Читать книгу Mit den Augen der Liebe - Marie Louise Fischer - Страница 4

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„Wigand“, sagte das junge Mädchen ungeduldig und sah auf das weiße Häubchen der Schwester herab, die aus der obersten Schublade ihres kleinen Schreibtisches eine blanke Karteikarte gezogen und sie jetzt zum Ausfüllen vor sich hingelegt hatte, „Wigand mit einfachem i!“

„Danke“, sagte Schwester Karla, „und der Vorname?“

„Gunhild.“

„Alter?“

„Neunzehn.“

„Beruf?“

„Studentin.“

„Und was hatten Sie bisher für Krankheiten?“

„Wenn Sie meinen, ob ich schon mal mit den Augen zu tun gehabt habe … ja. Als Kind hatte ich häufig Bindehautentzündungen. Das können Sie schreiben, wenn Sie wollen. Ich sehe nur nicht ein, warum. Schließlich will ich ja nichts weiter als eine Brille verschrieben haben.“

Jetzt hob Schwester Karla den Kopf und sah Gunhild Wigand an. „Ich verstehe, daß Ihnen das sehr …“ Sie suchte nach dem passenden Wort, „bürokratisch Vorkommen muß“, sagte sie lächelnd, „aber Professor Bergmeister hat es so angeordnet. Übrigens interessieren mich nicht nur Beschwerden, die Sie mit den Augen gehabt haben, sondern überhaupt. Was haben Sie bisher für Krankheiten hinter sich gebracht?“

Gunhild Wigand warf einen raschen Blick auf ihre schmale, sportliche Armbanduhr, sagte, während sie sich mit einem Ruck die braunen Locken aus der Stirn warf: „Muß das sein?“

Schwester Karlas ruhiger Blick verriet keinen Ärger, eher Bewunderung und leisen Neid. – Noch einmal so jung sein, dachte sie, so unbekümmert, so fordernd! – „Wir verlieren keine Zeit damit“, sagte sie lächelnd, „es sind sowieso noch zwei Patientinnen vor Ihnen an der Reihe, Fräulein Wigand.“

„Was!? Aber ich bin doch … meine Mutter hat mich angemeldet! Schon vor fünf Tagen! Und ich habe mich höchstens um ein paar Minuten verspätet.“

„Ich weiß. Aber in einer Augenklinik muß man schon Geduld haben. Wir bemühen uns, die Patienten so wenig wie möglich warten zu lassen. Aber es läßt sich unmöglich immer voraussehen, ob eine Untersuchung zwanzig Minuten oder eine ganze Stunde in Anspruch nehmen wird.“

„Eine Stunde? Ist das Ihr Ernst? Dann ist es ja möglich, daß ich erst um sechs Uhr fertig werde. Aber ich bin verabredet und …“

„Vielleicht klappt es doch noch“, unterbrach Schwester Karla. „Vielleicht haben Sie Glück, und es geht wesentlich schneller.“ Gunhild Wigand seufzte. „Ihr Wort in Gottes Ohr, Schwester. Also was war’s noch, was Sie wissen wollten? Ach ja, wenn Sie’s zufriedenstellt: Ich hatte Masern, Windpocken, öfters mal Angina, im Vorjahr bekam ich die Mandeln heraus genommen.“

Schwester Karla schrieb, fragte, ohne aufzublicken: „Sonst nichts?“

„Tut mir leid. Mit mehr kann ich Ihnen nicht dienen.“

Als Dr. Norman Hilpert die Tür zum Wartezimmer öffnete – er hatte kurz zuvor einen Blick auf Gunhild Wigands Karteikarte getan –, entdeckte er sie sofort.

Sie saß zwischen einer alten Dame, die einen weißen Blindenstock zwischen ihre Beine gestellt hatte, und einem unrasierten Mann mit einem dicken Kopfverband. Sie wirkte keineswegs mehr so keß, wie Schwester Karla sie erlebt hatte, sondern eher ein bißchen eingeschüchtert.

Noch ehe Dr. Hilpert sie aufgefordert hatte, sprang sie auf und kam auf ihn zu. Sie hatte einen elastischen, anmutigen Gang, und Dr. Hilpert betrachtete sie mit Wohlgefallen: ein schlankes, gutgewachsenes junges Mädchen in hellblauen Keilhosen und losem Pulli, das kurzgeschnittene dunkle Haar kunstvoll verstrubbelt, die sehr hellen Augen weit aufgerissen, in der Art, wie es kurzsichtige Frauen tun, die sich mit Energie das unwillkürliche Liderzusammenkneifen abgewöhnt haben.

Er reichte ihr die Hand, und sie folgte ihm in den Untersuchungsraum, durch dessen sehr breites Fenster das kalte Licht des frühen Winternachmittags fiel.

„Na endlich, Herr Professor“, sagte sie, und ihre Munterkeit klang nicht ganz echt, „ich dachte schon …“

Dr. Hilpert ließ sie nicht aussprechen. „Ich bin nicht der Professor“, sagte er, „sondern sein Assistent … Doktor Hilpert!“

Sie sah ihn aus ihren weit geöffneten Augen an. „Das hätte ich mir denken können“, sagte sie. „Sie wirken gar nicht wie ein Professor.“

Er lächelte. „Das können Sie also noch erkennen?“

„Natürlich! Schließlich bin ich ja nicht blind!“

„Aber Sie brauchen eine Brille.“

„Genau. Deshalb bin ich hier.“

„Na, dann wollen wir mal sehen.“ Er führte sie in die Brillenecke, sagte, mit einer Handbewegung zum Untersuchungsstuhl hin: „Bitte, setzen Sie sich … machen Sie es sich ruhig bequem.“ Er ging zum Brillenkasten. „Haben Sie früher schon mal Augengläser getragen?“

„Ja“, sagte Gunhild Wigand unbehaglich.

„Wann?“

„Mit zwölf Jahren. Ich konnte damals nicht mehr richtig erkennen, was vorne auf die große Tafel geschrieben wurde. Mit den Landkarten ging es mir noch schlimmer. Daraufhin schleppte meine Mutter mich zum Augenarzt.“ Sie schwieg.

„Aber Sie haben die Brille nicht getragen?“ half er ihr weiter.

„Doch. Anfangs schon. Aber ich konnte mich nicht dran gewöhnen. Ich war heilfroh, als sie endlich kaputt war.“

„Aha. Ich verstehe.“ Dr. Hilpert schraubte die Bügel der Meßbrille kürzer, setzte sie ihr behutsam auf die Nase. „Und wie sind Sie dann in der Schule zurechtgekommen?“

„Ich habe mich in die erste Reihe setzen lassen. Dann ging’s.“

Dr. Hilpert schmunzelte. „Na, immerhin gratuliere ich Ihnen, daß Sie sich nun doch mal zu einem Besuch beim Augenarzt aufgerafft haben.“

„Ganz ehrlich … wenn mich meine Mutter nicht geschickt hätte! Aber in der letzten Zeit wurde es mir fast selber zu blöd. In die Ferne habe ich ja nie gut gucken können. Aber seit ein paar Monaten kommen noch so komische Schatten dazu.“

„Schatten? Über beiden Augen?“

„Nur über dem linken. Glauben Sie, daß ich das Auge überanstrengt habe? Ich habe ziemlich viel lernen müssen fürs Abi.“

„Nein. Das ist kaum anzunehmen.“ Dr. Hilpert steckte in die Meßbrille vor das linke Auge eine dunkle Scheibe, vor das rechte ein konkaves sphärisches Glas. Er zeigte auf die fünf Meter entfernte Sehprobentafel. „Na, nun lesen Sie mal.“

„E“, sagte sie rasch.

„Sehr gut!“

„C B!“

„Ausgezeichnet! Weiter!“

„Und da verließen sie ihn“, sagte Gunhild Wigand und zuckte resigniert mit den Achseln.

„Macht nichts. Ich habe mit dem schwächsten Glas angefangen. Warten Sie, gleich wird’s schon bessergehen.“

Noch fünfmal mußte Dr. Hilpert die Gläser vor Gunhild Wigands rechtem Auge wechseln.

„So, jetzt geht’s“, sagte sie dann. „tpctzbdefo!“

„Sehr gut. Und die Reihe darunter …“

Gunhild Wigand mühte sich. „Es ist … alles noch ein bißchen verzerrt“, sagte sie.

„Wahrscheinlich leiden Sie auch noch an Stabsichtigkeit“, sagte Dr. Hilpert.

„Was ist denn das?“

„Eine Folge von Hornhautverkrümmung. Aber das werden wir gleich haben. Versuchen wir’s mal mit Zylindergläsern …“ Er steckte einen zweiten Probierbrilleneinsatz vor ihr rechtes Auge, verschob die Einstellung. „Stimmt’s jetzt?“

„Schon besser.“

„Und jetzt?“

„Ganz prima!“

„Na, dann hätten wir’s.“ Dr. Hilpert entfernte das sphärische und das Zylinderglas aus der Meßbrille, schob statt dessen das dunkel getönte Glas ein, das bisher vor ihrem linken Auge gesteckt hatte. „Wissen Sie, Fräulein Wigand, Sie sind wieder einmal ein lebendiges Beispiel dafür, welche Opfer eine Frau bereit ist, sich für ihre Schönheit aufzuerlegen. Sie haben seit Jahren nur noch die Hälfte von allem gesehen …“

„Schönheit ist wichtig“, murmelte Gunhild Wigand, „besonders für ein Mädchen. Tun Sie nicht so, als wenn Sie das nicht wüßten.“

Er lachte, schob ihr ein Glas vor das linke Auge. „Diesmal werde ich gleich mal mit etwas höheren Dioptrien anfangen. Was sehen Sie jetzt?“

„Nichts!“ sagte Gunhild Wigand, und plötzlich war der unverbindliche Konversationston, in dem sie bisher gesprochen hatte, wie ausgelöscht. Panik bebte in ihrer Stimme.

„Nichts?“ fragte er überrascht. „Das ist doch nicht gut möglich!“

„Doch“, sagte sie, „wirklich … ich meine, natürlich sehe ich etwas. Aber ich kann nichts wirklich unterscheiden. Es ist alles so … schattenhaft.“ Ihre Stimme brach.

Er nahmdas vorgesetzte Glas aus der Meßbrille, fragte: „Und jetzt?“

„Genauso.“

Dr. Hilpert schwieg einen Augenblick, dann fragte er: „Sie sehen also mit dem linken Auge nur Umrisse, wenn ich Sie recht verstanden habe?“

Sie nickte stumm.

„Und das merken Sie erst jetzt?“

„Ich bin bisher ja nie auf die Idee gekommen, das eine Auge zuzukneifen“, sagte sie mit dem Versuch, Munterkeit vorzuspiegeln; aber es kam ziemlich kläglich heraus.

„Kein Grund zur Aufregung. Nur schön ruhig bleiben. Wir werden jetzt noch ein bißchen versuchen, ja?“

Er versuchte es noch gute zehn Minuten, mit sphärischen und mit zylindrischen Gläsern. Aber die Erfolge, die er damit erreichte, waren bedeutungslos.

Dann nahm er ihr die Meßbrille ab. „Genug“, sagte er, „ich will Sie nicht länger quälen. Jetzt machen wir mal etwas ganz anderes.“

Ihr gesundes, junges Gesicht war sehr blaß geworden. Sie strich sich mit der Hand über das kranke Auge, als wenn sie die Schatten damit wegwischen könnte. „Kann man da … überhaupt noch etwas machen?“ fragte sie mühsam.

Sie bekam keine Antwort auf diese Frage.

„Ich werde mal sehen, ob wir jetzt gleich zum Herrn Professor können“, sagte Dr. Hilpert und drückte einen Knopf für die Haussprechanlage.

Professor Bergmeister stand mitten in dem fensterlosen, nur gedämpft beleuchteten Raum, als sie eintraten: ein schlanker, sehr großer Mann Anfang der Fünfzig, der sich leicht vornübergebeugt hielt, so daß seine Brust unter dem weißen Kittel schmal und fast eingefallen wirkte. Seine Augen waren hinter dicken Brillengläsern verborgen, aber das Lächeln, mit dem er das junge Mädchen begrüßte, war so liebenswert, daß sie sofort Vertrauen faßte. Er streckte Gunhild Wigand eine schmale, sehr weiße Hand entgegen, deren Druck überraschend kräftig war.

„Ich bin eigentlich nur gekommen, um mir eine Brille verschreiben zu lassen“, sagte sie mit dem Versuch eines Lächelns. Aber ihre Lippen zitterten.

„Myopie und Astigmatismus auf dem rechten Auge“, erklärte Dr. Hilpert, „auf dem linken konnte keine Sehschärfe erreicht werden.“

„Na, da werden wir uns die Geschichte mal durch das Hornhautmikroskop ansehen“, sagte Professor Bergmeister, „kommen Sie, Fräulein Wigand, setzen Sie sich einmal hier vor die Spaltlampe, legen Sie das Kinn in die Stütze … warten Sie, ich glaube, wir müssen das etwas tiefer stellen … so!“ Er setzte sich Gunhild Wigand gegenüber an den Kreuztisch, auf dem das sehr komplizierte Instrument installiert war.

„Brauchen Sie mich noch, Herr Professor?“ fragte Dr. Hilpert.

„Es wäre mir schon ganz lieb, wenn Sie blieben!“ Professor Bergmeister stellte Beleuchtung und Vergrößerung ein, sagte nach einer Weile: „Die vorderen Augenabschnitte zeigen keine Anomalien. Wenn Sie mal schauen wollen, Kollege …“

„Bitte!“ Dr. Hilpert nahm Professor Bergmeisters Platz ein.

„Linse und vorderer Glaskörper scheinen ganz in Ordnung.“

„In Ordnung?“ fragte Gunhild Wigand.

„Ja. Aber das besagt leider noch nichts. Sie können jetzt Ihren Kopf zurücknehmen … ja, so.“ Professor Bergmeister lächelte ihr zu. „Ziemlich anstrengend, das Auge so lange aufzuhalten.“

Sie rieb sich wieder über das kranke Auge. „Ich fürchte, ich habe schrecklich oft geblinzelt.“

Professor Bergmeister wandte sich an Dr. Hilpert. „Bitte, setzen Sie die Hrubylinse, Kulisse und Fixierleuchte auf. Ich möchte mir mal den Fundus in Mydriasis anschauen.“

„Mydriasis“, sagte Gunhild beklommen, „was ist denn das nun schon wieder?“

„Nur so ein Fachausdruck“, sagte Professor Bergmeister beruhigend. „Es bedeutet nichts anderes, als daß ich Ihnen jetzt ein paar Tropfen gebe …“ Er nahm ein Fläschchen von einem Tisch neben der Untersuchungsliege, die rechts an der Wand stand. „Mydrial … es bewirkt, daß Ihre Pupillen recht groß werden. Das brauchen wir, damit wir so tief wie möglich in den Augenhintergrund hineinsehen können.“

Während Professor Bergmeister die Tropfen gab, führte Dr. Hilpert Veränderungen an der Spaltlampe durch.

„Fertig, Herr Professor“, meldete er nach einer Weile.

„Und wir können auch! Bitte, beugen Sie Ihren Kopf wieder vor, schauen Sie in die Öffnung hier in dem weißen Knopf … immer auf diese kleine Glühlampe hin, ja?“

Er setzte sich auf die andere Seite des Tisches, stellte das Spaltbild durch den Steuerhebel auf Pupillenmitte ein, legte die Schärfenebene auf die Iris. Er hatte für die erste Orientierung eine geringe Beleuchtungsstärke und sechsfache Vergrößerung eingestellt. Behutsam bewegte er den Steuerhebel nach vorn und brachte die Schärfenebene auf den Augenhintergrund.

Dann sah er es.

Die Netzhaut hatte sich im unteren Hintergrundbereich gelöst und wölbte sich wie ein schillerndes Segel in den Glaskörper hinein. Bei jeder Augenbewegung der Patientin bewegte sich die Netzhaut mit. Unterhalb der Ablösung war ein Riß zu sehen, der etwa so groß war wie der Durchmesser des Sehnervkopfes, der sich hell in dem rotleuchtenden Bild hervorhob.

Professor Bergmeister stand auf. „Bitte, sehen Sie sich das mal an, Kollege“, sagte er.

„Ist etwas?“ fragte die Patientin.

„Nichts allzu Schlimmes“, versicherte der Professor, „eine kleine Verletzung.“ Er wartete, bis auch Dr. Hilpert sich vom Befund des Augenhintergrundes überzeugt hatte, fragte dann: „Haben Sie sich vielleicht in der letzten Zeit mal gestoßen? Oder einen Schlag gegen den Kopf bekommen? Sie können übrigens Ihren Kopf wieder zurücknehmen. Wir schalten das Gerät jetzt aus.“

„Nein“, sagte Gunhild, „einen Schlag? Ich raufe doch nicht. Höchstens …“ Sie stockte.

„Nun, was wollten Sie sagen?“

„Ich habe mal einen Schlagball gegen das Auge bekommen. Aber das ist nun schon ein paar Monate her.“

„Vielleicht war’s das“, sagte Professor Bergmeister. „Aber Sie brauchen sich nicht darüber den Kopf zu zerbrechen. Wichtig aber wäre, daß Sie recht bald mal Ihren Herrn Papa zu uns schicken würden.“

„Papa?“ Gunhild Wigand war jetzt aufgestanden, stand vor den beiden Männern, immer noch sehr jung und sehr hübsch, aber keineswegs mehr unbekümmert. „Das wird nicht gut gehen. Meine Eltern sind geschieden. Ich lebe bei meiner Mutter.“

„Nun, dann möchte ich gerne mit Ihrer Frau Mutter sprechen, und zwar so bald wie möglich.“

„Morgen?“ fragte Gunhild Wigand unsicher.

„Das wäre sehr gut. Bleiben wir also dabei. Machen Sie mit Schwester Karla gleich einen Termin aus, damit Ihre Mutter nicht zu warten braucht.“

„Scheußlich!“ sagte Professor Bergmeister, als Gunhild Wigand gegangen war. Er hatte die Hände in die Taschen seines weißen Kittels gesteckt und zog die Schultern hoch, als wenn er fröstelte. „Ablatio Retinae. Das arme Kind.“

Dr. Hilpert lächelte. „Nun, erstens ist sie wirklich kein Kind mehr, und zweitens … sie ist ja noch rechtzeitig gekommen. Eine sofortige Operation kann ihr Augenlicht retten.“

„Kann! Sie sagen sehr richtig … kann!“ Professor Bergmeister zog eine Zigarette aus einem Päckchen in seiner Tasche, besann sich, sagte: „Kommen Sie, Norman … gehen wir zu mir hinüber!“

Es kam selten vor, daß Professor Bergmeister seinen Assistenten beim Vornamen nannte, und immer, wenn er es tat, wurde es Dr. Hilpert fast schmerzhaft bewußt, wieviel dieser Mann ihm bedeutete – als Vorbild, als väterlicher Freund, als Mensch.

„Ich weiß, es klingt lächerlich“, sagte Professor Bergmeister, als verteidigte er sich gegen einen Vorwurf, den ihm niemand gemacht hatte, „ich habe Tausende operiert … ich habe niemals daran gedacht, sie zu zählen. Und dennoch … immer wenn eine Operation vor mir steht, überkommt mich so etwas wie … wie Bangigkeit. Können Sie das verstehen? Es hängt soviel davon ab. Möglicherweise das Glück, das Schicksal, das ganze Leben eines Menschen.“

Er war seinem Assistenten voraus durch die Milchglastür in sein eigenes Arbeitszimmer getreten, einen großen Raum, der dem Dr. Hilperts ganz ähnlich sah. Nur waren die Teppiche und Vorhänge ein wenig kostbarer, der Schreibtisch etwas dekorativer, und in einer Ecke gab es einen niedrigen Tisch mit tiefen Sesseln, der in Dr. Hilperts Zimmer fehlte.

Professor Bergmeister zündete sich eine Zigarette an, hielt dann dem Assistenten sein Päckchen hin.

„Sie sind eben ein wirklicher Arzt, Herr Professor“, sagte Dr. Hilpert ein wenig rauh, weil er sich einer inneren Bewegung schämte, „Sie sehen nicht nur das kranke Organ, sondern den ganzen Menschen.“ Er strich ein Streichholz an, ließ seine Zigarette aufflammen, nahm einen tiefen Zug. „Wahrscheinlich wissen Sie objektiv sehr gut, daß Ihre Bedenken grundlos sind. Es gibt keinen besseren Augenchirurgen als Sie … es kann einfach keinen geben.“

Professor Bergmeister trat an das breite Fenster, sagte, mit dem Rücken zum Zimmer, fast wie zu sich selber: „Die Angst, die Hand könnte zittern! Eine winzige falsche Bewegung …“

„Wird Ihnen niemals passieren, Herr Professor“, sagte Dr. Hilpert mit Nachdruck.

Professor Bergmeister wandte sich um und sah ihn mit einem seltsamen Lächeln an. „Sind Sie ganz sicher?“

„Vollkommen.“ Dr. Hilpert streifte die Asche seiner Zigarette in einer schweren Messingschale auf dem Schreibtisch ab. „Wenn ich mir übrigens einen Vorschlag erlauben darf …“

„Aber bitte, Kollege! Nicht diese Umschweife. Ich komme mir ja sonst wie ein uneinsichtiger Tyrann vor.“

Dr. Hilpert straffte unwillkürlich die Schultern. „Vielleicht wäre gerade dieser Fall geeignet, Lichtkoagulation anzuwenden. Ich meine“, fuhr er rasch fort, ehe Professor Bergmeister ihn noch unterbrechen konnte, „wir haben diese Methode nun doch schon gründlich genug ausprobiert. Drei Jahre haben wir Versuche an Hunden durchgeführt … wenn ich ,wir‘ sage, meine ich im Grund natürlich nur Sie, Herr Professor, ich durfte Sie höchstens in Ihrer Arbeit unterstützen … Sie haben überdies eine ganze Reihe von Selbstversuchen durchgeführt …“

Jetzt fiel ihm Professor Bergmeister ins Wort. „Einige Versuche, das wäre richtiger gesagt. Die Versuchsreihe, von der Sie sprechen, ist noch keineswegs abgeschlossen.“

„Sie wollen also weiter … experimentieren?“

„Selbstverständlich.“

„Herr Professor …“

„Ich weiß, ich weiß, Sie wollen mich warnen. Das haben Sie schon oft genug getan, mein Lieber. Können Sie nicht endlich einsehen, daß das, was ich tue, nichts weiter ist als meine Pflicht?“

Dr. Hilpert schwieg.

Professor Bergmeister trat auf ihn zu. „Jetzt passen Sie mal auf, Hilpert. Wir beide sind uns doch darin einig, daß Lichtkoagulation, falls sie gefahrlos für den Patienten angewandt werden kann, einen ungeheuren Fortschritt in der Augenchirurgie bedeutet, nicht wahr? Statt mit dem Messer können wir dann mit dem Licht … mit dem gleichsam gebündelten, konzentrierten Licht arbeiten, Wundränder schaffen, wie etwa bei einer Operation der Ablatio Retinae, und das alles, ohne daß ein operativer Eingriff erfolgen muß, der erst den Bereich am hinteren Augenteil freilegt! Sie wissen selber, daß uns das immer wieder besondere Schwierigkeiten macht.“

„Ja, Herr Professor“, sagt Dr. Hilpert, „und grade darum meine ich …“

Professor Bergmeister ließ ihn nicht ausreden. „Grade darum ist es unerläßlich“, sagte er, „diese neue Methode bis zur Vollkommenheit zu entwickeln. Dazu brauche ich das menschliche Auge. Und von welchem meiner Mitmenschen könnte ich wohl verlangen, daß er sich als Versuchsobjekt zur Verfügung stellt? Doch nur von mir.“

„Das stimmt nicht, Herr Professor“, widersprach Dr. Hilpert, „Sie wissen sehr gut, daß ich selber …“

„Ich weiß, Sie würden es tun. Weil Sie ein guter Junge sind. Vielleicht auch mir zuliebe. Oder weil Sie nicht als Feigling dastehen wollen. Aber ich kann und darf Ihr Angebot nicht annehmen. Sie sind ein befähigter Arzt, ein junger Mensch, der am Anfang seiner Karriere steht. Ihr Auge ist Ihr wertvollstes Instrument. Nein, kommen Sie mir jetzt nicht wieder damit. Es ist und bleibt völlig ausgeschlossen.“ Professor Bergmeister drückte seine Zigarette aus. „Und daß Sie mir vorgeschlagen haben, eine noch nicht voll erprobte Methode ausgerechnet bei diesem blühenden Menschenkind anzuwenden, das war doch hoffentlich wohl nur ein Witz.“

„Nein, Herr Professor“, sagte Dr. Hilpert mit Festigkeit. „Sie haben bis heute Hunderte Versuche an Hunden gemacht. Es ist Ihnen zum Schluß gelungen, die Anwendung der Lichtstrahlen so zu dosieren, daß keine schädlichen Nebenwirkungen entstanden. Sie haben an sich selber mindestens zwanzig Versuche gemacht. Selbst wenn diese Versuche Ihren Augen geschadet hätten, so besagt das ja noch lange nicht, daß das bei der Patientin der Fall sein muß. Im Gegenteil. Es ist so gut wie ausgeschlossen. In Ihrem Fall brauchte die Koagulation ja nur ein einzigesmal angewendet zu werden.“ Er schwieg, sah Professor Bergmeister erwartungsvoll an.

Professor Bergmeister ging zum Fenster, öffnete es weit. Kalte Winterluft drang in den Raum, trieb den Rauch hinaus. „Sie wissen selber, daß das, was Sie da behauptet haben, unvertretbar ist“, sagte er müde, „sowohl vom ärztlichen wie vom wissenschaftlichen Standpunkt aus. In meiner Klinik wird diese Methode jedenfalls nicht angewendet, bevor ich nicht ganz sicher … hundertprozentig sicher bin, daß keine schädlichen Nebenwirkungen auftreten können. Und damit, denke ich, ist dieses Thema erledigt. Ich danke Ihnen, Herr Doktor. Wenden wir uns wieder unseren Patienten zu.“

Dr. Hilpert drehte sich um und ging. Er fühlte sich zurechtgewiesen wie ein Schuljunge. Dennoch empfand er weder Ärger noch Beschämung, sondern nur tiefe Sorge.

Er wußte, daß die Gefahr, der sich Professor Bergmeister aussetzte, unausdenkliche Folgen haben konnte.

Dr. Hilperts Schlafzimmer lag im obersten Stockwerk der Augenklinik, ein kleiner, sehr nüchtern eingerichteter Raum, dem er mit einigen Dingen aus seinem persönlichen Besitz eine etwas behaglichere Atmosphäre zu geben versucht hatte: einem schweren ledernen Sessel, in dem er abends eine letzte Pfeife zu rauchen pflegte, einem bunten handbestickten Wandteppich aus Lima, dessen seltsame Märchenfiguren ihm immer neue Rätsel aufgaben, ein paar Schalen, Aschenbecher, Decken und Kissen, die ihm von wohlmeinenden Damen geschenkt worden waren. Manche dieser Dinge entsprachen durchaus nicht seinem eigenen Geschmack, aber er hatte sie behalten, weil sie immerhin den Zweck erfüllten, den allzu sachlich möblierten Raum freundlicher zu gestalten.

Wie jeden Abend war er auch heute nach einem letzten Rundgang durch die Privatabteilung und die Station nach oben gekommen, zog seinen weißen Kittel aus, wusch sich die Hände und bürstete sich über das dichte dunkle Haar. Er blickte dabei in den kleinen Spiegel über dem Waschbecken, ohne sich jedoch wirklich zu sehen; denn sein eigner Anblick – ruhige graue Augen in einem männlichen, energischen Gesicht – war ihm völlig uninteressant. Mechanisch cremte er seine Hände ein, deren Haut durch das häufige Desinfizieren angegriffen war, wollte zur Tür – als plötzlich geklopft wurde.

Unwillkürlich blieb er stehen, rief abwartend: „Herein!“

Die Tür öffnete sich nach außen, und so dauerte es einige Sekunden, bis er Gabriele Zerling erkannte. Gabriele Zerling war eine kleine zierliche Person, Medizinstudentin im achten Semester, und hospitierte zur Zeit in der Augenklinik Professor Bergmeisters.

Dr. Hilperts Gesicht hellte sich bei ihrem Anblick auf. „Hallo!“ sagte er überrascht. „Nett, daß Sie mich mal besuchen. Darf ich Ihnen einen Kognak anbieten?“ Er ging zum Schrank.

„Danke, nein“, sagte Gabriele Zerling. „Ich muß Sie sprechen, Doktor Hilpert … es ist dringend.“

„Aber sicher. Das können Sie doch. Kommen Sie nur herein …“

„Nicht hier“, sagte sie.

Er blickte auf, die Flasche schon in der Hand, sah jetzt erst, daß sie immer noch in der geöffneten Tür stand. „Nanu?“ sagte er. „Vorurteile? Das sieht Ihnen aber gar nicht ähnlich.“

„Das hat mit Vorurteilen nicht das geringste zu tun“, sagte sie hitzig, „aber Sie wissen doch selber, wie in so einer Klinik getratscht wird. Ich möchte ohne Grund nicht ins Gerede kommen.“

Jetzt lachte er. „Mit Grund also schon?“

Ihre dunklen Augen, die, übergroß und sehr lebendig, ihrem kleinen pikanten Gesicht eine gewisse Schönheit gaben, funkelten. „Sie wissen genau, was ich meine, Doktor Hilpert. Wollen Sie mich nun anhören oder nicht?“

„Bitte, sprechen Sie. Wenn ich es auch nicht gerade gemütlich finde, eine Unterhaltung bei offener Tür und im Stehen zu führen. Ganz davon abgesehen, wollte ich gerade zum Abendbrot hinuntergehen.“

Zum erstenmal wurde sie unsicher. „Ich hatte gedacht“, sagte sie zögernd, „ob wir nicht draußen irgendeine Kleinigkeit essen könnten …“ Sie sah ihn fragend an.

Er fand Vergnügen daran, sie zappeln zu lassen, bemühte sich, ein nachdenkliches Gesicht zu machen.

„Ich meine natürlich nur, wenn Sie nichts anderes vorhaben“, fügte sie rasch hinzu.

Er konnte nicht länger ernst bleiben. „Auch wenn ich mit der Königin von England verabredet wäre“, sagte er, „könnte ich es nicht übers Herz bringen, einer so charmanten jungen Kollegin einen Korb zu geben.“ Er stellte die Kognakflasche weg, holte sich seinen Dufflecoat aus dem Schrank, sagte, während er hineinschlüpfte: „Kommen Sie, Mädchen, lassen Sie uns enteilen … sonst fängt uns am Ende noch Schwester Hilde ab und zwingt uns ihren faden Salat auf.“

Sie fuhren mit dem Lift nach unten, Dr. Hilpert nahm sich noch die Zeit, ein paar Worte mit Dr. Böninger, dem diensthabenden Arzt, zu wechseln, während Gabriele ihren Kamelhaarmantel anzog, dann traten sie durch das breite Portal der Augenklinik in den Vorhof.

Es schneite ein wenig, dünne, matte Flocken, die sich, sobald sie den Boden berührten, in Nässe auflösten.

Dr. Hilpert schob seine Hand unter Gabriele Zerlings Ellbogen, wollte sie zum Tor führen. Aber sie leistete Widerstand.

„Fahren wir lieber“, sagte sie, „da drüben steht mein Wagen.“

Er blieb stehen, sagte mit hochgezogenen Augenbrauen: „Ah, ich vergaß, daß ich eine Plutokratentochter vor mir habe.“

Sie parierte rasch. „Halten Sie Reichtum etwa für eine Schande?“

Sie sah sehr hübsch aus in dem ungewissen Licht der Torlampe, während Flocke auf Flocke sich auf ihr glattes dunkles Haar setzte, und er verspürte in diesem Augenblick nicht die geringste Lust, sich mit ihr zu streiten.

„Natürlich nicht“, sagte er friedfertig.

Sie war nicht so leicht zu beruhigen. „Ich jedenfalls schäme mich nicht, daß mein Vater Millionen gemacht hat“, sagte sie herausfordernd, dann, während sie sich abwandte und die Autoschlüssel aus ihrer Kollegtasche fischte, fügte sie trotzig hinzu: „Und auch nicht darüber, daß meine Mutter Arbeiterin war … einfache Arbeiterin in seinem alten Betrieb, bevor er sie heiratete.“

„Wenn Sie Ihrer Mutter, wie ich annehmen möchte, ähnlich sind, kann ich den Geschmack Ihres Alten Herrn nur zu gut verstehen.“

Sie bückte sich, schloß die Autotür auf, stieg ein. „Ich gleiche ihr nicht im geringsten“, sagte sie, „meine Mutter ist sehr schön … eine richtige langweilige Schönheit.“

Er ging um den Wagen herum, wartete, bis sie die Tür von innen öffnete und ihn einsteigen ließ. Er versuchte verschiedene Stellungen, bis es ihm gelang, seine langen Beine einigermaßen bequem unterzubringen, beobachtete, wie ihre schmalen Hände sich ungemein kräftig und geschickt betätigten. Es dauerte eine Weile, bis der Motor ansprang. Sie schaltete den Rückwärtsgang ein, das kleine Auto schoß zurück, sie schaltete in den zweiten Gang, sie brausten aus dem Tor, fügten sich in den spärlichen Vorortverkehr auf der Fahrbahn ein.

„Nein, ich bin nicht wie meine Mutter“, nahm Gabriele das angeschnittene Thema wieder auf, „viel eher wie mein Vater. Obwohl ich seine Leidenschaft für den Gelderwerb durchaus nicht teilen kann. Oder vielleicht könnte ich es doch, wenn ich in Armut aufgewachsen wäre wie er.“

Er blickte auf ihr zartes, ein wenig arrogantes Profil, konnte dem Wunsch nicht widerstehen, sie zu ärgern. „Das ist ja alles sehr interessant, mein liebes Fräulein Zerling“, sagte er gönnerhaft, „aber wenn ich mir eine Frage erlauben darf … war das der Grund, warum Sie mich sprechen wollten? Um mir Ihre Familiengeschichte zu erzählen?“

Sie zuckte zusammen, sah ihn an – für eine Sekunde vergaß sie auf das Steuer zu achten, der Wagen machte einen kleinen Schwenker, dann hatte sie ihn wieder in der Gewalt.

„Entschuldigen Sie, daß ich Sie gelangweilt habe“, sagte sie kühl, „es soll nicht wieder vorkommen.“

„Von Langeweile kann gar keine Rede sein. Die Art, wie Sie uns da eben beinahe gegen einen Baum gefahren hätten, war so ungefähr das Aufregendste, was ich in den letzten Monaten erlebt habe.“

Sie ging nicht auf seinen neckenden Ton ein. „Ich muß wirklich mit Ihnen reden“, sagte sie, und da er keine Frage stellte, fügte sie nach einer kleinen Pause hinzu: „Über Professor Bergmeister.“

„Ach“, sagte er nur.

„Sie wissen, um was es geht …“

„Nein, wirklich nicht. Ich habe keine Ahnung.“

„Vielleicht sollte ich von der ganzen Sache gar nichts wissen … ich sage Ihnen auch gleich, daß ich nicht verraten werde, woher ich es weiß. Aber diese Selbstversuche, die Professor Bergmeister mit Lichtkoagulation durchführt, sind meiner Meinung nach geradezu mörderisch!“

„Und warum erzählen Sie mir das?“

„Das fragen Sie noch? Sie dürfen es nicht zulassen, Sie müssen es verhindern!“

„Mein liebes Fräulein Zerling, wie stellen Sie sich das vor?“

„Wie Sie es machen, das ist Ihre Sache … auf jeden Fall muß er damit aufhören. Wenn diese Versuche schon sein müssen, warum nimmt er sich nicht andere Objekte? Kranke zum Beispiel! Ja, das wäre doch die Idee! Unheilbare Kranke.“

„Solche Personen wären ungeeignet, selbst wenn sie sich freiwillig zur Verfügung stellen würden“, sagte er müde, „glauben Sie nicht, daß ich mir schon seit Monaten den Kopf über dieses Problem zerbreche?“

„Sie auch?“

„Was haben Sie denn gedacht? Grade heute morgen habe ich mich selber als Versuchsperson zur Verfügung gestellt.“

„Nein!“ sagte sie entsetzt.

Er sah sie ungläubig an. „Bitte“, sagte er, „fahren Sie den Wagen doch mal an den Bordrand … ja, so. Und jetzt bremsen Sie. Was sagten Sie da eben? Nein? Ich dachte, es käme Ihnen darauf an, Professor Bergmeisters Augenlicht zu schützen?“

„Ja, natürlich!“ Sie sah an ihm vorbei, ihre Hände verkrampften sich nervös. „Nur … wenn Sie … damit wäre doch nichts gewonnen.“

„O doch. Ich habe gesunde Augen, ich bin jünger … das Risiko, das ich damit eingehe, ist jedenfalls wesentlich geringer.“

„Sie wollen also … wirklich?“ fragte sie, fast flehend.

„Würden Sie mir dazu raten?“

„Raten? Ich?“ Sie hob den Kopf und blickte ihn an, in ihren dunklen Augen flammte Erregung. „Niemals! Ich flehe Sie an … tun Sie es nicht! Bitte, bitte … nicht!“

Er beugte sich über sie, nahm sie in die Arme und küßte sie. Er küßte sie lange, ausgiebig und mit wachsendem Genuß.

Als er sie endlich losließ, lächelte er, aber seine Stimme klang rauh, als er sagte: „Das hatte ich mir schon seit langem gewünscht, Gabriele!“

Sie war nicht verlegen. „Das glaube ich dir sogar“, sagte sie und strich sich über das glatte, kurzgeschnittene Haar, „und doch wette ich, daß du mir eines Tages Vorhalten wirst, ich hätte dich dazu gebracht.“

„Na und? Stimmt das etwa nicht?“

„Flegel“, sagte sie und lachte glücklich. Dann, ganz plötzlich wurde sie ernst. „Wirst du dich für diese Versuche zur Verfügung stellen?“ fragte sie.

„Ich habe es getan. Aber Professor Bergmeister hat es abgelehnt.“

Sie seufzte. „Er ist ein großer Mann“, sagte sie voll Ehrfurcht, „einer von den ganz Großen!“

Michael Bergmeister räkelte sich aus dem tiefen, lederbezogenen Sessel hoch, ein schlanker, ein wenig schlacksiger junger Mann, dessen Jungenhaftigkeit durch den kurzen Bürstenhaarschnitt noch betont wurde. „Ihr müßt mich jetzt entschuldigen“, sagte er mit einer ungeschickten kleinen Verbeugung zu seiner Stiefmutter hin.

Sie hatten nach dem Abendessen im Salon noch eine Tasse Mokka zu sich genommen, Professor Bergmeister, Vera, seine Frau, und sein zweiundzwanzigjähriger Sohn, Medizinstudent im sechsten Semester.

„Mußt du fort?“ Vera konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen. „Grade heute, wo ein so interessantes Fernsehspiel auf dem Programm steht!“

Er sah mit einem kleinen Lächeln auf sie herunter. „Ja, ich muß. Und ich kann nicht einmal behaupten, daß es mir leid tut. Du weißt, daß ich seit eh und je kein Freund vorgekauter Genüssebin.“

„Michael!“ sagte sein Vater mahnend.

Michaels Lächeln verbreitete sich zu einem Grinsen. „Tut mir leid, Alter Herr, das ist mir bloß so herausgerutscht. Ich wollte eure Gefühle nicht verletzen.“

„Sehr beruhigend, das zu hören.“ Professor Bergmeister zündete sich eine Zigarette an. „Auch wenn man überzeugt ist, daß die eigene Lebenshaltung die einzig wahre ist, sollte man es niemals an Achtung vor den Ansichten seiner Mitmenschen fehlen lassen.“ Er warf das Streichholz in den Aschenbecher. „Wenn du übrigens arbeiten mußt, bist du dafür hinreichend entschuldigt.“

„Nicht einmal das“, bekannte Michael, „wir haben wieder einmal einen Jazzabend im Studentenkeller …“

„Ist das wirklich so wichtig?“ fragte Vera.

„Na klar. Ich kann die Kumpels doch nicht sitzenlassen. Ohne mich ist die Band einfach nicht aktionsfähig.“

„Du kennst meine Ansichten“, sagte Professor Bergmeister, „ich will dir gewiß keine Vorhaltungen machen. Nur muß ich dich ehrlich darauf hinweisen … in meinen Studienjahren habe ich niemals soviel Zeit auf meine Hobbys verwenden können.“

„Hattest du welche?“

„Du wirst lachen … ja. Aber da du es so eilig hast, ist jetzt wohl kaum die Gelegenheit, mich darüber zu verbreitern.“ Er lehnte sich in seinen Sessel zurück, als ob er dieses Gespräch hiermit endgültig für abgeschlossen hielte.

Aber Michael blieb stehen. „Ich wollte dich nicht verletzen.“

„Ich weiß.“

„Und außerdem habe ich doch bisher meine Prüfungen alle anständig bestanden, nicht wahr?“

„Niemand macht dir einen Vorwurf, Michael“, sagte Vera rasch. „Lauf jetzt. Deine Freunde warten sicher schon.“

Als Michael gegangen war, schien der kleine Salon plötzlich sehr still geworden.

Professor Bergmeister war es, der das Schweigen brach. „Findest du nicht auch“, sagte er, „daß Michael in der letzten Zeit etwas viel unterwegs ist? Ich sehe ihn fast nur noch zu den Mahlzeiten, und auch dann nicht immer.“

Vera zuckte die vollen runden Schultern. „Er ist jung. Unternehmungslustig. Ich wundere mich nicht, daß er sich bei uns langweilt.“

„Vielleicht hast du recht. Aber mir kommt es manchmal so vor … als wenn er mir gradezu auswiche.“

„Das bildest du dir nur ein …“ Vera stand auf, schüttete den Inhalt der vollen Aschenbecher zusammen, stellte die leeren Mokkatassen, Zuckerdose und Sahnekännchen auf ein bunt lakkiertes kleines Tablett.

„Ich bin nicht sicher, daß du recht hast.“

Vera setzte das Tablett, das sie schon aufgenommen hatte, wieder auf den achteckigen niedrigen Tisch zurück. „Wenn Michael wirklich jemandem aus dem Wege geht“, sagte sie, „dann bin ich es. Er lehnt mich ab. Wahrscheinlich ist es meine Anwesenheit, die ihn aus dem Haus treibt.“

„Ist das dein Ernst? Ich dachte, ihr hättet euch immer so gut verstanden.“

„Sag lieber, er hat gute Miene zum bösen Spiel gemacht. Als ich ins Haus kam, war er zwölf … ein sehr selbstbewußter kleiner Knirps. Er hat es schon damals verstanden, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Wirklich feindlich oder ruppig ist er mir niemals entgegengekommen, wenn du das meinst … aber er hat sich niemals entschließen können, mich anders als beim Vornamen zu nennen.“

Professor Bergmeister schmunzelte. „Na, du wärst ja auch wirklich eine verdammt junge Mutter für einen Zwölfjährigen gewesen … und auch heute noch! Wenn man euch nebeneinander sieht, könnte man euch eher für Geschwister halten.“

„Du bist kurzsichtig. Sonst würdest du niemals auf die Idee kommen, so etwas zu sagen!“ Aber ihren Worten zum Trotz straffte Vera ihre jugendlich üppige Figur, die der enganliegende Hausanzug aus Goldbrokat voll zur Geltung brachte. Sie war eine schöne Frau, mit ihren schräg liegenden grünen Augen, der makellosen zarten Haut, dem weißblonden seidigen Haar, das sie heute abend offen trug, bis auf die Schultern herabfallend.

Sein Lächeln vertiefte sich. „Es ist mein Beruf, scharf zu sehen“, sagte er, „und ich versichere dir, daß selbst der kritischste Beobachter dir keinen Tag mehr als … na, sagen wir … zweiundzwanzig Jahre zubilligen würde.“

Jetzt konnte sie nicht länger verbergen, daß sein Kompliment sie freute. „Ich versuche eben, mich in Form zu halten“, sagte sie mit nicht ganz echter Bescheidenheit.

Es schoß ihm durch den Kopf, daß sie dazu auch Zeit, Gelegenheit und Geld genug hatte. Aber niemals wäre es ihm eingefallen, einen solchen Gedanken auszusprechen. „Und wie man sieht, ist es dir gelungen“, sagte er nur.

Sie trug das Tablett auf ein Abstelltischchen, ging zum Fernseher. Unterwegs tat sie einen Blick auf ihre zierliche, mit Brillanten besetzte Armbanduhr – ein Geschenk ihres Gatten zum zehnjährigen Hochzeitstag. „Wahrscheinlich sind die Nachrichten noch nicht beendet, aber ich will doch schon …“

Er fiel ihr ins Wort. „Vera!“ – „Ja, bitte?“

„Würde es dir sehr viel ausmachen, wenn wir heute mal auf dieses Fernsehstück verzichteten? Bitte, schau mich jetzt nicht so an, als wenn ich eine Ungeheuerlichkeit verlangte … es ist einfach so, daß ich viel mehr Lust hätte, eine Flasche Wein zu trinken und mit dir zu plaudern.“

Ihr Mund war schmal geworden. „Du weißt genau, wie ich mich grade auf diese Inszenierung gefreut habe!“

„Ja, ich weiß es. Verzeih bitte meinen dummen Vorschlag. Wenn dir soviel daran liegt, dann schau dir die Sache nur in aller Ruhe an …“ Professor Bergmeister erhob sich. „Du darfst mir nur nicht böse sein, wenn ich mich zurückziehe.“

Ihre grünen Augen flammten. „Du willst mich allein lassen?“

Er wollte seine Hand unter ihr Kinn legen, aber sie zuckte zurück. „Du bist nicht allein“, sagte er, „ich sitze im Nebenzimmer … und außerdem wird das Stück hoffentlich so unterhaltsam sein, daß du mich überhaupt nicht vermißt.“

„Warum … warum bist du nur so? Du weißt ganz genau, daß ich nichts vom Leben habe … nichts, gar nichts. Ich sitze herum und warte darauf, daß du nach Hause kommst, und dann … und dann …“ Ihre Stimme brach.

„Kannst du wirklich nicht begreifen, daß ich nach einem langen anstrengendem Tag meine Augen nicht auch noch abends überfordern möchte?“

„Überfordern!?“ Sie schrie es fast heraus. „Jetzt weiß ich, was mit dir los ist … jetzt weiß ich es. Du hast wieder einmal einen deiner gräßlichen Selbstversuche gemacht! Lüg mich nicht an! Ich weiß es!“

Er wandte sich ab und wollte wortlos das Zimmer verlassen.

Aber sie vertrat ihm den Weg. „Glaub nur nicht, daß du mich einfach so stehen lassen kannst! Ich bin deine Frau und habe ein Recht …“

„Bitte, Vera“, sagte er beschwörend, „bitte! Wir wollen uns doch nicht in diesem Ton unterhalten.“

Sie dämpfte die Stimme, aber auch als sie jetzt leise sprach, klang es nicht weniger aufgebracht. „Es ist nicht nur deine Gesundheit, an der du dich versündigst … es ist nicht deine Privatsache, was du tust und läßt. Du hast Verpflichtungen mir gegenüber. Ja, ja, ich weiß, du tust alles nur im Dienste der Wissenschaft, zum Segen der leidenden Menschheit … ach, ich kann diese Phrasen ja schon singen. Ich bin der Mensch, der dir am nächsten stehen sollte, deine Frau. Warum nimmst du nicht einmal, ein einziges Mal, Rücksicht auf mich?“

„Du scheinst eine ganz falsche Vorstellung zu haben …“

Sie fiel ihm ins Wort. „Nein, damit fängst du mich nicht. Ich bin keine dumme Gans, der man etwas vormachen kann. Ich weiß, daß diese Versuche gefährlich sind … erinnerst du dich nicht, daß du es selber zugegeben hast?“

„Aber doch nicht in dem Maß, wie du dir das einredest.“

„So. Wirklich nicht? Kannst du mir schwören, daß diese Versuche deine Augen in keiner Weise angreifen?“

„Vera, ich …“

„Also nicht. Und du wirst auch zugeben, daß es mit deiner Arbeit aus ist, wenn du auch mit den stärksten Brillen nicht richtig sehen kannst. Aus und vorbei. Jedenfalls deine Tätigkeit als Chirurg. Ja, vielleicht … deine Professur wirst du möglicherweise noch behalten. Wenigstens eine gewisse Zeit. Bis sich herausstellt, daß du die jungen Leute nicht mehr in Schach halten kannst. Dann wirst du emeritiert. Ein feines Wort. Aber es bedeutet nichts anderes, als daß wir auf eine Hungerpension gesetzt werden. Aus ist es mit den Privatpatienten, den Honoraren … Michael wird sein Studium abbrechen müssen …“

Jetzt endlich gelang es ihm, sie zu unterbrechen. „Aber, Vera, das ist doch Unsinn! Was ist nur in dich gefahren? Das alles sind doch maßlose Übertreibungen, die …“

Aber sie ließ sich nicht aufhalten. „Und ich“, sagte sie, während ihr schöner Körper von Schluchzen geschüttelt wurde, „ich habe alles für dich geopfert … meine Karriere als Schauspielerin, alles! Ich habe es aus Liebe getan. Wenn ich geahnt hätte, daß dir so wenig an mir liegt …“

Er nahm sie in die Arme, hielt sie, obwohl sie sich wehrte, ganz fest. „Ich liebe dich doch, Vera … ich liebe dich heute wie am ersten Tag! Warum willst du nicht einsehen, daß es für einen Mann Pflichten gibt, die …“

Sie riß sich mit einem Ruck von ihm los. „Wenn du so denkst“, sagte sie mit verzerrter Stimme, „hättest du nie wagen dürfen, eine Frau wie mich an dich zu binden …“

Mit den Augen der Liebe

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