischengekommen.«

Birgit zog sich einen lederbezogenen Sessel zum Kamin, setzte sich. »Hast du so viel zu tun, Vater?« fragte sie, denn sie erinnerte sich, daß es ihrem Vater Freude gemacht hatte, wenn seine Familie sich für seine Arbeit interessierte.

Aber diesmal antwortete er nur kurz: »Kann man wohl sagen.«

»Vater vertritt einige große Industrieunternehmen«, erklärte Frau Kreuger mit leichtem Stolz, »er ist auch vor einem Jahr in einen Aufsichtsrat gewählt worden. Aber das habe ich dir doch geschrieben, nicht wahr?

»Scheidungsfälle übernehme ich gar nicht mehr«, sagte Rechtsanwalt Kreuger, »ein schmutziges Geschäft. Es verdirbt auf die Dauer den Charakter.«

»Womit wir wieder beim Thema wären«, sagte Birgit. «Bitte, Paps, werde nur nicht gleich wieder zornig… hör mich doch erst mal an! Wenn du mir nicht glaubst, kannst du dich ja über Marius Ellmann erkundigen. Er ist ein durch und durch anständiger Mann… kein Fleckchen auf der Weste. Ich begreife wirklich nicht, was ihr gegen ihn einzuwenden habt!«

»Bitte, versuch doch Vater zu verstehen«, sagte Frau Kreuger rasch, »ihn stört es eben, daß Herr Ellmann geschieden ist.«

»Na und? Ist das etwa ein Charakterfehler?«

»Birgit! Also wirklich! In diesem Ton möchte ich mich nicht mit dir unterhalten!«

»Mich ärgert einfach, daß ihr so tut, als ob Marius ein Verbrecher wäre!«

»Birgit, jetzt übertreibst du aber wirklich«, sagte Frau Kreuger, »das hat doch niemand behauptet.«

»Doch! Vater! Vielleicht hat er’s nicht direkt gesagt, aber jedenfalls denkt er das. Oder willst du das etwa leugnen, Paps?«

»Jetzt hör mich mal in aller Ruhe an, Birgit«, sagte Rechtsanwalt Kreuger, »mir scheint, wir reden die ganze Zeit aneinander vorbei. Das Problem… Herrgott, wie soll ich dir das erklären? Das Problem liegt nicht in der Persönlichkeit deines Freundes. Es liegt in seiner Situation. Selbst wenn wir unterstellen, daß er ein Mensch ohne Fehler und Schwächen ist, so bleibt doch die Tatsache: er ist geschieden und hat zwei halb erwachsene Kinder, für die er sorgen muß. Du mußt schon erlauben, daß uns das zu denken gibt.«

»Ihr meint also, weil er einmal geschieden ist, muß seine zweite Ehe auch schiefgehen? Aber, Vater, Mutter! Das ist doch nicht euer Ernst! So altmodisch könnt ihr einfach nicht sein. Jeder weiß, es kommt manchmal vor, daß zwei Menschen heiraten, obwohl sie eigentlich gar nicht zueinander passen. Gerade du als Scheidungsanwalt, Paps…«

Er unterbrach sie. »Findest du nicht auch, daß es etwas sonderbar ist, wenn man zwanzig Jahre braucht, um das festzustellen?«

»Aber, Paps, so ist das gar nicht gewesen! Ihr seht die Dinge ganz falsch. Natürlich haben sie es sehr viel eher gemerkt, schon vor Jahren. Aber damals waren die Kinder noch so klein, und da haben sie es eben immer wieder versucht. – Sie haben sich alle Mühe gegeben – bis sie dann eines Tages festgestellt haben, daß es doch nicht geht.«

»Du willst wohl sagen, bis dein Freund dich kennengelernt hat?«

Birgit errötete jäh. »Ich habe damit gar nichts zu tun, das müßt ihr mir schon glauben. Ich würde dazu stehen, wenn es so wäre – aber als ich Marius kennengelernt habe, stand er kurz vor seiner Scheidung.«

»Natürlich, Kind«, sagte Frau Kreuger und warf ihrem Mann einen vorwurfsvollen Blick zu. »Wir wissen doch genau, daß du so etwas nie tun würdest. Eine Ehe auseinanderbringen, das wäre doch geradezu verwerflich. Er ist also schuldlos geschieden, ja?«

»Was für eine Frage! Du müßtest doch wissen, daß das Schuldprinzip bei der Scheidung längst keine Rolle mehr spielt!«

»Aber wer wollte die Scheidung?«

»Seine Frau«, mußte Birgit zugeben.

Eine quälende Pause entstand.

»Meine liebe Birgit«, sagte Rechtsanwalt Kreuger dann, wählte sorgfältig einen schwarzen Zigarillo aus einer Teakholzdose und zündete ihn mit einem Streichholz an, »meine liebe Birgit, ich habe schon einmal gesagt, wir wollen unterstellen, daß dein Marius Ellmann tatsächlich ein Ehrenmann ist. Darum handelt es sich ja gar nicht. Mein Gott, warum kannst du das denn nicht begreifen? Du machst es mir verdammt schwer, mein Kind. Also, nun paß mal auf… ich glaube zwar nicht, daß ein Mann, der seine erste Frau betrogen hat, das bei seiner zweiten Frau wiederholen wird. Schließlich ist der Altersunterschied zwischen euch auch ziemlich groß, nicht wahr? Er würde kaum in Versuchung kommen, sich noch einmal nach einer Jüngeren umzusehen. Bitte, mach jetzt nicht so ein Gesicht, Birgit, wir wollen die Dinge beim Namen nennen. Anders hat es ja keinen Sinn. Tatsache aber ist und bleibt, daß er kein freier Mann ist. Daran ändert auch die Scheidung nichts. Er trägt die Verantwortung für seine erste Frau und die beiden Kinder, und er wird sie bis an sein Lebensende tragen. Begreifst du denn wirklich nicht, was das für dich bedeutet?«

»Ich liebe ihn«, sagte Birgit, »alles andere ist ganz unwichtig.«

Rechtsanwalt Kreuger seufzte. »Ich glaube dir ja, daß du die Dinge so siehst. Aber ich weiß – und du mußt mir schon glauben, daß ich mehr Erfahrung habe als du – ich weiß aus den langen Jahren meiner Praxis als Scheidungsanwalt, wie sich so was nachher tatsächlich entwickelt. Es wird Probleme über Probleme geben, Schwierigkeiten, die du dir jetzt gar nicht vorstellen kannst. Ich kenne dich, Birgit. Ich glaube, ich kenne dich besser, als andere Väter ihre Töchter kennen. Du bist ein klarer, sauberer und unkomplizierter Mensch, du bist diesen Dingen nicht gewachsen. Von der finanziellen Belastung durch diese erste Ehe will ich gar nicht sprechen. – Hast du dir mal vorgestellt, was es für dich bedeutet, zwei Stiefkinder zu bekommen, die nur wenige Jahre jünger sind als du? Ja, jetzt glaubst du, du wirst kaum etwas mit ihnen zu tun haben. Aber das stimmt nicht. Sie sind dann die Kinder deines Mannes, und sie haben einen Anspruch auf ihren Vater. Bildest du dir ein, daß du so schweren Problemen überhaupt gewachsen bist?«

»Ach, Papa«, sagte Birgit, »du tust so, als wenn seine Kinder zwei kleine Teufel wären. – Ich kenne sie noch nicht, aber Marius erzählt oft von ihnen. Es sind zwei nette, harmlose junge Menschen. Marina ist siebzehn – Marius ist überzeugt, daß wir die besten Freundinnen werden. Und Florian ist erst sechzehn, eben ein Junge. Was sollten die mir schon für Schwierigkeiten machen?«

»Also, Birgit, ich muß schon sagen, du nimmst die Dinge sehr leicht!« Frau Kreuger zündete sich eine Zigarette an. »Du nimmst doch hoffentlich nicht an, daß die Kinder begeistert sein werden, eine so junge Stiefmutter zu bekommen? Das würde sie nicht mal freuen, wenn ihr Vater Witwer wäre. Aber so… nein, du solltest wirklich ein bißchen mehr auf deinen Vater hören. Du weißt, er versteht etwas von solchen Problemen. Wir haben oft genug abends über solche Fälle gesprochen. Ich erinnere dich nur an diese Alma Meier, ja, so hieß sie wohl, die auch einen geschiedenen Mann geheiratet hat…«

»Ja, ich weiß, und die nachher aus dem Fenster gesprungen ist! Ich wußte, daß ihr damit kommen würdet«, sagte Birgit. »Aber ihr könnt ganz beruhigt sein, so etwas würde ich nie tun!«

»Was Gott zusammengefügt hat«, sagte Frau Kreuger, »das soll der Mensch nicht scheiden. Ich weiß, du hältst mich für altmodisch, Kind…«

»Aber sie waren doch gar nicht kirchlich verheiratet«, sagte Birgit hilflos.

»Trotzdem. Eine Ehe ist eine Ehe. Wenn zwei Menschen einmal verheiratet gewesen sind, wenn sie zwanzig Jahre zusammengelebt haben…«

»Achtzehn!« sagte Birgit.

Frau Kreuger ließ sich nicht irritieren. »… ist daraus etwas Unauflösliches geworden. Du verstehst das nicht, Birgit, du bist eben noch viel zu jung. Aber glaubst du vielleicht, es hätte nie Krisen in unserer Ehe gegeben? Wir beide – dein Vater und ich – waren mehr als einmal so weit, daß wir uns gedacht haben, es geht einfach nicht mehr. Aber wir haben uns zusammengenommen, und dann ist es doch gegangen. Es ist sogar wieder gut geworden, weil man… weil man eben zusammengehört!«

Birgit lachte, aber es klang gar nicht fröhlich. »Ihr tut gerade so, als wenn ich mich scheiden lassen wollte. Ich will ja nur heiraten.«

»Nur ist gut!« sagte Rechtsanwalt Kreuger. »Ach, Birgit, warum machst du uns alles nur so schwer? Warum müssen wir überhaupt miteinander diskutieren? Hast du denn gar kein Vertrauen mehr zu uns? Haben wir dich bisher nicht immer richtig beraten?«

»Doch«, sagte Birgit, »aber dies hier ist etwas anderes. Hier geht es um Dinge, die nur ich selber entscheiden kann.«

»Natürlich. Darüber sind wir uns ja klar. Wir wollen doch nichts weiter, als daß du dir deine Entscheidung reiflich überlegst. Also, paß mal auf, jetzt mach’ ich dir einen Vorschlag. Dein Vertrag bei der › Jugend‹ läuft doch jetzt ab, wenn ich richtig orientiert bin.«

»Ja, Vater. Aber der Verleger hat mir eine Verlängerung angeboten.«

»Du wirst sie nicht annehmen, Birgit, sondern du wirst nach Hamburg zurückkommen…«

»Aber… warum?«

»Laß mich aussprechen! Du wirst in Hamburg bestimmt auch in einer Redaktion unterkommen, du wirst ein Jahr lang von deinem Marius getrennt sein. – Ein Jahr ist schnell herum, Birgit, und dann kannst du dich immer noch entscheiden. Wenn du dann noch darauf bestehst, daß du ihn heiraten willst…«

»Vater! Du schlägst mir das doch nur vor, weil du hoffst, uns dadurch auseinanderzubringen!«

»Wenn ihr euch wirklich so liebt…«

»Ja, das tun wir, Vater! Daran wird weder die Entfernung noch die Zeit etwas ändern.«

»Schön. Machen wir es also so. Inzwischen werden wir sehen…«

»Nein!« Birgit stand auf. »Das kannst du nicht von mir verlangen – nein, Vater, ich will nicht noch ein Jahr warten. Ich kenne Marius jetzt lange genug, und er kennt mich. Warum sollen wir uns so unnötig quälen?«

»Vielleicht wäre es nicht unnötig, Birgit – aber, bitte, selbst wenn du das annimmst –, könntest du es nicht uns zuliebe tun? Du weißt genau, wie sehr wir unter einer überstürzten und unüberlegten Heirat leiden würden… um deinetwillen. Ich habe dich noch niemals gebeten, für uns ein Opfer zu bringen. Aber diesmal muß es sein.«

»Ich kann es nicht, Vater!« sagte Birgit, blaß bis an die Lippen. »Marius braucht mich. Er kann so nicht weiterleben – allein in einem möblierten Zimmer. Vater, verstehst du denn das nicht? Er braucht mich wirklich!«

»Vielleicht braucht er im Grunde genommen seine Frau?«

»Vater!« Es klang wie ein Aufschrei. »Wie kannst du nur?!«

»Birgit, komm, beruhige dich doch«, sagte Frau Kreuger, »Vater hat es doch nicht so gemeint! Aber irgendwie hat er recht. Es wäre doch besser, abzuwarten, bis sich herausgestellt hat, ob Marius und seine Frau sich wirklich so auseinandergelebt haben, wie du glaubst. Vielleicht entschließen sie sich doch noch, wieder zusammenzuleben… schon um der Kinder willen. Denk doch auch einmal an die armen Kinder.«

»Ihr versteht mich nicht«, sagte Birgit, »es ist sinnlos.«

Rechtsanwalt Kreuger kam auf seine Tochter zu und legte seinen Arm um ihre Schulter. »Wir lieben dich, Birgit, du weißt, daß wir dich lieben. Wir wollen ja nur verhindern, daß du unglücklich wirst – daß du an dieser unglücklichen Ehe zerbrichst.«

Birgit widerstand der Versuchung, sich in die Arme ihres Vaters zu werfen, sich an ihn zu klammern und sich auszuweinen, wie sie es als kleines Mädchen getan hatte. »Ihr verbietet mir also, daß ich ihn heirate?« fragte sie mit starren Lippen.

»Verbieten!« Rechtsanwalt Kreuger ließ seine Tochter los und begann rastlos im Zimmer auf und ab zu gehen. »Wir haben dir nichts zu verbieten. – Du bist volljährig. Du kannst tun und lassen, was du willst!«

»Aber ihr seid nicht damit einverstanden?«

»Wie könnten wir das?«

»Wollt ihr ihn nicht wenigstens kennenlernen? Mit Marius selber sprechen? Bestimmt würdet ihr dann alles in einem anderen Licht sehen. Erlaubt mir doch, daß ich ihn anrufe – sicher ist er schon in Hamburg. Er wollte im Hotel Reichshof wohnen… ich darf ihn doch anrufen, ja?«

»Jetzt verstehe ich gar nichts mehr«, sagte Rechtsanwalt Kreuger. »Was will er in Hamburg? Und wenn er schon nach Hamburg kommt, warum seid ihr dann nicht zusammen gefahren?«

»Er mußte doch erst noch zu seinen Kindern, Paps. Sie leben in einem Internat in der Eifel. Er wollte es ihnen persönlich sagen.«

»Was?«

»Daß wir heiraten, natürlich!«

Rechtsanwalt Kreuger warf den Stummel seines Zigarillos mit einer ungestümen Bewegung in das Kaminfeuer. »Das ist nun wahrhaftig der Gipfel! Seine Kinder haben es also eher erfahren als wir? Das ist unglaublich. Also, ich muß schon sagen, Birgit, das hatte ich nicht erwartet. Du bist also keineswegs gekommen, um uns um unser Einverständnis zu bitten – sondern du stellst uns vor eine vollendete Tatsache. Wenn ich das geahnt hätte… Herrgott noch mal!«

»Aber Vater«, sagte Birgit verzweifelt, »ich bitte dich, du verstehst das ganz falsch.«

»Danke, ich habe genug. Du kannst dir jedes weitere Wort sparen. Ich sehe schon, daß unsere Meinung dir gänzlich gleichgültig ist. Tu, was du willst. Wir können dich nicht hindern. Ich hoffe nur, daß du nie bereuen wirst, unsere Warnungen in den Wind geschlagen zu haben.«

Birgit stand wortlos auf und ging aus dem Zimmer.

Frau Kreuger sprang auf und wollte ihr nacheilen, doch ihr Mann hielt sie mit hartem Griff am Handgelenk zurück. »Sie geht nach oben«, sagte er, »ganz gut, wenn sie die Sache mal überschläft. Morgen früh sieht alles anders aus.«

Sabines Augen füllten sich mit Tränen. »Sie ist sehr unglücklich… Friedrich, warum darf ich nicht zu ihr. – Warum warst du so hart zu ihr? Sie kann doch nichts dafür, daß sie sich in einen Mann verliebt hat, der…«

»Hart?« sagte Rechtsanwalt Kreuger. »Wenn man einen Menschen vom Abgrund zurückreißen will, kann man gar nicht hart genug sein.«

Einen Augenblick standen sie sich unschlüssig gegenüber. Rechtsanwalt Kreuger nahm als erster wieder Platz. Er entfaltete eine Zeitung und gab vor zu lesen. Frau Sabine ließ sich in ihren Sessel fallen und starrte verlören in die lodernden Flammen. Sie wechselten kein Wort und lauschten angestrengt nach oben. Als hastige, überstürzte Schritte die Treppe heruntereilten, sprang Frau Kreuger auf.

»Bleib«, sagte ihr Mann.

Sie ertrug es nicht, sie eilte zur Tür.

In der matten Beleuchtung des Treppenhauses standen sich Mutter und Tochter gegenüber. Unwillkürlich breitete die Mutter die Arme aus, und Birgit sank hinein. Wortlos und verzweifelt umklammerten sie sich. Dann riß Birgit sich plötzlich los, jagte die Treppe hinunter. Die Haustür fiel hinter ihr ins Schloß.

»Birgit!« rief Frau Kreuger in panischer Angst ihr nach. »Birgit!«

Assistenzarzt Dr. Kapellen öffnete das Fenster seines Zimmers, um den Zigarettenrauch hinauszulassen. Der Wind riß ihm den Fensterflügel fast aus der Hand, blähte die Vorhänge auf, trieb sie ins Zimmer.

Das Telefon schrillte.

Mit einiger Anstrengung gelang es Dr. Kapellen, das Fenster wieder zu schließen, er nahm den Hörer ab. Einen Augenblick lauschte er der aufgebrachten Stimme des Pförtners, dann sagte er: »Ich komme!«

Seufzend wechselte er seine Pantoffeln gegen Schuhe, zog sich einen weißen Kittel über, griff nach dem Stethoskop und verließ das Zimmr. Mit eiligen Schritten ging er den breiten Gang entlang, der um diese späte Abendstunde wie ausgestorben wirkte, und lief die Treppe hinunter in die große Halle.

Der Pförtner kam ihm aus der Loge entgegen, ein dicker Mann, der vor Aufregung schnaufte. »Da sehen Sie, Herr Doktor«, sagte er aufgebracht, »sie wollten gleich zu Ihnen auf die Station. Dabei habe ich ihnen schon gesagt, daß wir überbelegt sind… seit Wochen überbelegt…«

»Öffnen Sie!« sagte Dr. Kapellen kurz.

Die Tür zwischen Vorraum und Halle sprang auf, und eine junge Frau stürzte herein, gefolgt von einem großen Mann in Rollkragenpullover und Lederjacke. »Sind Sie der Chef hier?« fragte die junge Frau atemringend.

»Nein, Kapellen… Arzt vom Dienst.«

»Gott sei Dank. Mein Mann und ich…«

»Sind Sie krank?«

»Nein, natürlich nicht. Uns ist nichts passiert! Aber die Frau… sie ist uns direkt in den Wagen gelaufen! Wir konnten nichts dafür, wirklich nicht. – Natürlich hat mein Mann sofort gebremst, aber…«

»Die Frau liegt hinten im Wagen, Herr Doktor«, sagte der Mann in der Lederjacke. »Wir haben nicht gewagt, sie herauszuholen, ohne Tragbahre… wenn Sie vielleicht hinaufsteigen wollen!«

Die Lichter eines großen Lastwagens leuchteten durch die Dunkelheit. Der Mann in der Lederjacke ging Dr. Kapellen voraus und um den Wagen herum. Er klappte das hintere Brett herunter.

»Ich habe eine Taschenlampe«, sagte die junge Frau und stieg geschickt auf den Wagen. »Geben Sie mir die Hand, Herr Doktor, ich helfe Ihnen!«

»Danke, geht auch so.« Dr. Kapellen kletterte in das Innere des Wagens. Er nahm der jungen Frau die Taschenlampe aus der Hand, leuchtete den Raum ab.

Ganz im Hintergrund, nahe der Fahrerkabine, war ein Lager von leeren Säcken aufgeschichtet, auf dem eine Frau lag. Das weizenblonde Haar war blutverklebt, das Gesicht unkenntlich von geronnenem Blut. Eine breite Schnittwunde klaffte längs der Wange.

»Wir haben nicht gewagt, sie zu säubern«, sagte die junge Frau, und ihre Stimme zitterte, »wir wußten ja nicht…«

»Schon gut.« Dr. Kapellen kniete sich neben die Verletzte, fühlte den Puls, horchte an ihrem Herzen und hob ein Augenlid. »Das ist wahrscheinlich ein Schädelbruch«, sagte er. »Sie hätten sie besser am Unfallort liegenlassen sollen, bis ein Krankenwagen sie fortgebracht hätte.«

»Wir wollten keine Zeit verlieren«, sagte der Mann in der Lederjacke, »wir dachten, es wäre das beste, sie so schnell wie möglich einzuliefern.«

Dr. Kapellen erhob sich, ging gebückt zum Ende des Wagens, rief: »Kroll!« und noch einmal: »Kroll!«

Sie hörten den Pförtner schnaufen, noch ehe sie ihn sahen.

»Rufen Sie nach oben an, man soll den kleinen Operationssaal vorbereiten. Und ein Pfleger soll sofort mit einer Trage herunterkommen«, ordnete Dr. Kapellen an.

Der Pförtner verschwand im Dunkel, der Mann in der Lederjacke folgte ihm.

»Sie haben sie also überfahren?« fragte Dr. Kapellen.

»Nein, überfahren nicht«, verteidigte sich die junge Frau, »sie ist nicht unter die Räder gekommen, wenn Sie das meinen… Bloß, ihr Kopf ist gegen den rechten Scheinwerfer geprallt, das Glas ist zerbrochen. Sie können es sich selber ansehen. Mein Mann ist ziemlich langsam gefahren, deshalb konnte er noch schnell bremsen. Es war nicht unsere Schuld, bestimmt nicht. Sie ist, ohne nach links und rechts zu sehen, auf die Fahrbahn gestürzt.«

»Selbstmord?«

»Nein, das glaube ich nicht. Es war sicher keine Absicht. Wir haben sie ja schon ein paar Sekunden vor dem Unglück gesehen, Sie wirkte völlig geistesabwesend… verstört.«

»Auf alle Fälle müssen wir die Polizei benachrichtigen.«

»Ist das nötig?«

»Unbedingt. Jeder Unfall, bei dem jemand verletzt ist, muß von der Polizei untersucht werden, das sollten Sie wissen. Hatte sie irgend etwas bei sich? Ich meine – konnten Sie ihre Identität feststellen?«

»Ich habe ihre Handtasche gefunden – ein Paß ist drinnen.« Die junge Frau reichte Dr. Kapellen eine graue Schlangenledertasche.

»Birgit Kreuger heißt sie, Wohnort München. In einem Seitenfach steckt ein Brief, an sie adressiert. Absender Friedrich Kreuger, Hamburg, Harvestehuder Weg.«

»Geben Sie her«, sagte Dr. Kapellen. »Danke!«

Der Pfleger und der Mann in der Lederjacke kamen mit der Trage. »Bitte, kommen Sie rauf, Ernst«, sagte Dr. Kapellen, »und helfen Sie mir. Sie bleiben bitte unten und halten das andere Ende, ja.«

Einmal stöhnte die Verletzte auf, während die Männer sie auf die Trage legten, und die junge Frau zuckte zusammen.

Dr. Kapellen bemerkte es. »Sie spürt nichts, ganz bestimmt nicht«, sagte er beruhigend, »sie ist weit fort von uns.«

»Wird sie noch einmal aufwachen?« fragte die junge Frau. »Ich meine… wird sie leben?«

»Wir werden alles versuchen.«

In zweiter Ehe

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