Читать книгу Ist das wirklich Isabell? - Marie Louise Fischer - Страница 6
Eine schöne Bescherung
ОглавлениеAls Isabell diesen Mittag nach Hause kam, nahm sie sich nicht einmal — was selten genug bei ihr vorkam — die Zeit, in den Spiegel zu schauen. Sie riß sich den Mantel herunter, warf ihre Mappe in die Ecke und raste wie eine abgeschossene Rakete zum Wohnzimmer.
Die Tür war abgeschlossen.
Isabell trommelte mit beiden Fäusten dagegen, rief: „Macht doch auf … bitte, bitte! Aufmachen … ich bin schon da!“
Tatsächlich wurde die Tür sogleich geöffnet, aber nur einen Spalt breit, grade so weit, daß die Mutter hinausschlüpfen konnte. „Ich bitte dich, Schätzchen, was ist in dich gefahren? Was soll der Lärm?“ fragte sie und strich ihrer kleinen Tochter über die zerzausten Locken.
„Ich will endlich meinen Geburtstagstisch sehen!“ Isabell drückte ein bißchen, und schon standen ihre großen grauen Augen voller Tränen — sie wußte, daß sie damit bei ihrer Mutter alles erreichen konnte.
„Isabell, mein Liebling, weine doch nicht!“ rief Frau Grunen erschrocken. „Nur noch ein paar Minuten … ein paar winzige Minütchen … dann ist es ja soweit!“
„Ich kann es einfach nicht mehr aushalten“, schluchzte Isabell.
„Na, na, na!“ sagte Dr. Grunert.
Isabell hob rasch den Kopf, sie hatte ihren Vater gar nicht kommen hören. „Papa!“ rief sie. „Mein braver, holder Papa!“ Sie lief zu ihm hin und warf sich mit Schwung in seine Arme.
Dr. Grunert klopfte seiner Tochter zärtlich auf den Rükken. „Nur nicht übertreiben, Kleines, dann wirkt es nicht mehr echt!“ Er hob Isabell hoch in die Luft. „Unser Geburtstagskind … es lebe hoch, hoch, hoch!“
Auch Elke und Bernd waren aus dem Wohnzimmer gekommen, sie sahen lachend zu, wie Isabell strampelnd und zappelnd versuchte, wieder Boden unter die Füße zu bekommen.
Endlich setzte der Vater sie ab. „Ich gratuliere dir von ganzem Herzen“, sagte er, „und wünsche dir zum neuen Lebensjahr Glück und Gesundheit und … das vor allem … daß du endlich anfängst, vernünftig zu werden!“
„Stimmt“, sagte Bernd, „mit zehn Jahren kann man sich nicht mehr wie ein verwöhntes Baby benehmen!“
Isabell streckte ihm blitzschnell die Zunge heraus.
„Von mir kriegst du etwas ganz Besonderes, Isabell“, sagte Elke. „Wochenlang habe ich daran gearbeitet … ich weiß selber nicht, wie ich dazu gekommen bin, mir deinetwegen soviel Mühe zu machen.“
„Eine Stola?“ rief Isabell.
„Wart es ab!“
„Können wir jetzt bescheren?“ fragte die Mutter.
„Klar. Alles in Ordnung“, sagte Bernd.
„Eine Sekunde noch!“ Der Vater ging zur Tür. „Wartet, bis ich mit dem Einzugsmarsch beginne!“
Isabell trat vor Ungeduld von einem Fuß auf den anderen, bis die fröhliche Musik erklang. Bernd stieß die Tür weit auf, und Isabell trat in das Wohnzimmer.
Die schweren Vorhänge waren zugezogen, so daß es ganz dunkel im Raum war. Nur die zehn Kerzen um die Geburtstagstorte und das dicke Lebenslicht brannten. Die weiße Damastdecke schimmerte, die Blumen leuchteten, es war eine Pracht. Das Schönste aber war ein moosgrünes Samtkleid.
Mit einem Aufschrei stürzte Isabell sich darauf, nahm es hoch, hielt es sich vor. Das Oberteil war eng, mit einem runden kleinen Ausschnitt und dreiviertellangen Ärmeln, der Rock war in der Taille gerafft, weit und ganz bauschig. „Wie wunder-wunderschön!“ rief Isabell begeistert. „Einfach herrlich! Darf ich es anziehen?“
„Anprobieren“, sagte die Mutter, „natürlich darfst du das. Aber möchtest du nicht erst einmal deine anderen Geschenke anschauen?“
„Sieh mal hier“, sagte Elke, „die Schuhe zum Kleid … die würden sogar mir gefallen!“ Sie zeigte Isabell ein Paar Ballerinenschuhe aus weichem, schmiegsamem Leder.
„Süß!“ Isabells Augen glitten über den Tisch. „Deine Stola!“ Sie legte sich das federleichte, feingestrickte weiße Gebilde um die Schultern.
„Mit dieser Stola siehst du mindestens aus wie die Königin von Saba!“ spottete Bernd.
„Ich lege nicht den geringsten Wert darauf, dir zu gefallen!“ sagte Isabell patzig.
Der Vater war vom Flügel aufgestanden. „Ist eine Stola nicht wirklich etwas übertrieben für ein zehnjähriges Mädchen?“ fragte er.
„Warum?“ gab Elke zurück. „Sie hat sie sich so sehr gewünscht … ich kann wirklich nichts Unrechtes dabei finden.“
„Du bist süß, Elke!“ Isabell gab ihrer großen Schwester einen Kuß. „Ich danke dir.“ Mit einem Blick auf Vater und Bernd fügte sie hinzu: „Die Männer haben kein Verständnis!“
Dr. Grunert schüttelte den Kopf, und Bernd lachte.
Erst in diesem Augenblick entdeckte Isabell den Wellensittich. Er saß in einem hübschen runden Käfig ganz hinten auf dem Geburtstagstisch, halb verdeckt von den Blumen.
Isabell traute ihren Augen nicht. „Ein Vogel“, sagte sie überwältigt, „oh!“
„Damit sich dein eigener Piepmatz nicht so einsam fühlt!“ erklärte Bernd.
Die Mutter verließ, ohne daß es jemand bemerkte, das Zimmer, um in der Küche nach dem Rechten zu sehen.
Isabell begutachtete nun der Reihe nach ihre übrigen Geschenke. Sie hatte so viel bekommen, daß es eine gute Viertelstunde dauerte, bis sie durch war. Ein goldenes Halskettchen erregte ihr größtes Entzücken. Außerdem gab es Bücher, Schokolade, Pralinen und einen großen Obstkorb, ein silbernes Besteck wie jedes Jahr von ihrer Patentante, ein putziges Stoffäffchen von Bruder Bernd, weiße hohe Schlittschuhstiefel mit funkelnagelneuen Schlittschuhen und noch eine Menge Kleinigkeiten, von den zwanzig kleinen Verlosungsgegenständen für den Nachmittag ganz zu schweigen.
Trotzdem wurde Isabells Gesicht immer länger und länger.
„Schau doch bloß mal her … die Gratulation von Onkel Peter!“ sagte Elke. „Darum könnte ich dich geradezu beneiden!“ Sie betrachtete die große Gratulationskarte, auf deren vorderes Blatt der Maler Peter Heibler mit wenigen einfachen Strichen ein kleines kraushaariges Mädchen gezeichnet hatte, das aus großen dunklen Augen wild und lustig in die Welt schaute.
Isabell zuckte die Achseln. „Wer soll denn das sein?“
„Sicher seine Tochter Annunciata … die ist übrigens gradeso alt wie du.“
„Kenne ich nicht.“
„Aber darauf kommt es doch nicht an! Siehst du denn nicht, wie unerhört das gezeichnet ist? Ein richtiges kleines Meisterwerk!“
„Wenn’s dir so gut gefällt … ich schenke es dir mit Kußhand!“
„Vater … Bernd! Ihr habt’s gehört! lsabell hat mir das Bild geschenkt!“
„Dumm genug. In ein paar Jahren kann das viel wert sein“, erklärte Bernd.
Isabell horchte nun doch auf. „Wirklich?“
„Schon möglich“, sagte der Vater, „vor allem hat Elke recht, es ist wirklich ganz ausgezeichnet.“ Er erhob seine Stimme. „Aber du weißt, Isabell … geschenkt ist geschenkt!“
„Na klar“, sagte Isabell lustlos.
„Hör mal, Schätzchen, möchtest du dich nicht jetzt mal bedanken … bei Vater und Bernd und Mutter?“ schlug Elke vor.
„Glaubst du, ich wüßte nicht selber, was sich gehört?“ sagte Isabell giftig.
„Hört, hört!“ Bernd grinste. „Unserem Küken ist mal wieder ’ne Laus über die Leber gelaufen!“
„Laß mich in Ruh’!“ Isabell hob die Fäuste, als wenn sie ihren großen Bruder schlagen wollte.
Bernd wich mit gespieltem Entsetzen zurück.
„Tut es dir leid, daß du mir das Bild geschenkt hast?“ fragte Elke. „Wenn du willst …“
„Nein, danke.“ Isabell stiegen die Tränen in die Augen, diesmal brauchte sie gar nichts dazu zu tun; sie fühlte sich grenzenlos enttäuscht.
„Komm mal her, Kleines!“ Der Vater setzte sich in einen Sessel, zog Isabell auf den Schoß. „Was ist los mit dir? Nicht zufrieden?“
„Entschuldigt, wenn ich euch allein lasse“, sagte Bernd, „ich kann ja allerhand vertragen, aber das geht wirklich zu weit. Erst überschüttet ihr das Kind mit Geschenken, und nachher, wenn sie trotzdem ein Gesicht zieht, fragt ihr noch, ob sie nicht zufrieden ist!“ Er ging wütend aus dem Zimmer.
Isabell legte ihren Kopf an die Schulter des Vaters und schluchzte.
„Heute darfst du nicht traurig sein, Kleines“, tröstete Herr Dr. Grunert. „Denk doch nur an all die schönen Sachen, die du bekommen hast … oder gefällt dir etwas nicht?“
„Papa“, sagte Elke, „du weißt doch ganz genau, was ihr nicht gefällt … wir wissen es doch alle. Also, erklär ihr, warum ihr ihr das Radio nicht geschenkt habt!“
„Ist es das, Kleines?“ fragte Herr Grunert.
Isabell nickte unter Tränen.
„Aber Isabell … Mutter und ich haben dir doch von Anfang an gesagt, daß wir die Idee mit dem eigenen Radio für ganz unsinnig halten. Das hast du doch gewußt!“
Isabell schluchzte nur.
„Hast du geglaubt, wir würden es dir trotzdem schenken?“
„Ja-a!“ sagte Isabell. Es kam so kläglich heraus, daß man hätte glauben können, sie sei das bemitleidenswerteste Kind auf der ganzen Welt.
Herr Grunert packte Isabell bei den Schultern, bog ihren Oberkörper zurück, so daß er ihr verweintes kleines Gesicht sehen konnte. „Isabell, bitte!“ sagte er. „Nun tu mir die Liebe und sei vernünftig! Was für einen Sinn hätte denn ein eigenes Radio für dich gehabt? Sieh dich nur um! Da hinten stehen ein Radio, ein Plattenspieler und ein Fernsehapparat. Sie gehören zwar nicht dir, aber du kannst sie jederzeit benutzen. Niemand stört dich dabei, denn Elke und ich kommen immer erst abends heim, und Bernd ist fast nie hier im Wohnzimmer. Also … was soll’s?“
„Ich habe doch auch kein eigenes Radio, Isabell“, tröstete Elke, „und Bernd auch nicht!“
„Ich halte nichts von der ewigen Radiodudelei, das weißt du ganz genau“, sagte Herr Dr. Grunert. „Ein Radio in deinem Zimmer würde dich bloß bei den Schularbeiten stören!“
„Ich hätte es ja mitnehmen können, wenn wir verreisen“, sagte Isabell schluchzend.
„Das hätte mir grade noch gefehlt! Radiomusik im Hotelzimmer, am Strand und auf der Kurpromenade … nein, danke!“
„Ich weiß genau, was mit dir los ist“, sagte Elke. „Du hast dich da in etwas verrannt! Gib dir einen Ruck und denk nicht mehr an das alberne Radio!“
„Aber ich habe es jetzt doch schon allen erzählt! Alle wissen, daß ich ein Radio bekomme … ich meine, alle glauben es! Wie stehe ich denn da! Ich bin bis auf die Knochen blamiert … am liebsten möchte ich, daß überhaupt niemand zu mir kommen soll!“ rief Isabell verzweifelt.
Elke stand auf. „Wenn das dein Ernst ist … ich kann, wenn du willst, sofort versuchen, deine Freundinnen zu erreichen. Sie werden zwar ein bißchen enttäuscht sein, daß der Kaffeeklatsch nicht stattfindet …“
Isabell sprang vom Schoß ihres Vaters. „Elke … du bist gemein! So etwas von gemein!“
Dr. Grunert packte sie im Nacken. „Isabell, hier hört der Spaß auf! Wir haben alle eine Engelsgeduld mit dir … aber was zu weit geht, geht zu weit!“
Isabell riß sich los. „Niemand hat mich lieb!“ rief sie. „Niemand! Auch du nicht! Am liebsten möchte ich tot sein!“