Читать книгу In zweiter Ehe - Marie Louise Fischer - Страница 5
II
ОглавлениеDas Licht, das den breiten Krankenhausgang erhellte, war weiß und kalt. Es schien alle Farbe und alles Leben in sich aufzusaugen. Nur das Signal über der Tür zum Operationssaal leuchtete rot wie frisches Blut. Frau Kreuger schloß schaudernd die Augen.
Sie saß in einem leichten Stahlrohrsessel, die Hände krampfhaft gefaltet, und betete lautlos in sich hinein: »Lieber Gott, laß Birgit wieder gesund werden! Sie ist noch so jung! Bitte, laß sie leben! Alles soll so werden, wie du willst, nur laß sie leben!«
Rechtsanwalt Kreuger ging mit raschen Schritten, die Hände auf dem Rücken, auf und ab, voller Unrast und auswegloser Angst. Seine Frau hätte ihn gern gebeten, ruhig zu bleiben, sich zu ihr zu setzen, aber da sie wußte, daß er das nicht vermochte, schwieg sie. Eine lastende Stille lag zwischen ihnen.
Sie hatten nur wenige Worte gewechselt, seit die Nachricht von Birgits Unfall sie erreicht hatte. Der Schock war so groß gewesen, daß er ihre Sprache und selbst ihre Gedanken gelähmt hatte.
Die Minuten tropften zäh wie flüssiges Blei, es dauerte Ewigkeiten, bis der große Zeiger an der Wand um einen Strich weiterrückte. Nichts war zu hören außer den unruhigen Schritten des Rechtsanwaltes, ganz selten schlug in weiter Ferne eine Tür.
Rechtsanwalt Kreuger ahnte, daß seine Frau ihm innerlich die Schuld an dem Entsetzlichen gab. Er hoffte und wünschte, daß sie ihn anklagen würde, damit er sich verteidigen konnte. Aber sie blieb stumm, ihr Gesicht wirkte grau in dem kalten, erbarmungslosen Licht.
Plötzlich ertrug er es nicht länger. Er blieb vor ihr stehen und sagte mit rauher Stimme: »Es war ein Unfall, Sabine… hörst du?«
Da sie die Augen geschlossen hielt und sich immer noch nicht rührte, beugte er sich über sie und schüttelte sie sanft an den Schultern. »Sabine… begreifst du denn nicht?! Ein Unfall! Sie hat den Lastwagen zu spät bemerkt!«
Seine Frau schlug die Augen auf und sah ihn an. Aber sie sprach nicht aus, was sie dachte. »Ich bete«, sagte sie nur.
Eine Tür öffnete sich, und die beiden fuhren herum.
Es war nicht die Tür zum Operationssaal, die sich bewegt hatte, sondern eine kleinere, etwas weiter entfernte. Eine Schwester kam aus dem Waschraum. Sie war jung, hielt sich sehr gerade, und ihr Gesicht unter dem weißen Häubchen wirkte ernst.
Frau Kreuger sprang auf. »Schwester! Ist etwas passiert?«
Eine Sekunde sah sie die Schwester erstaunt an; sie war ganz bei der vor ihr liegenden Aufgabe gewesen. Dann erst begriff sie. »O nein, nicht das Geringste!« sagte sie mit einem raschen Lächeln. »Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen, wirklich nicht.«
»Wie lange wird es noch dauern?« fragte Rechtsanwalt Kreuger.
Die Schwester zuckte mit den Schultern. »Nicht mehr sehr lange, Doktor Kapellen muß nur noch nähen.«
Sie hatte sich schon abgewandt, ging mit weit ausholenden Schritten den Gang entlang, als sie sich noch einmal umdrehte. »Trotzdem würde ich Ihnen raten, jetzt zu Bett zu gehen«, sagte sie freundlich. »Es hat keinen Zweck, daß Sie hier warten. Sie könnten die Patientin bestimmt nicht vor morgen früh sprechen.«
Ohne die Reaktion des Ehepaares abzuwarten, eilte sie weiter.
Frau Kreuger ging zu dem Stahlrohrsessel zurück, setzte sich. Ihr Mann blieb zögernd stehen. »Sabine«, sagte er und räusperte sich, um seine Stimme frei zu bekommen, »ich glaube, ich werde telefonieren…«
Sie sah ihn an. »Ich verstehe nicht…«
»Ich werde versuchen, Marius Ellmann zu erreichen. Ich denke, er sollte es wissen!«
Die Uhr auf dem kleinen Turm des Schulgebäudes schlug Mitternacht. Die Gebäude des Internats lagen dunkel und in tiefster Ruhe.
Da flammte im Direktionszimmer Licht auf. Wenig später eilte der Pedell über den Hof, erklomm keuchend den Hügel zu dem hochgelegenen Jungenwohnhaus, pochte mit kräftigen Schlägen gegen die schwere eichene Tür.
Die Schläge hallten durch die Stille der Nacht, die Jungen fuhren in ihren Betten hoch. Das ungewöhnliche Ereignis wirkte alarmierend. Aus einigen der Zimmer und vor allem aus den großen Schlafsälen der Kleineren rannten die Jungen mit nackten Füßen auf den Gang, rasten die steinerne Treppe hinunter, um sich nur ja nichts von dem nächtlichen Abenteuer entgehen zu lassen. Sie kamen gerade noch zurecht, um mitzuerleben, wie Dr. Schmelzer, der Hausleiter, dem Pedell die Tür aufschloß, und ehe er sie noch verscheuchen konnte, hatten sie erfahren, was sie wissen wollten.
Mit Begeisterung verteilten sie die Nachricht durch das ganze Haus: »Ellmann muß zum Direktor kommen!« Einige Phantasiebegabte schmückten diese Nachricht sofort aus: »Ellmann hat was ausgefressen!« – »Ellmann ist mit einem Mädchen erwischt worden… im Wäldchen!« – »Ellmann hat dem Direx eine Stinkbombe mit Zeitzünder in die Wohnung geschmissen!«
Florian Ellmann hatte sich, als die alarmierenden Schläge ihn aus dem Schlaf rissen, knurrend auf die andere Seite gedreht und sich das Kopfkissen fest über die Ohren gezogen. Er haßte den Schulbetrieb, und er haßte das Internatsleben. Der Augenblick, wenn er abends in sein Bett steigen konnte, um endlich mit sich und seinen Träumen allein zu sein, war für ihn der schönste des Tages.
Aber als seine Stubenkameraden ihn an den Schultern rüttelten und ihm die Decke wegzogen, sträubte er sich, ihre Mitteilung zur Kenntnis zu nehmen.
»Menschenskind, Ellmann, begreifst du denn nicht?! Du bist dran, der Direx…«
Die Jungen schwiegen und zogen sich rasch in ihre Betten zurück, als Dr. Schmelzer, einen Mantel über dem Schlafanzug, eintrat. »Ellmann!« sagte der Hausleiter ruhig. »Bitte stehen Sie auf! Der Herr Direktor möchte Sie sprechen!«
»Jetzt!?« Florian riß die verschlafenen Augen auf. »Ausgerechnet jetzt? Mitten in der Nacht? Was ist denn passiert?«
»Kommen Sie, kommen Sie!« drängte Dr. Schmelzer. »Ziehen Sie sich an… es genügt, wenn Sie Strümpfe und Schuhe nehmen und Ihren Mantel überziehen. Beeilen Sie sich!«
Florian folgte der Anweisung des Hausleiters mit mürrischem Gesicht. Seine aufreizende Art, allen Anordnungen seiner Lehrer nur langsam und widerwillig zu folgen, hatte ihm seit langem viele Sympathien verscherzt. Dr. Schmelzer wartete ungeduldig, aber schweigsam.
Endlich hatte Florian sich seinen Wintermantel angezogen. »Na dann…«, sagte er lustlos und stapfte hinter Dr. Schmelzer her über den Gang.
Von allen Seiten öffneten sich die Türen, und neugierige Jungenaugen verfolgten Florians Abmarsch. Ihm war durchaus nicht wohl in seiner Haut. Er konnte sich zwar nicht entsinnen, in letzter Zeit etwas angestellt zu haben, aber er hatte die Erfahrung gemacht, daß man bei den Erwachsenen nie wissen konnte, was sie wieder einmal ausgeheckt hatten. Florian wußte, daß seine Leistungen in Latein, Physik und Mathematik miserabel waren und seine Versetzung trotz aller Nachhilfestunden mehr als unsicher war. Ohne links und rechts zu sehen, folgte er Dr. Schmelzer aus dem Haus und über den dunklen Hof. Eine unbestimmte Angst saß in ihm. Irgend etwas Schlimmes mußte passiert sein, dachte er, wenn man ihn zu dieser Stunde zum Anstaltsleiter holte.
Direktor Bergland saß im dunkelgrauen Anzug hinter seinem Schreibtisch, zu seiner Rechten der junge Dr. Bär, sein Assistent, in einem rot-weiß gestreiften Bademantel.
Die Stimme des Direktors klang anders, als Florian es erwartet hatte. Verhältnismäßig milde sagte er zu Dr. Schmelzer: »Vielen Dank, lieber Kollege… es tut mir sehr leid, daß ich Sie und den Jungen geweckt habe. Ich hoffe nur, daß das Haustelefon morgen endlich repariert werden kann. Sie brauchen nicht zu warten, Doktor Bär wird den Jungen nachher wieder zurückbringen.«
Dann wandte er sich an Florian: »Guten Abend, Ellmann – nehmen Sie doch Platz.«
Florian setzte sich gehorsam. Er war von Unruhe erfüllt und strich sich verlegen durch das dunkle, vom Schlaf zerzauste Haar. Direktor Bergland betrachtete ihn aufmerksam, bevor er sich entschloß, weiterzureden. Er rekapitulierte im Geist alles, was er über diesen Jungen wußte. Florian war ein höchst mittelmäßiger Schüler, dessen einzige Stärke in einer gewissen Begabung für neue Sprachen lag. Außerdem zeichnete und malte er mit großer Freude, aber in den naturwissenschaftlichen Fächern war er ein glatter Versager. Er war ein ausgesprochener Einzelgänger, beteiligte sich selten an Streichen und Raufereien, war bisher noch nie bei einer Unehrlichkeit ertappt worden. »Florian Ellmann ist selbst zum Lügen zu faul«, hatte sein Klassenlehrer einmal auf einer Konferenz gesagt, und Direktor Bergland mußte trotz des Ernstes der Situation ein wenig lächeln, als er daran dachte.
Florians dunkles Gesicht hellte sich bei diesem Lächeln auf. Er war ein aufgeschlossener, schlaksiger Junge, dessen kräftige Nase in dem noch unfertigen Gesicht übergroß wirkte.
»Haben Sie eine Ahnung, Ellmann, warum ich Sie habe holen lassen?« fragte er.
Florian sah dem Direktor gerade in die Augen und schüttelte den Kopf.
»Es handelt sich um Ihre Schwester.« Direktor Bergland machte eine kleine Pause.
Florian reagierte nicht. Alles, was Marina betraf, war ihm ziemlich gleichgültig, und er hatte keine Ahnung, worauf der Direktor hinauswollte.
Der Direktor räusperte sich. »Sie ist aus dem Internat verschwunden!«
Jetzt riß Florian die Augen auf. »Ver…«, stotterte er, »soll das heißen, sie ist ausgerissen?«
»Es sieht so aus. Fräulein Sabatzky hat bei ihrem letzten Rundgang festgestellt, daß Marinas Bett unberührt war. Auch ihr Mantel und ihre Handtasche fehlen. Sie muß zum Fenster hinausgeklettert sein.«
»Toll!« sagte Florian, halb verblüfft, halb bewundernd.
»Ich frage Sie nun, Florian – bitte, antworten Sie mir ehrlich… Hat Ihre Schwester Ihnen gesagt, daß sie vorhat – das Internat zu verlassen?«
»Nö. Die sagt mir doch nie etwas.«
»Sie können sich auch nicht vorstellen, warum sie ausgerissen ist? Oder wohin sie sich wenden wollte?«
Florian schüttelte den Kopf.
»Die Sache ist so«, sagte Direktor Bergland, »Marina war heute nachmittag bei mir und hat um Urlaub gebeten. Da sie keine stichhaltigen Gründe für ihren Wunsch vorbringen konnte, habe ich das natürlich ablehnen müssen. Wußten Sie davon?«
»Auch nicht«, sagte Florian, dann fügte er nach einem kurzen Zögern hinzu: »Sie sollten mal ihre Freundinnen fragen, Herr Direktor. Marina hat doch immer mit diesen beiden Ziegen – ich meine, Mädchen – zusammengesteckt. Die wissen bestimmt was. Die müssen doch was gemerkt haben.«
»Leider nein«, sagte Direktor Bergland. »Lotte liegt schon seit acht Tagen mit einer Grippe im Krankenrevier, und gerade heute mittag ist auch Rike eingeliefert worden. Marina war ganz allein in ihrem Zimmer. Das hat ihr die Flucht wahrscheinlich erleichtert.«
»Ach so. Na… dann weiß ich auch nichts.«
»Ellmann, nun passen Sie mal auf! Ihr Vater war doch heute mittag hier. Ist da irgend etwas vorgefallen? Ich meine, hat Marina vielleicht gewünscht, den Vater zu begleiten, und er hat es ihr abgeschlagen? Oder war sonst etwas Außergewöhnliches?«
»Stimmt!« sagte Florian und fuhr sich mit allen fünf Fingern durch das wirre Haar. »Verdammt… Entschuldigung, Herr Direktor… ja, da war was. Vater ist nämlich mit was rausgerückt. – Er will sich wieder verheiraten, hat er gesagt – Ich glaube, das ist Marina ziemlich an die Nerven gegangen. Sie hat sich gräßlich aufgeregt.«
»Aha. Da haben wir’s. Danke schön, Ellmann, mehr wollte ich nicht von Ihnen wissen. – Mehr können Sie mir ja wahrscheinlich auch nicht sagen. Gehen Sie jetzt bitte wieder schlafen.«
Direktor Bergland wandte sich an seinen Assistenten. »Bitte, seien Sie so nett, und bringen Sie Ellmann hinüber.«
Dr. Bär stand auf. »Ich hätte noch eine Frage an den Jungen, Herr Direktor.«
»Bitte.«
»Sagen Sie mal, Ellmann, weiß Ihre Frau Mutter schon von den Heiratsabsichten Ihres Vaters?«
Florian dachte einen Augenblick nach, dann sagte er: »Ich glaube nicht. Vater hat gesagt, wir sollten es als erste erfahren.«
Dr. Bär warf Direktor Bergland einen vielsagenden Blick zu, bevor er mit Florian das Zimmer verließ.
Der Direktor blieb einen Augenblick ganz still sitzen, dachte nach. Aller Wahrscheinlichkeit nach war Marina zu ihrer Mutter gefahren. War es zweckmäßig, Frau Ellmann zu benachrichtigen? Wenn Marina bei ihr ankam, würde sie sich sofort mit der Schule in Verbindung setzen, andernfalls würde die Nachricht nur unnötige Unruhe für die Mutter bedeuten.
Direktor Bergland entschloß sich, nichts zu unternehmen. Die Polizei war benachrichtigt worden, gleich nachdem Fräulein Sabatzky das Verschwinden des Mädchens entdeckt hatte.
Mehr war im Augenblick nicht zu tun.
Helen Ellmann schenkte gerade dem Bankier Hansgeorg Müller, der sie nach einem gemeinsam verbrachten Abend noch auf einen Sprung in ihre Wohnung begleitet hatte, eine Tasse Mokka ein, als es an der Haustür klingelte. Sie hob den Kopf und fragte erstaunt: »Wer kann das sein?«
Der Bankier, ein schwerer Mann mit schütterem Haar und hellen Augen hinter blitzenden Brillengläsern, zog seine farblosen Brauen hoch. »Das mußt du doch wissen, Helen!«
»Keine Ahnung. Ich erwarte keinen Besuch. Vor allem nicht mitten in der Nacht.« Sie reichte ihm Sahne und Zucker. »Vielleicht hat sich nur jemand in der Klingel geirrt. – Die Namen an der Haustür sind im Dunkeln kaum zu erkennen.«
Sie setzte sich, schlug die Beine übereinander und nahm einen Schluck Kaffee. »Ah, das tut gut!« sagte sie. »Ich fürchte, ich habe ein bißchen mehr getrunken, als ich vertragen kann.«
»Bestimmt nicht«, widersprach Hansgeorg Müller sofort, »jedenfalls hat man dir nichts angemerkt.«
Sie öffnete ihren schönen, kühngeschwungenen Mund zu einem Lächeln. »Das sagst du nur, um mich zu beruhigen.«
Es klingelte noch einmal, diesmal stürmischer und länger.
»Na, so was! Wer kann das bloß sein?« fragte Helen unruhig.
»Ich glaube, du solltest doch öffnen«, sagte Hansgeorg Müller ruhig, »man sieht von der Straße her, daß du noch Licht hast.«
Sie stand auf. »Wie du meinst. Aber herein lasse ich niemanden.« Sie ging in die Diele, betätigte den Haustüröffner, und während sie wartete, betrachtete sie sich prüfend in dem großen Garderobenspiegel. Das violette Samtkleid, das vorne hochgeschlossen und hinten tief ausgeschnitten war, brachte ihre üppige Figur vorteilhaft zur Geltung. Das tiefschwarze Haar, das sie zu einem mächtigen Knoten aufgesteckt hatte, saß tadellos, auch ihr Make-up war vollkommen in Ordnung. Nur der Blick ihrer großen dunklen Augen wirkte etwas verschwommen.
›Ich habe doch zuviel getrunken‹, dachte sie.
Dann wandte sie sich zur Tür, und plötzlich schoß ihr ein Gedanke durch den Kopf. Wenn es nun Marius war, der sie so plötzlich besuchte? Seit ihrer Scheidung hatte sich Marius nicht mehr bei ihr blicken lassen. Selbst Weihnachten und Neujahr war sie allein mit den Kindern gewesen. Es war ganz unwahrscheinlich, daß er sie so plötzlich aufsuchte. Dennoch – Helen Ellmann glaubte, ihren geschiedenen Mann zu kennen. Wenn er noch einmal zu ihr fand, würde er es überraschend tun.
Als sie die Tür öffnete, schlug ihr das Herz bis zum Hals. Fast war sie darauf gefaßt, Marius in der nächsten Minute vor sich zu sehen – aber es war ihre Tochter. Marinas Gesicht war blaß und verstört, ihr dunkles Haar, das sie sonst als Pferdeschwanz trug, hatte sich aufgelöst.
»Marina!« rief Helen Ellmann verblüfft. »Ja, um Himmels willen, was ist denn geschehen? Du hast doch keine Ferien… oder? Wie kommst du nach Düsseldorf? Warum hast du nicht… ?«
Marina ließ ihre Mutter nicht zu Ende reden, sondern warf sich in ihre Arme. »Mami! Mami!«
Helen Ellmann stieß rasch die Wohnungstür zu. Eine Ahnung von dem, was geschehen war, stieg in ihr auf. »Bist du etwa ausgerissen?« fragte sie.
Marina löste sich aus den Armen ihrer Mutter, sah sie aus fiebrig glänzenden Augen an. »Es ist etwas Entsetzliches passiert!«
»Was denn? Um Himmels willen, so rede doch, Marina! Ist Florian… ?«
»Nein, mit Florian ist nichts, es ist nur… Vater…«
»Bitte, sprich leise, Marina«, sagte Helen erschrocken, »ich bin nicht allein!«
»Du… du bist nicht…« Marinas Blick glitt von der Mutter zu der Kleiderablage, sie sah Hansgeorg Müllers schweren Ulster, seinen Hut. Sie verstand oder glaubte zu verstehen. »Ach, so ist das also«, sagte sie wild, »so ist das! Wenn ich das gewußt hätte! Und ich Idiot fahre bei Nacht und Nebel zu dir nach Düsseldorf, will dich warnen, will dir helfen… und du! Verdammt, dann ist es dir ja wahrscheinlich ganz egal, daß es so gekommen ist! Eigentlich hätte ich’s mir denken können.«
»Was denn? Wovon sprichst du?« fragte Helen Ellmann tief beunruhigt.
»Vater wird wieder heiraten. Aber für dich ist das ja höchstwahrscheinlich keine Sensation!« Marina wurde von einem Schluchzen geschüttelt. Mit tränenerstickter Stimme rief sie: »Ich bin so unglücklich! Ich…« Sie flüchtete in das Zimmer am Ende der Diele. Helen, die fassungslos dastand, hörte, wie die Tür von innen zugeschlossen wurde.
Schwestern eilten durch die Gänge des Krankenhauses, zogen die hellen Vorhänge zurück. Das graue Licht des aufkommenden Tages brach herein.
Rechtsanwalt Kreuger und seine Frau saßen auf der schmalen Holzbank und starrten vor sich hin, ausgehöhlt vor Angst und Müdigkeit. Neben ihnen stand ein nervös wirkender Mann. Er hatte die Hände in die Taschen seines Mantels gebohrt, den Kopf zurückgelehnt. Niemand sprach ein Wort.
Schritte eilten vorbei, Kannen klapperten, zwei junge Schwestern kicherten miteinander – die drei beachteten es nicht. Für sie gab es nur eine einzige Realität, die weiß gestrichene Tür mit der Aufschrift: »Besuche nicht zugelassen.«
Sie wußen, hinter dieser Tür lag Birgit, immer noch bewußtlos, zwischen Leben und Tod. Es war kaum zehn Minuten her, seit Professor Rehbein, der Leiter der Klinik, hineingegangen war, und doch schien es den Wartenden wie eine Ewigkeit. Sie wußten, wenn der Professor herauskam, würden sie erfahren, wie es um Birgit stand. Es blieb ihnen nichts zu tun als warten.
Als sich die Tür endlich öffnete, bemerkte es Rechtsanwalt Kreuger zuerst. Er sprang auf.
Professor Rehbein drückte den Eltern wortlos die Hand. Dann sah er den Mann im Mantel, der jetzt herantrat und sich zögernd vorstellte: »Ich bin Marius Ellmann… Fräulein Kreugers Verlobter.«
Helen Ellmann hatte eine qualvolle Nacht verbracht. Traum, Angst und Erinnerung hatten sich wie ein schwerer Alpdruck auf ihr Herz gelegt. Sie fand weder Entspannung, noch Vergessen. Immer wieder sah sie das blasse, verstörte Gesicht ihrer Tochter vor sich, hörte sie mit bitterer Stimme sagen: »Vati wird wieder heiraten! Aber für dich dürfte das keine Sensation sein.«
Marius, ihr Mann, wollte wieder heiraten – nein, das konnte nicht wahr sein. Es war unmöglich, daß er ihre Liebe, all die Jahre, die sie miteinander gelebt hatten, einfach beiseite schob und sich einer anderen zuwandte. Nein, es war nicht möglich. Marina hatte sie nur erschrecken, hatte sich rächen wollen. Es konnte nicht sein.
Helen klammerte sich an diese Hoffnung, obwohl sie im innersten Herzen wußte, daß Marina die Wahrheit gesagt hatte.
Sie sah wieder jene Szene vor sich, jene unvergeßliche Szene, die ihr Schicksal bestimmt hatte, als Marius ihr nach einem heftigen Streit mit kalter, fast unpersönlicher Stimme vorgeschlagen hatte: »Wenn du so unglücklich mit mir bist, Helen – wäre es nicht das beste, wir würden uns scheiden lassen?«
Ihr Herz hatte sich vor ungläubigem Entsetzen verkrampft, aber mit unnatürlicher Ruhe hatte sie geantwortet:
»Wenn du es wünschst, Marius!«
Sie hatte so fest gehofft, daß er es nicht ernst gemeint hätte, daß er sich besinnen würde. Bis zu dem Tag, als die Scheidung ausgesprochen wurde, hatte sie die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben. Sie war zum Rechtsanwalt gegangen, sie hatte alle Formalitäten erledigt, sie hatte alles, was er wollte, getan, in dem fast heiteren Bewußtsein, daß er sich im letzten Augenblick besinnen würde. Sie war überzeugt gewesen, daß er sie bitten würde, die Klage zurückzuziehen. Aber er hatte es nicht getan. Er hatte sie allein gelassen. Erst als das Urteil ausgesprochen war, hatte sie begriffen, daß dies keine Komödie, sondern bitterer Ernst war.
Dennoch hatte sie weiter gehofft. In all den Jahren hatte er nie eine andere Frau angesehen, nur sie geliebt, und sie war sicher, daß er sie auch jetzt noch liebte. Niemand konnte von einem Tag auf den anderen seine Liebe ersticken. Das starke Gefühl, das sie beide verbunden hatte, konnte nicht einfach ausgelöscht sein. Marius liebte sie, er war ihr Mann, der Vater ihrer Kinder, er würde eines Tages wieder zu ihr zurückkehren, dessen war sie sich ganz sicher gewesen. Sie hatte ihn gehen lassen, damit er erkennen sollte, wie sehr er zu ihr gehörte, wie sehr er sie brauchte.
Aber ihre Rechnung war nicht aufgegangen. Helen Ellmann wußte über diese andere nichts, sie war in ihrer Vorstellung ein Wesen ohne Fleisch und Blut, aber die Tatsache, daß Marius sie heiraten wollte, genügte, um sie zu hassen. War die andere jünger als sie? Schöner? Liebenswerter?
Helen hielt es nicht mehr aus. Sie stand auf, schaltete das große Licht an, trat vor den Spiegel. Sie betrachtete prüfend ihr Gesicht. Sie sah blaß und übernächtigt aus, tiefe Schatten lagen unter ihren großen dunklen Augen, ihr Gesicht wirkte ohne Make-up breitflächiger, der blasse Mund noch voller. Die ersten feinen Fältchen hatten sich zwischen Nase und Mund, um die Augenpartie und auf der Stirn eingegraben.
Helen Ellmann war achtunddreißig Jahre alt, und man sah es ihr an. Aber sie war schön, immer noch schön. Ihre Figur war fest und kräftig, die Haut war weich und glatt wie Seide.
Helen wußte, daß sie schön war. Jeden Tag wieder bestätigten es ihr die Blicke der Männer. Sie war eine schöne Frau, und sie traute es sich jederzeit zu, mit jungen Mädchen zu konkurrieren.
Es gab Männer, die glücklich waren, wenn sie ihnen ein Lächeln, ein freundliches Wort schenkte, Männer, die stolz darauf waren, in ihrer Begleitung gesehen zu werden. Hansgeorg Müller sagte es ihr immer wieder, wenn sie miteinander ausgingen.
Warum hatte Marius sich von ihr abgewandt? Marius, der einzige Mann, den sie liebte? Was hatte die andere ihr voraus? Womit hatte sie ihn behext?
Hastig schlüpfte sie in ihren eleganten hellblauen Morgenrock, in ihre silbernen Pantoffeln, lief über den Flur zu Marinas Zimmer. Sie lauschte an der Tür, hoffte, ein Geräusch von drinnen zu hören, das ihr anzeigte, daß Marina wach war. Aber nichts rührte sich.
Helen zögerte einen Augenblick. War es richtig, das Kind schon zu wecken? Es war so verstört gewesen. Sicher schlief Marina tief und erschöpft. Vorsichtig drückte Helen die Türklinke nieder. Das Zimmer war immer noch verschlossen.
Durch das Dielenfenster fiel das graue Licht des frühen Morgens. Es mußte gegen sieben Uhr sein.
Wieder preßte Helen ihr Ohr gegen die Tür, lauschte mit angehaltenem Atem. Drinnen blieb es totenstill.
Plötzlich durchzuckte sie ein entsetzlicher Gedanke: Wenn Marina nun nicht schlief?! Wenn sie sich etwas angetan hatte!? Wenn…
Sie klopfte gegen die Tür, rüttelte an der Klinke. »Marina!« rief sie. »Mach auf!«
Von drinnen kein Geräusch und keine Bewegung.
Panik ergriff Helen. »Marina«, rief sie, »hörst du mich denn nicht?! Du bist wach, ich weiß es! Sag ein Wort! Bitte!«
Alles blieb still wie zuvor.
Helens Herz hämmerte. Sie schlug mit beiden Fäusten gegen die Tür und schrie: »Marina! Marina! Ich bitte dich, sag ein Wort… Mach die Tür auf! Bitte! Bitte!«
Auch jetzt kam kein Laut.
»Marina, wenn du nicht sofort öffnest, breche ich die Tür auf!«
Endlich hörte sie das Knarren des Bettes, Schritte näherten sich, der Schlüssel wurde gedreht – Helen Ellmann riß die Tür auf.
Marina stand vor ihr, sehr bleich, die schönen Augen rotgerändert, das Haar zerzaust. Sie trug immer noch das Pepitakostüm, mit dem sie gestern abend gekommen war, es war zerknautscht. Offensichtlich hatte sie sich mit ihren Kleidern aufs Bett geworfen.
»Marina«, sagte Helen Ellmann, »was ist mit dir? Warum hast du mich so erschreckt? Weshalb siehst du mich so an? Ich muß mit dir sprechen, Marina… bitte erkläre mir doch…«
»Ich will nicht!« sagte Marina wild. »Ich will nicht. Du bist an allem schuld! Du allein! Ich hasse dich. Oh, wie ich dich hasse.«