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III
ОглавлениеDer stürmischen Nacht war ein klarer, kalter Wintertag gefolgt. Die Straßen Hamburgs waren voller Leben. Kinder eilten zur Schule, junge Mädchen schritten hastig auf hochhackigen Schuhen daher, um noch rechtzeitig ins Büro zu kommen. Männer liefen, um die Straßenbahn zu erwischen. Rasselnd zogen Frauen und Männer die Jalousien der Läden hoch, Autos hupten, Straßenbahnen klingelten, und von der Elbe her tönte das Tuten der Dampfer.
Auf Rechtsanwalt Kreuger, seine Frau und Marius Ellmann wirkten Lärm, Leben und Licht so überraschend und verwirrend, daß sie unwillkürlich ihren Schritt verhielten, als sie den Vorhof der Klinik verließen. Sie hatten in den Stunden, die sie in der Stille des Krankenhauses verbrachten, völlig vergessen, daß draußen das Leben weiterging.
Der Rechtsanwalt war der erste, der sich in Bewegung setzte, seine Frau war mit wenigen Schritten an seiner Seite.
Marius Ellmann folgte ihnen. Er tat es gedankenlos und ohne Absicht, aus dem einzigen Grund, weil er selber kein Ziel hatte und keine Zuflucht wußte. Seine Beine waren während der langen Nacht steif und gefühllos geworden, mechanisch setzte er einen Fuß vor den anderen. Auf seinem Hirn lastete ein dumpfer Druck, er vermochte, halb betäubt vor Schmerz, kaum zu denken, aber instinktiv wehrte er sich dagegen, diese Betäubung abzuschütteln. Er spürte, daß er im wachen Zustand das Entsetzliche kaum hätte ertragen können.
»Es ist noch Hoffnung«, hatte Professor Rehbein gesagt, und bei jedem Schritt dachte Marius: »Noch Hoffnung… noch Hoffnung… noch Hoffnung!« Aber tatsächlich glaubte er es nicht. Noch Hoffnung – das war zu wenig. Das bedeutete: »Machen Sie sich auf das Schlimmste gefaßt.« Das Schlimmste – Birgits Tod. Nein, das durfte nicht sein, das konnte nicht geschehen, so grausam durfte das Schicksal nicht zuschlagen.
Marius Ellmann ballte die Fäuste in den Taschen, in seiner Kehle saß ein Schrei, den er nicht laut werden lassen durfte und an dem er fast erstickte. Er war außer sich vor Schmerz und nahm kaum wahr, was um ihn herum vorging.
Rechtsanwalt Kreuger und seiner Frau war es gleichgültig, daß Marius Ellmann ihnen folgte. Sie hatten weder die Kraft noch den Wunsch, ihn abzuschütteln. So gingen sie nebeneinander her, stumm und taub, mit nach innen gekehrtem Blick, drei Menschen, die dasselbe Schicksal getroffen und vereint hatte und die doch allein waren mit sich selbst. Sie schritten gleichmäßig aus wie Puppen, die von einer fremden Hand aufgezogen worden waren, beachteten nicht, daß eilige Schritte sie überholten, nahmen nicht zur Kenntnis, wenn sie gestoßen und angerempelt wurden. Sie gingen wie Verurteilte.
Rechtsanwalt Kreuger dachte: ›Es ist meine Schuld, ja es ist meine Schuld! Ist es wirklich meine Schuld? Herrgott noch mal, was hätte ich denn tun sollen? Ich habe doch nur das Beste gewollt. Birgit! Birgit! Wie konntest du mir das antun? Mein Gewissen findet keine Ruhe. Ich habe dich verloren. Es ist meine Schuld! Nur meine Schuld! Nein, nein! Es darf nicht sein! Ich kann es nicht ertragen. Es ist mehr, als ich ertragen kann. Birgit, mein Kind!‹
Nebeneinander schritten sie über die Lombardsbrücke, erreichten die stilleren Bezirke der Außenalster, überquerten eine schmale Seitenstraße. Keiner von ihnen bemerkte den Radfahrer, der von rechts einbog. Es war ein älterer Mann mit einer abgewetzten Aktentasche auf dem Gepäckträger. Der Radfahrer konnte ihnen nur mit Mühe ausweichen, er trat auf die Bremse, stieg ab und schimpfte aufgebracht: »Können Sie denn nicht aufpassen? Bleiben Sie gefälligst zu Hause, wenn…«
Die drei starrten ihn verständnislos an, bemühten sich, zu begreifen, was er von ihnen wollte.
Der Radfahrer stockte mitten im Satz, irritiert und seltsam berührt. »Na, es ist ja noch mal gutgegangen…«
Frau Kreuger hatte nur den letzten Satz aufgenommen. ›Es ist noch einmal gutgegangen‹, dachte sie, ›es wird gutgehen. Ganz bestimmt wird es gutgehen. Es ist noch Hoffnung, hatte Professor Rehbein gesagt. Solang noch Hoffnung ist… Birgit wird leben. Ich bin ganz sicher, daß sie leben wird. Es kann nicht sein, daß sie… nein, es kann nicht sein.‹
Sie sah Birgit vor sich, jung und lebendig, glaubte, ihre warme, fröhliche Stimme zu hören, ihr Lachen, das so oft das ganze Haus erfüllt hatte.
Merkwürdigerweise war es nicht die erwachsene Birgit, die in ihrem Herzen lebendig war, nicht die Birgit, die noch am Abend vorher verzweifelt um ihre Liebe gekämpft hatte. Für Frau Kreuger war die wahre Birgit immer noch das kleine Mädchen, dessen dünne, lange Beine aus dem Matrosenkleidchen hervorstaken, dem zwei dicke blonde Zöpfe schwer über die Schultern fielen. Sie hatte sich durch all die Jahre Birgits Bild aus jener Zeit bewahrt, wo Mutter und Tochter noch eng miteinander verbunden gewesen waren. Damals, als Birgit so gern im Haus geholfen hatte, als Frau Kreuger ihr gezeigt hatte, wie man einen Pullover strickt – damals, als sie noch ganz Kind gewesen war, ihre kleine Tochter, mit dem blassen, lieben Gesicht und den großen, klaren Augen.
Dann hatten die Bücher begonnen, in Birgits Leben eine Rolle zu spielen, Berge von Büchern, die sie verschlungen hatte. Frau Kreuger sah Birgit vor sich, wie sie auf dem Bauch vor dem Kamin lag, den Kopf in die Hände gestützt. Sie las und las, während alle anderen sich fröhlich über irgend etwas stritten. Als der Vater sie endlich fragte: »Na, Birgit, was hältst du denn davon?« – hatte sie mit einem Ruck die blonden Zöpfe über die Schulter zurückgeworfen und mit einem halb verlegenen, halb stolzen Lächeln gesagt: »Entschuldige bitte, Paps, ich habe nicht zugehört!«
Damals hatte Frau Kreuger zum erstenmal begriffen, daß Birgit sich unaufhaltsam von ihr entfernte, daß sie sie verlieren würde – verlieren, ja, an ihre Bücher, an ihren Ehrgeiz, an einen Mann –, aber nicht an den Tod. Dies war unmöglich, ganz und gar unmöglich.
Frau Sabine glaubte fest, daß in jedem Tod ein Sinn liegen mußte. ›Nach Gottes unerforschlichem Ratschluß‹ stand so oft in den Todesanzeigen, und jedesmal, wenn sie das las, hatte sie gedacht: ›Auch dieser Tod muß einen Sinn gehabt haben.‹
Frau Kreuger wußte, daß das Schicksal grausam sein konnte, daß Kinder und junge Leute starben, und dennoch klammerte sie sich an ihre Hoffnung: Gottes Güte.
›Gott kann das nicht zulassen‹, dachte sie, ›Gott wird es nicht zulassen. Birgit wird leben, sie ist ja meine kleine Tochter.‹ Ihre Gedanken verwirrten sich, sie begriff nicht mehr, daß es die erwachsene Birgit war, die zwischen Leben und Tod schwebte. Ein Mädchen von 22 Jahren, eine junge Frau, die sich ihr Leben selber aufbauen wollte, die vielleicht andere Anschauungen hatte als ihre Eltern – und die ein Recht darauf hatte, ihr Herz sprechen zu lassen. Für Frau Kreuger war sie immer noch die kleine Birgit mit dem Matrosenkleidchen und den blonden Zöpfen, um deren Leben sie bangte und um deren Leben sie betete.
Sie schritten durch die Grünanlagen an der Alster entlang. Das Wasser war hell und grau und eisig wie der Himmel. Möwen flogen hoch, kreischten und stießen nieder. Hausangestellte führten Hunde aus, Kinder spielten Nachlaufen.
Friedrich Kreuger und seine Frau gingen hastig, ihre Schritte verloren das Gleichmaß. ›Wenn jetzt aus der Klinik angerufen wird?!‹ dachte jeder still für sich, und auch Marius Ellmann hatte keinen anderen Gedanken. Die Angst um Birgit ließ diese drei Menschen beisammen bleiben, wenngleich keiner ein Wort sprach. Marius empfand, daß er nicht willkommen war, aber er konnte nichts tun, als Birgits Eltern folgen. Anders wäre er sich wie ein Verräter vorgekommen, ein Verräter an Birgit und an seiner Liebe.
Sie liefen jetzt mehr, als sie gingen, durch die Straßen, achteten nicht darauf, daß die Leute ihnen verblüfft und verständnislos nachsahen. Alle drei fürchteten, hofften, glaubten, daß eine Nachricht aus der Klinik vorliegen würde.
Keuchend erreichten sie den Vorgarten des schönen, gepflegten Backsteinhauses auf dem Harvestehuder Weg. Rechtsanwalt Kreuger brachte nicht die Kraft auf, nach seinem Schlüssel zu suchen, er drückte auf den Klingelknopf.
Ellen, ein hellblondes, kräftiges Mädchen aus den Marschen, das seit Jahren im Hause Kreuger arbeitete, öffnete die Haustür.
»Ist angerufen worden?« fragte der Rechtsanwalt, ohne zu grüßen.
»Ja«, sagte Ellen sofort, »aus der Kanzlei. Ich habe gesagt, daß Herr Doktor…«
»Sonst niemand?«
»Nein.« Ellens breitflächiges, unschönes Gesicht war bekümmert. Sie wußte nicht, was geschehen war, aber sie hatte begriffen, daß es etwas Furchtbares sein mußte. Sie hätte gerne gefragt, geholfen, wenigstens getröstet, aber sie spürte, daß jedes Wort von ihr nur alles noch schlimmer gemacht hätte.
»Soll ich einen Kaffee kochen?« fragte sie.
»Nicht nötig«, wehrte Rechtsanwalt Kreuger ab.
Zum ersten Mal wandte Frau Kreuger sich an Marius: »Oder möchten sie vielleicht… ?«
Marius Ellmann schüttelte den Kopf. »Nein, danke.«
Ellen half Frau Kreuger aus dem Mantel, die Männer hängten ihre Mäntel an der Garderobe auf, dann stiegen sie wortlos die Treppe hinauf.
Ellen lief ihnen nach, überholte sie, öffnete oben die Tür zum Wohnzimmer und sagte entschuldigend: »Wenn ich gewußt hätte… ich habe noch nicht…« Sie merkte, daß niemand ihr zuhörte, und verstummte.
Es war noch nicht aufgeräumt. Alles war noch genauso wie am Abend vorher. Im offenen Kamin lag die graue Asche und erfüllte das Zimmer mit einem scharfen, durchdringenden Geruch.
Niemand sprach ein Wort. Frau Kreuger setzte sich in den hochlehnigen Gobelinsessel. Rechtsanwalt Kreuger hockte sich auf einen Stuhl. Marius Ellmann zögerte einen Augenblick. Das Haus war gut geheizt, und es war warm im Zimmer. Aber er fröstelte vor Übermüdung. Er ließ sich in den lederbezogenen Clubsessel sinken.
»In diesem Sessel«, sagte Frau Kreuger, und ihre Stimme klang, als wenn sie aus weiter Ferne käme, »in diesem Sessel hat Birgit gestern abend gesessen!«
Die Minuten verrannen; niemand sprach ein Wort.
Rechtsanwalt Kreuger saß zusammengefallen auf seinem Stuhl. Er schien sehr alt und sehr müde. Frau Kreuger sah ihn an, und sie verzieh ihm in ihrem Herzen. Sie hatte ihm, seit es geschehen war, die Schuld an dem Unglück gegeben, ohne es auszusprechen. Jetzt sah sie, wie er litt, und wußte, es gab keine Schuld, sondern nur Verhängnis. Er hatte sie oft nervös gemacht, wenn er mit raschen Schritten, die Hände auf dem Rücken, das Zimmer durcheilt hatte, aber jetzt hätte sie gewünscht, er würde es wieder tun. Sein bewegungsloses Kauern war zutiefst beunruhigend. Er wirkte wie ein zusammengebrochener alter Mann.
Marius Ellmann blickte unentwegt auf das Telefon. Er hatte seit Jahren nicht mehr gebetet, jetzt aber betete er, ohne es selber zu merken: ›Laß das Telefon klingeln… endlich eine Nachricht… so oder so! Laß uns nicht länger auf eine Entscheidung warten! Wir sind am Ende.‹
Aber das Telefon blieb tot und stumm.
Als es dann endlich – nach Ewigkeiten hoffnungslosen Bangens – doch schrillte, begriff er es erst nicht. Er fuhr zusammen, sein Herz ging in unruhigen Stößen.
Die Eheleute standen gleichzeitig auf, sahen sich eine Sekunde lang an. Dann ging er zum Telefon. Die Klingel schrillte wieder, aber es schien, als wagte er nicht, den Hörer abzunehmen. Dann straffte er die Schultern, nahm mit entschlossenem Griff den Hörer.
»Hier Rechtsanwalt Kreuger«, meldete er sich. Eine lange Pause, dann: »Ja, er ist hier!«
Rechtsanwalt Kreuger legte den Hörer aus der Hand, sagte, ohne Marius anzusehen: »Für Sie, Herr Ellmann!«
Marius Ellmann begriff nicht. Er wollte etwas entgegnen, aber das Gesicht des Rechtsanwaltes ließ ihn verstummen. Er ging zum Apparat, nahm den Hörer auf, räusperte sich, um seine Stimme frei zu bekommen: »Bitte, hier Marius Ellmann…«
Eine aufgeregte Frauenstimme war am anderen Ende der Leitung. Marius war im ersten Augenblick außerstande, irgend etwas zu verstehen.
»Wer spricht denn da?« fragte er. »Bitte, was wollen Sie von mir… ich weiß nicht…«
»Aber Marius! Ich bin es doch, Helen! Deine Frau!«
Er erkannte ihre helle, durch die telefonische Verbindung ein wenig verzerrte Stimme, und ehe er noch reagieren konnte, fügte sie rasch hinzu: »Mein Gott, ich bin froh, daß ich dich endlich erreicht habe. Ich hatte ja keine Ahnung, wo du steckst. Wenn Marina mir nicht gesagt hätte… in ganz Hamburg habe ich herumtelefoniert. – Die Leute werden mich für wahnsinnig gehalten haben, aber…«
»Was willst du?« fragte er.
»Marius«, sagte Helen nervös, »deine Stimme klingt so komisch. Kannst du mich überhaupt verstehen? Ist die Verbindung nicht gut?«
»Doch, ich verstehe. Bitte, sprich endlich.«
»Es ist etwas Furchtbares passiert, Marius. Sonst hätte ich dich ja nicht angerufen. Stell dir vor, Marina ist hier! Ja, sie ist hier! Gestern abend ist sie angekommen. Sie ist völlig verstört… Du kannst dir schon denken, weswegen.«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Aber, Marius! Hast du wirklich geglaubt, die Kinder würden deinen Entschluß so ohne weiteres hinnehmen? Es war ein Schock für Marina… ein schrecklicher Schock. Völlig außer sich kam sie hier an, ich habe mich entsetzlich aufgeregt. Das arme Kind! Hörst du, Marius, du mußt sofort nach Düsseldorf kommen… sofort!«
»Unmöglich!«
»Unmöglich? Aber wieso denn? Jaja, ich kann mir vorstellen, daß dir das nicht angenehm ist, gerade jetzt. Aber schließlich geht es um dein Kind. Um Marina. Ich werde nicht allein mit ihr fertig, wahrhaftig nicht. Ich wage sie keine Minute allein zu lassen, aus Angst, daß sie etwas anstellt. Das Schlimmste ist, daß sie nicht ins Internat zurückwill. Ich habe ihr zugeredet, das kannst du mir glauben, ich habe es im Guten und im Bösen versucht, sie weigert sich. Was soll ich denn machen? Natürlich habe ich schon mit dem Internat telefoniert, aber sie wollen ihr keinen Urlaub geben. Sie bestehen darauf, daß sie sofort zurückkommt. Wegen der Schuldisziplin, du weißt schon. Wenn sie nicht sofort zurückkommt, werfen sie sie raus. Marius… Marius, hörst du mir überhaupt noch zu? Sag mir doch endlich, was soll ich tun?«
Marius Ellmann schwieg. Er wußte beim besten Willen nicht, was er Helen sagen sollte. Ihre Sorge und ihre Aufregung erschien ihm belanglos, töricht und übertrieben. »Marius! Marius… um Himmels willen, bist du überhaupt noch in der Leitung?« rief Helen aufgebracht.
»Doch«, sagte er, »und ich habe alles verstanden.«
»Dann sag doch ein Wort! Äußere dich endlich! Gib mir einen Rat!«
»Ich weiß nicht, was da zu raten ist. Marina muß natürlich zurück.«
»Eben. Das sage ich ja auch. Deshalb rufe ich dich an. Sie muß zurück, es wäre entsetzlich, wenn sie relegiert würde. Bitte, Marius, komm! Komm sofort! Auf dich hat sie immer gehört. Du mußt ihr gut zureden, du mußt ihr alles erklären. Du kommst, nicht wahr? Ich kann mit dir rechnen?«
»Nein«, sagte er dumpf.
»Aber, Marius, das ist doch nicht dein Ernst! Du kannst uns doch nicht jetzt im Stich lassen. Du weißt genau, ich habe nie etwas von dir verlangt… nie. Aber diesmal… nein, da gibt es keine Ausrede. Du mußt kommen!«
Die Versuchung war sehr stark, den Hörer aufzulegen, aber Marius Ellmann wußte, daß es sinnlos gewesen wäre. Er kannte Helens Hartnäckigkeit. Sie war so leicht nicht abzuschütteln. Sie würde wieder und wieder anrufen, bis sie ihr Ziel erreicht hatte.
»Hör mal«, sagte er, und es fiel ihm schwer, seine Stimme in der Gewalt zu behalten, »ich kann jetzt nicht. Hast du endlich verstanden? Ich kann jetzt nicht. Es ist ausgeschlossen. Ich kann dir das nicht erklären.«
»Völlig überflüssig«, sagte Helen, »ich verstehe durchaus. Du kannst deine Braut nicht allein lassen, wie?«
»Es ist etwas geschehen, Helen. Was, kann ich dir nicht erklären. Aber glaube mir doch, daß ich jetzt nicht kommen kann. Du mußt dich damit abfinden, ich werde nicht kommen.«
Helen schwieg einen Augenblick, und als sie wieder zu sprechen begann, zitterte ihre Stimme vor unterdrücktem Zorn. »Ich werde mich damit abfinden müssen. Natürlich, du hast recht. Was bleibt mir anderes übrig! Ich habe mich mit so vielem abfinden müssen. An mir hat dir ja nie etwas gelegen, aber ich dachte, wenigstens die Kinder…«
»Helen!« sagte er verzweifelt. »Ich bitte dich, Helen! Muß das jetzt sein?«
»Ja, es muß!« rief sie wild, und in ihrer Stimme schwang Hysterie. »Du hast immer nur das getan, was du wolltest… An uns hast du nie gedacht! Aber hab doch wenigstens Mitleid! Mitleid mit dem armen Kind. Sie leidet ja nur deinetwegen. Warum hast du ihr diesen Schlag versetzt? Sie wäre sonst niemals weggelaufen. Das weißt du ganz genau. Du bist schuld, du allein. Du kannst nicht einfach so tun, als wenn dich das alles nichts anginge. Du kannst sie wieder dahin bringen, daß sie zurückfährt, nur du. Du bist für Marina verantwortlich. Komm, Marius, ich flehe dich an, komm!«
»Helen«, sagte er mühsam, »ich werde euch anrufen, sobald ich den Kopf frei habe. Mehr kann ich dir nicht versprechen.«
»Nun gut. Dann hab wenigstens den Mut und sage es Marina selber. Sie steht neben mir. – Marina, dein Vater will dir etwas sagen!«
»Helen! Warum…?« begann er.
Aber da war schon Marina am anderen Ende der Leitung.
»Bitte, Vati«, sagte sie, und ihre Stimme klang sehr jung und sehr hilflos, »bitte, komm doch!«
Marius Ellmann hätte aufschreien mögen vor Verzweiflung, aber er riß sich zusammen und sagte: »Marina, Liebling, ich versteh dich nicht. Wir waren doch gestern den ganzen Nachmittag zusammen. Ich habe dir alles erklärt. Wenn ich geahnt hätte… Warum bist du bloß aus dem Internat fortgelaufen?«
Er erwartete, daß Marina etwas sagen würde, aber sie schwieg. Marius wiederholte seine Frage: »Marina, sage mir jetzt bitte, warum du aus dem Internat weggelaufen bist! Wir haben über alles gesprochen – was ist denn eigentlich los?«
»Ich…«, kam es sehr leise. »Es ist nur deinetwegen und… wegen dieser Frau. Wie kannst du… Vati, hast du uns denn gar nicht mehr lieb?«
»Natürlich hab ich dich lieb, Marina… wie immer. Daran wird sich auch nie etwas ändern. Das habe ich dir doch gestern alles erklärt.«
»Aber wenn ich es nicht verstehe, Vati, ich begreife es einfach nicht. Wie kannst du…«
»Marina, ich kann jetzt nicht mit dir streiten, ich kann es wirklich nicht, ich habe dir alles gesagt, was zu sagen war. Du bist doch ein vernünftiges Mädchen. Nimm dich zusammen, Marina. Mutti bringt dich jetzt auf die Bahn, und du fährst…« Er stockte mitten im Satz, denn es hatte in der Leitung geknackt, als wenn der Hörer am anderen Ende der Leitung aufgehängt worden wäre. »Hallo!« rief er, aber Marina hatte das Gespräch, das ihn fast übermenschliche Anstrengung gekostet hatte, beendet.
Er war schweißgebadet und völlig erschöpft. Seine Hand zitterte, als er den Hörer auflegte.
Mit unsicheren Schritten ging er zu seinem Sessel zurück, sah Rechtsanwalt Kreuger und seine Frau an. Aber sie wichen seinem Blick aus.
»Verzeihen Sie«, sagte er, »aber es war nicht meine Schuld…«
Rechtsanwalt Kreuger hob den Kopf und sah ihn an, fast haßerfüllt. »Nicht?« fragte er schneidend.
»Sind Sie dessen ganz sicher?«
»Friedrich, bitte!« Frau Kreuger legte ihre Hand auf den Arm ihres Mannes. Er dämpfte seine Stimme. »Du hast recht, Sabine, dies ist nicht der rechte Moment, anzuklagen.« Er wandte sich Marius Ellmann zu. »Aber ich wünschte… weiß Gott, ich wünschte, Birgit hätte Sie niemals kennengelernt.«
Marius Ellmann ballte die Hände, daß seine Knöchel weiß hervortraten. Aber er schwieg.
»Niemand von uns ist ohne Schuld«, sagte Frau Kreuger leise. »Niemand.«
Marina hatte sich über die Couch geworfen, das Gesicht in die Arme vergraben. Sie weinte hemmungslos, gab sich ganz ihrem Schmerz hin, keinem Trostwort, keiner Beruhigung zugänglich.
Helen Ellmann stand daneben, mit hängenden Armen. Sie wagte nicht, Marina zu streicheln, suchte wieder und wieder tastend nach einem Wort, das den Schmerz ihrer Tochter lindern konnte. Marina reagierte nicht. Ihr Schluchzen ebbte nicht ab.
Helen ertrug es nicht länger. Es war zuviel, was auf sie eingestürzt war. Sie verlor die Nerven, schüttelte Marina bei den Schultern und rief verzweifelt: »Marina! Schämst du dich denn nicht?! Weißt du nicht, was es für mich bedeutet, wenn dein Vater wieder heiratet?«
Marina hob ihr tränennasses Gesicht und starrte ihre Mutter feindselig an. »Für dich? Dir kann es ja nur recht sein. Du hast ihn nie geliebt! Immer hast du mit ihm herumgestritten. Immer warst du mit ihm unzufrieden. Du bist es, die ihn aus dem Haus getrieben hat!«
»Das ist nicht wahr!«
Marina erhob sich mit einem Ruck, setzte die schlanken Beine auf den Teppich, strich sich das zerzauste Haar aus der Stirn. »Du kannst die Wahrheit nicht vertragen. Du bildest dir ein, bloß weil du gut aussiehst, müßte sich alles nach dir richten. Du hast ja jetzt, was du willst. Du hast dir diesen Bankier geangelt, er wird dir alles bieten, was du bei Vati vermissen mußtest.«
»Marina! Was fällt dir ein, so mit mir zu reden? Ich bin deine Mutter!«
»Leider.«
Helen Ellmann biß sich auf die Lippen. »Bitte, Marina«, sie zwang sich zur Ruhe, »bitte, laß uns vernünftig miteinander sprechen. Bin ich schuld, daß Vater wieder heiraten will?«
»Ja, das bist du«, sagte Marina hart, »du hast ihn dahin getrieben.«
»Du bist ungerecht, Marina. Ich habe deinen Vater immer geliebt.«
»Davon hat man aber nicht viel gemerkt.«
»Warum, glaubst du, habe ich ihn geheiratet? Ich will es dir sagen: weil ich ihn geliebt habe!«
»Dann hast du dich wohl auch aus Liebe scheiden lassen, wie?«
»Weil dein Vater es wünschte, Marina, aus keinem anderen Grund!«
»Und warum hat er es gewünscht? Weil du ihm das Leben zur Hölle gemacht hast! Wenn es nach dir gegangen wäre, hätte Vater sich totarbeiten sollen, immer hattest du es mit seiner Karriere. Immer mehr Luxus wolltest du! Direktor hätte er werden können, aber er hat es ja abgelehnt! Warum? Weil ihm die Herren unsympathisch waren, weil er ihre Geschäftsprinzipien für bedenklich hielt. Ich will dir sagen, warum… wegen deines dummen, törichten Stolzes! An uns hat er ja sowieso nie gedacht.«
»Du bist noch sehr jung, Marina.«
»Auf einmal. Immer, wie es dir gerade paßt! Ich bin alt genug, um zu sehen, daß du alles falsch gemacht hast. Du bist schuld, daß wir Vater verloren haben!«
»Und wenn es so wäre? Bin ich nicht gestraft genug?«
»Du hast doch deinen Bankier und…«
»Ich will ihn nicht. Wie oft soll ich dir das noch erklären?! Ich liebe deinen Vater, und ich habe auf ihn gewartet… auch nach der Scheidung. Ich habe niemals daran gedacht, daß er eine andere heiraten könnte. Begreifst du denn wirklich nicht, was das für mich bedeutet?«
»Wenn du ihn wirklich so sehr liebst, warum hast du ihm das nicht gesagt? Warum hast du ihn nicht gebeten…«
»Warum hast du ihn nicht gebeten? Warum hast du ihm nicht gesagt, daß wir ihn lieben und daß wir ihn nicht verlieren wollen? Er hat ja dir die Eröffnung gemacht, daß er wieder heiraten will, und er war ja vorhin am Telefon ganz überrascht, daß du mit seiner Heirat nicht einverstanden bist. Wahrscheinlich hast du dagesessen und den Mund nicht aufgemacht!«
»Was hätte ich denn tun sollen?«
»Ihm die Wahrheit sagen, daß du es nicht erträgst!«
»Ich konnte es nicht, Mami, ich war wie vor den Kopf geschlagen. Und außerdem… Florian war dabei. Er hat genug unter alldem gelitten. Sollte ich ihm die Sache noch schwerer machen?«
»Ich glaube nicht, daß es Florian so viel ausmacht.«
»Das kommt dir nur so vor. In Wirklichkeit… er hat schrecklich unter eurer ewigen Streiterei gelitten, aber das Internat ist einfach die Hölle für ihn. Darüber hast du dir nie Gedanken gemacht… du nicht und Vati nicht. Ihr schimpft, weil er schlechte Noten bekommt, aber woran es liegt, das fragt ihr euch nicht.«
»Willst du uns etwa auch noch dafür verantwortlich machen?«
»Ihr seid an allem schuld! Ihr mit eurem Egoismus und euren ewigen Streitereien. Wenn ihr nur einen Augenblick an uns gedacht hättet, hättet ihr euch nie scheiden lassen… nie.«
Helen Ellmann schwieg. »Es tut mir leid, Marina«, sagte sie dann. »Glaub mir, bitte: Ich liebe euren Vater. Ich habe ihn immer geliebt. Aber was können wir jetzt noch tun?«
Marina sprang auf. »Ich weiß, was ich tun werde, Mami. Bitte, versuch nicht, es mir auszureden, ich werde nach Hamburg fahren. Ich werde Vater sagen… nein, viel besser, ich werde mit ihr reden… mit dieser Birgit.«
»Aber was, um Himmels willen, willst du ihr sagen?«
»Ganz einfach. Daß sie uns ihn nicht nehmen darf. Daß wir ihn lieben, und vor allen Dingen, daß wir ihn brauchen, daß er unser Vater ist und daß er zu uns gehört. Ich werde ihr sagen, daß er dich immer noch liebt und nie aufhören wird, dich zu lieben. Ich werde sie zwingen, ihn freizugeben.«
Birgit Kreuger erwachte aus tiefer Bewußtlosigkeit. Sie war unendlich weit fort gewesen, in jener Welt, an die es keine Erinnerung gibt. Sie fand nur sehr mühsam wieder zurück.
Gedämpftes Licht fiel durch die geschlossenen Vorhänge in das kleine weiße Krankenzimmer. Birgit begriff nicht, wo sie war, wollte den Kopf heben – aber er war schwer wie Blei und fiel auf das Kissen zurück.
Das Gesicht eines Mädchens unbestimmbaren Alters unter einer weißen Schwesternhaube beugte sich über sie. »Wie fühlen Sie sich?«
»Ich weiß nicht… ich weiß gar nichts…«, sagte Birgit mühsam.
»Sie hatten einen Unfall, aber jetzt ist alles wieder in Ordnung. Sie sind hier in der Privatklinik von Professor Rehbein.«
Birgit schloß die Augen und versuchte, sich zu erinnern. Aber es gelang ihr nicht. »Durst!« sagte sie.
Die Schwester bestrich ihr mit etwas Kühlem, Erfrischendem die Lippen. Es half nicht viel. Birgits Gaumen war wie ausgetrocknet.
»Später bekommen Sie mehr zu trinken. Es dauert nicht mehr allzu lange«, sagte die Schwester tröstend. »Haben Sie Schmerzen?«
»Mein Kopf!« Birgit tastete mit der Hand zum Kopf, aber sie spürte keine Haare, kein Fleisch, sie stieß mit der Hand auf totes, lebloses Gewebe. Sie erschrak. »Was ist… mein Kopf… was ist das?«
»Wir haben Sie zurechtflicken müssen, Fräulein Kreuger. Was Sie da spüren, ist nur der Verband. Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen, in acht Tagen nehmen wir ihn herunter. Sie haben großes Glück gehabt, Fäulein Kreuger.«
»Ich weiß nicht… Wie ist es passiert?«
»Sie sind in einen Lastwagen hineingelaufen, Fräulein Kreuger. Zum Glück konnte der Fahrer noch rechtzeitig bremsen. Es hätte viel schlimmer kommen können.«
»Ja, aber… wieso? War es meine Schuld? Habe ich nicht aufgepaßt?«
»Ich glaube, ja. Aber Sie sollten sich jetzt nicht den Kopf darüber zerbrechen. Sicher wird Ihnen bald wieder alles von selber einfallen.«
»Bitte, sagen Sie mir doch wenigstens… Wann war das? Ich meine: Wie lange war ich bewußtlos?«
»Seit gestern abend, jetzt haben wir Nachmittag. Also nicht einmal vierundzwanzig Stunden. Kein Grund zur Aufregung.«
Birgit versuchte, sich im Bett aufzurichten, aber es gelang ihr nicht, sie fiel wieder zurück. »Meine Eltern… wissen meine Eltern… Und Marius… o Gott, er wird nicht verstehen…«
»Ihre Angehörigen wissen, was geschehen ist, Fräulein Kreuger. Sie waren die ganze Nacht hier. Eben sind sie wieder gekommen. Sie haben sich große Sorgen um Sie gemacht. Wenn Sie sie jetzt sprechen wollen… aber nur fünf Minuten.«
Die Schwester ging zur Tür.
Plötzlich überkam Birgit die Erinnerung mit quälender Klarheit. »Meine Eltern«, sagte sie, »nein, bitte nicht! Noch nicht! Ich kann jetzt nicht, ich muß erst…«
»Nicht nur Ihre Eltern, Fräulein Kreuger«, sagte die Schwester, »ein Herr… ich glaube, es ist Ihr Bräutigam…«
»Marius?«
»Ich weiß nicht, wie er heißt. Er ist vor wenigen Minuten mit Ihren Eltern zusammen gekommen.«
Birgits Augen leuchteten auf. »Zusammen? Sie sind zusammen gekommen?!«
»Sie dürfen sich nicht aufregen, Fräulein Kreuger, sonst…«
»Ach, Schwester, Sie wissen ja nicht, was das für mich bedeutet! Marius und meine Eltern… zusammen! Das ist, das klingt für mich wie ein Märchen! Bitte, Schwester, lassen Sie sie herein… zusammen!«
Birgit schloß für Sekunden die Augen, während die Schwester die Tür öffnete. Sie fühlte sich schwach, ein wenig schwindelig und unsagbar glücklich.
Dann war Marius Ellmann bei ihr. Seine warme, kräftige Hand umschloß ihre Finger, sie hörte seine Stimme, die ein wenig vor Sorge und Erregung schwankte. »Birgit… bitte, sieh mich doch an! Ich bin bei dir…«
Sie schlug die Augen auf, sah in sein männliches, dunkles Gesicht, versuchte ihm zuzulächeln. Aber ihre Wangen schmerzten unter dem Verband, es wurde nichts als eine kleine, verzerrte Grimasse daraus. »Marius«, sagte sie, »ich bin ja so froh, daß alles so gekommen ist.«
Es fiel ihr schwer, den Blick von seinem Gesicht loszureißen, aber sie fühlte, daß sie es tun mußte; ihre Augen suchten die Eltern. Sie standen nebeneinander am Fußende des Bettes und sahen sie voll zärtlicher Sorge an.
»Bitte«, sagte Birgit, »kommt doch näher. Das Sprechen fällt mir noch etwas schwer.«
Sie traten an die andere Seite des Bettes, Marius Ellmann gegenüber.
»Wie fühlst du dich, Birgit?« fragte Rechtsanwalt Kreuger besorgt.
»Wir haben entsetzliche Angst um dich ausgestanden«, fügte Frau Kreuger hinzu.
»Ich… Ihr müßt mir glauben, es tut mir leid, ich habe das nicht mit Absicht getan. Aber jetzt, ich bin froh darüber. Jetzt ist alles gut. Ihr habt Marius kennengelernt, und ihr seid einverstanden, nicht wahr? Ich weiß, daß ihr einverstanden seid!«