Читать книгу Mit den Augen der Liebe - Marie Louise Fischer - Страница 6

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„Ich schäme mich“, bekannte Professor Bergmeister.

Er saß an seinem Schreibtisch Dr. Hilpert gegenüber, den Kopf schwer in die Hand gestützt.

Es hatte sich herausgestellt, daß die Finsternis, die ihn so erschreckt hatte, nicht auf ein Versagen seiner Augen zurückzuführen gewesen war, sondern auf einen technischen Unfall. Als er die elektrische Leitung aus dem Lichtkoagulationsgerät gerissen hatte, war ein Kurzschluß entstanden, der die Lichter im ganzen Stockwerk zum Erlöschen gebracht hatte.

Jetzt nahm er die Hand von den Augen und sah Dr. Hilpert an. „Ich schäme mich nicht vor Ihnen, Norman … nicht aus Eitelkeit. Ich schäme mich vor mir selber. Ich komme mir vor wie ein General, der seine Leute ohne mit der Wimper zu zucken in den Heldentod gejagt hat … und dann im Augenblick der wirklichen Gefahr blitzartig erkennen muß, daß er selber ein Feigling ist.“

„Entschuldigen Sie, Herr Professor, aber …“

Professor Bergmeister winkte müde ab. „Nein, nein, Kollege, versuchen Sie nicht, mit mir über etwas zu diskutieren, was nur ich allein erlebt habe. Ich weiß jetzt, was es heißt, blind zu sein. Und ich weiß auch, was ich von meiner eigenen Tapferkeit zu halten habe.“

Dr. Hilpert öffnete den Mund, um etwas zu sagen, begriff dann aber, daß jedes seiner gutgemeinten Worte in dieser Situation hohl klingen mußte, und schwieg.

„Sie wundern sich, daß ich … ausgerechnet ich, der sich sein halbes Leben mit Augenleidenden und Blinden befaßt hat“, fuhr der Professor fort, „das Phänomen der Blindheit bis heute noch nicht richtig erfaßt habe. Aber es ist so. Früher, wenn ein Patient zu mir kam, von dem ich wußte, daß sein Augenlicht nicht mehr zu retten war, dann sagte ich mir: Nun gut, er wird nicht mehr sehen können. Schlimm genug, aber immerhin noch erträglich, solange man hören, sprechen, fühlen, gehen, greifen kann.“ Professor Bergmeister schob seinen Schreibtischsessel zurück und erhob sich heftig. „Aber so ist es gar nicht, Hilpert … es ist anders, ganz anders. Blind sein bedeutet … ach, wenn ich nur die Worte fände, Ihnen das klar zu machen. Ausgeliefertsein, ja, das ist es … in einen leeren Raum gestellt sein, ganz allein, in eine Finsternis, so unermeßlich wie das Weltall.“

Dr. Hilpert räusperte sich, um zu prüfen, ob seine Stimme ihm gehorchte. „Glauben Sie nicht, Herr Professor“, fragte er, „daß dieses Gefühl möglicherweise nur im ersten Schockmoment so stark ist? Daß man bald lernt, sich auch ohne Augenlicht zurechtzufinden? Daß man sich an den Zustand der Blindheit gewöhnt?“

„Gewöhnt? Ja. Vielleicht. Aber ich will mich nicht daran gewöhnen müssen … ich will nicht blind werden, Hilpert, ich will es nicht!“

„Sie sind also bereit, Ihre Selbstversuche …“

„Sind beendet, Kollege … das heißt, wenn dieser letzte geklappt hat.“

„Und wenn nicht?“

Professor Bergmeister schwieg. „Das ist eine Frage, die ich nicht heute und nicht jetzt beantworten möchte.“ Er lächelte schwach. „Sie werden verstehen, daß ich mich augenblicklich nicht imstande fühle, sachliche Entscheidungen zu treffen.“

„Durchaus. Es steht mir auch keineswegs zu …“

„Sie haben nicht nötig, sich zu entschuldigen, Norman. Ich weiß, daß Ihre Sorge ganz ehrlich ist. Würden Sie mich noch einmal untersuchen? Nur mein rechtes Auge. Das linke dürfte im Augenblick nicht ganz …“

„Selbstverständlich, Herr Professor.“

„Das ist gut. Das ist ausgezeichnet. Wissen Sie, Kollege, es würde mich interessieren, wie die konservative Behandlung mit Priscol und so weiter bisher gewirkt hat … ob sie überhaupt gewirkt hat, meine ich.“

Dr. Hilpert folgte dem Professor in den Dunkelraum für optische Geräte. „Wann hatten wir begonnen? Vor etwa acht Tagen, nicht wahr? Dann dürfte es doch wohl noch zu zeitig sein, mit durchschlagenden Erfolgen zu rechnen.“

Der Professor und sein Assistent setzten sich. Dr. Hilpert nahm das Ophthalmoskop zur Hand, knipste das Licht an und begann mit der Spiegelung des linken Auges. Es war so still in dem dunklen Raum, daß man die nervösen Atemzüge der beiden Männer hören konnte.

„Wie ich es mir gedacht hatte“, sagte Dr. Hilpert schließlich, „unverändert.“

„Kein Rückgang der Netzhautblutungen?“

„Nein“, sagte Dr. Hilpert zögernd.

„Also Verschlechterung?“ Die Stimme Professor Bergmeisters klang völlig gefaßt.

„Nein, auch das nicht. Jedenfalls kann ich das nicht mit Sicherheit behaupten. Selbst wenn eine Verschlechterung eingetreten sein sollte, ist sie so minimal, daß sie nicht festzustellen ist.“ Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: „Vielleicht sollte man mit der Funduskamera eine Aufnahme machen?“

„Eine Aufnahme? Was soll das für einen Sinn haben? Haben Sie eine Ahnung, welche Unzahl von Aufnahmen ich während meiner Selbstversuche gemacht habe? Ich mußte es ja, wenn meine Experimente einen Sinn haben sollten!“

Dr. Hilpert sah den Professor eine Sekunde verblüfft an, dann schlug er sich mit der Hand vor die Stirn. „Natürlich. Aber das liegt doch auf der Hand … daß ich daran nicht gedacht habe.“ Er holte tief Atem. „Aber … dann haben Sie es ja gewußt? Noch bevor ich Sie das erstemal untersucht habe?“

„Ich wollte es nicht wahrhaben. Vielleicht auch hatte ich mich zu sehr daran gewöhnt, diese Augenaufnahmen als etwas Unpersönliches zu betrachten, etwas, das mit mir selber gar nichts zu tun hatte … sozusagen nur von wissenschaftlichem Interesse war und keine Wirklichkeit besaß.“

„Ich verstehe.“

Professor Bergmeister stand auf. „Aber es gibt Wahrheiten, vor denen man sich nicht verstecken kann. Ich habe Ihnen schon einmal gesagt … es hilft nichts, mit Wenn und Aber in der Vergangenheit herumzustochern, wir haben es mit Tatsachen zu tun. Da die konservative Therapie nicht anzuschlagen scheint … ich habe Sie sehr gut verstanden, Kollege, Sie konnten mir nicht einmal mit Sicherheit sagen, daß die krankhafte Entwicklung zum Stehen gebracht worden ist … möchte ich es mal mit einer Kochsalzlösung versuchen. Subkonjunktival. Was halten Sie davon?“

„Nun, da uns bisher noch keine durchschlagende Therapie gegen diese Art von Degenerationserscheinungen bekannt ist …“

„Sehr richtig … können wir es mit so ziemlich jedem Mittel versuchen, wollten Sie sagen. Darf ich Sie also bitten, mir die Spritze zu geben? Ich könnte es natürlich auch selber, aber …“

„Selbstverständlich werde ich es tun.“ Dr. Hilpert öffnete die Milchglastür zum hellen Untersuchungsraum. „Darf ich nur eben aus meinem Zimmer …“

„Aber warum denn?“ Professor Bergmeister griff in seine Hosentasche, zog einen Schlüsselbund heraus, reichte ihn Dr. Hilpert. „Der hier ist es.“

Dr. Hilpert öffnete den Medikamentenschrank, holte eine Ampulle mit Novocain heraus, sägte die gläserne Spitze ab, füllte den Inhalt in den Injektionsbehälter der sterilisierten Spritze.

„Machen Sie’s sich bitte bequem, Herr Professor … am liebsten wäre es mir, sie legten sich richtig lang. Schön entspannen ja, so ist’s gut.“ Dr. Hilpert hatte die Spritze aufgezogen, drückte den Kolben nieder, um ein Luftbläschen hinauszujagen, trat auf die Untersuchungsliege zu, beugte sich über den Professor. Professor Bergmeister preßte die Lippen zusammen, während Dr. Hilpert nahe dem linken Auge – einmal seitwärts vorn und einmal hinten – einstach und die betäubende Flüssigkeit aus der Nadel fließen ließ.

Dr. Hilpert ging zum Medikamentenschrank zurück und bereitete eine sorgfältig ausgewogene Lösung aus Natriumchlorid und destilliertem Wasser. Als er damit fertig war und die Spritze wieder aufgezogen hatte, überzeugte er sich, daß das Auge des Professors nahezu empfindungslos geworden war.

„Bitte, weit öffnen!“ sagte er und stach die spitze Nadel unter die Bindehaut.

Professor Bergmeisters Hände verkrampften sich. „Ich weiß, daß es gleich vorüber ist“, sagte er gepreßt, „ich weiß es, Hilpert … aber dennoch! Es brennt schauderhaft!“

Um neun Uhr, als die Visite begann, war Professor Bergmeister nichts mehr von dem überstandenen Schrecknis anzumerken. Er wirkte ruhig und ausgeglichen wie immer. Nur Gabriele Zerling, die eine sehr gute Beobachterin war, merkte, daß er blasser war als sonst. Leise fragte sie Dr. Hilpert, während sie im Ärztestab hinter dem Professor über die langen Gänge schritten. „Norman … was ist mit Professor Bergmeister los?“

Er antwortete, ohne sie anzusehen: „Nichts. Halt den Mund.“

Eine Sekunde lang fühlte sie sich durch seinen Ton verletzt, sie hatte eine scharfe Antwort schon auf der Zunge. Aber als sie den Kopf hob und sein Profil sah, das auf seltsame Weise ernst und fast tragisch gespannt wirkte, siegte ihre Vernunft. „Entschuldige, bitte“, flüsterte sie.

Er sah sie an, ganz überrascht von ihrer unerwarteten Zahmheit. „Braves Mädchen“, murmelte er.

Sie ärgerte sich, daß sie bei diesem rauhen Lob über und über errötete.

Sie waren vor der Tür von Gunhild Wigand angekommen.

„Herr Professor“, sagte Oberschwester Hilde, „die Patientin erwartet, daß sie heute ihren ersten Sehversuch machen darf.“

Dr. Hilpert trat vor. „Ja, Herr Professor. Ich habe gestern die Fäden gezogen.“

„Und?“

„Äußerlich scheint alles in Ordnung.“

Professor Bergmeister zögerte, die Klinke schon in der Hand. „Na, dann wollen wir mal“, sagte er mit Überwindung und öffnete die Tür.

Hinter ihm rauschte der Stab der Ärzte, Schwestern und Hospitanten in das kleine Zimmer und umringte das Bett der Patientin.

Gunhild Wigand richtete sich aus den Kissen auf und stellte das Taschenradio ab, das auf ihrem Nachttisch stand. Sie wirkte sehr hübsch und gepflegt in einem hellblauen, mit Rüschen besetzten Nachthemd. Ihr kurzgeschnittenes Haar war kunstvoll zurechtgebürstet, der Mund zart geschminkt. Nur die Mullbinde, die sie um das linke Auge trug, störte den erfreulichen Anblick.

„Schönen guten Morgen, Fräulein Wigand“, sagte Professor Bergmeister und reichte dem Mädchen seine schmale, kühle Hand, „Sie brauche ich wohl nicht zu fragen, wie es Ihnen geht … Sie sehen glänzend aus.“

„Das kann ich mir eigentlich gar nicht vorstellen“, erwiderte Gunhild mit einem zitternden kleinen Lächeln, „ich fühle mich jedenfalls schauderhaft.“

„Schlecht geschlafen?“

„Überhaupt nicht.“

„Die Patientin hat gestern abend zwei Schlafpulver bekommen“, berichtete die Oberschwester, die auf ihrer Medikamentenliste nachgeschaut hatte.

„Ich habe trotzdem nicht geschlafen“, behauptete Gunhild Wigand trotzig.

„Sie wissen sehr gut, Fräulein Wigand, daß Sie nur zu klingeln brauchen, wenn Sie …“

Professor Bergmeister brachte die Oberschwester, eine allzu energische, aber sehr tüchtige und deshalb fast unersetzliche Frau, mit einer Handbewegung zum Schweigen.

„Es gibt Situationen“, sagte er und nahm zart das Handgelenk der Patientin, um ihren Puls zu fühlen, „wo selbst die stärksten Medikamente nichts mehr nutzen. Gegen Seelenpein gibt es keine Medizin.“

Gunhild Wigands gesundes Auge wurde feucht. „Daß Sie das verstehen, Herr Professor!“

„Man braucht nicht besonders klug zu sein, um zu begreifen, wieviel Angst Sie vor dem Moment haben, der jetzt vor Ihnen liegt. Wenn Sie wollen …“

„O nein!“ rief Gunhild impulsiv. „Nur nicht noch einmal verschieben!“

Professor Bergmeister lächelte. „Das war es nicht, was ich vorschlagen wollte, mein liebes Mädchen. Etwas ganz anderes.“ Er wandte sich zu seinem Stab um. „Wenn Sie die Bande stört, werfe ich sie hinaus.“

Gunhild zögerte, sagte dann: „Nicht meinetwegen, Herr Professor … wenn es so üblich ist …“

„Allerdings.“ Professor Bergmeister zog sich einen Stuhl an den Bettrand. „Schwester Gerda, bitte schütteln Sie der Patientin mal die Kissen auf, daß sie ganz ohne Mühe aufrecht sitzen kann … und Sie, Oberschwester, entfernen bitte den Verband …“ Zu Gunhild Wigand gewandt, sagte er: „Schließen Sie bitte beide Augen … ja, beide, bis ich Sie auffordern werde, sie zu öffnen. Und seien Sie nicht erschrocken, wenn Sie mit dem operierten vielleicht vorerst nur schattenhaft sehen. Das würde gar nichts besagen.“

Schwester Gerda ging zum Fenster, zog die goldgelben Vorhänge zu. Im Krankenzimmer herrschte jetzt ein sanftes Dämmerlicht.

Die Oberschwester hatte begonnen, den Mullverband umständlich vom Kopf der Patientin abzuwickeln. Gunhild Wigand vergrub ihre Zähne in die Unterlippe. Es war ihr anzusehen, wie sehr sie unter der Spannung litt.

„Schere!“ sagte Dr. Hilpert scharf.

Die Oberschwester sah ihn kurz an, als wenn sie widersprechen wollte, dann aber fügte sie sich, nahm die große Schere, die Schwester Gerda ihr reichte, und durchschnitt mit einer einzigen Handbewegung sämtliche Schichten des Verbandes. Sie nahm den Gazetupfer ab, der das Auge verschlossen gehalten hatte.

„Eine Sekunde!“ Professor Bergmeister legte beruhigend seine Hand auf ihre zuckenden Finger. „Haben Sie einen Unterschied gemerkt, als der Verband abgenommen worden ist!?“

„Ja. Es ist heller geworden. Oder ich bilde es mir auch nur ein.“

Professor Bergmeister wechselte mit seinem Assistenten, der hinter ihm stand, einen raschen Blick.

„Jetzt, bitte, öffnen Sie beide Augen … langsam und ganz gleichmäßig“, bat Dr. Hilpert. – Die Patientin folgte dem Befehl.

Aber sie hatte die Augen kaum halb geöffnet, als sie schon voll Entsetzen die Lider wieder senkte. „Ich schiele!“ sagte sie verzweifelt. „Ich kann gar nichts mehr richtig sehen … ich schiele schrecklich.“

Professor Bergmeister lachte. „Ein gutes Zeichen, mein liebes Mädchen … ein sehr gutes Zeichen. Es beweist nämlich, daß Sie auch mit Ihrem operierten Auge wieder sehen. Sie waren es über eine Woche gewohnt, nur mit einem Auge zu schauen. Jetzt müssen Sie erst wieder lernen, die Bilder beider Augen miteinander zu koordinieren.“

„Versuchen Sie es ruhig noch einmal“, sagte Dr. Hilpert.

Wieder öffnete die Patientin beide Augen, hielt sie offen, sah im Zimmer herum. Es war deutlich, daß die beiden Augäpfel sich nicht in der gleichen Richtung bewegten.

„Ich schiele“, wiederholte Gunhild tonlos, „ich …“ Aber dann stockte sie mitten im Satz, ihr junges Gesicht strahlte auf. „Es geht wieder!“ rief sie jubelnd. „Ich kann richtig sehen!“

„Na, wunderbar!“ sagte Professor Bergmeister. „Dann hat es also geklappt!“

„Einen Spiegel“, bat Gunhild und wandte sich an Schwester Gerda, „könnte ich wohl …“

Schwester Gerda reichte ihr den Handspiegel vom Nachttisch.

Gunhild Wigand betrachtete sich ganz verblüfft. „Aber, das ist ja …“ Sie ließ den Spiegel sinken und sah von Professor Bergmeister zu Dr. Hilpert. „Es ist ja gar nichts zu sehen! Bin ich denn wirklich operiert worden?“

Professor Bergmeister war aufgestanden. Er nickte ihr lächelnd zu. – „Es ist nicht zu fassen“, sagte Gunhild, „ich werd’ verrückt!“ Als der Professor die Tür schon fast erreicht hatte, fügte sie mit einer plötzlichen Eingebung hinzu: „Ich glaube, ich war in meinem ganzen Leben noch nie so glücklich – vielleicht weil ich früher alles zu selbstverständlich genommen habe!“

„Das sind die Momente“, sagte Professor Bergmeister draußen auf dem Gang zu Dr. Hilpert, „wegen denen wir unseren Beruf so lieben, nicht wahr? Das Augenlicht wiederschenken dürfen … manchmal grenzt es fast ans Wunderbare!“

Der junge Michael Bergmeister kam in einer Gruppe von Kommilitonen vom Seziersaal heraus, als er Monika Ebers sah.

Sie rannte auf ihn zu. Die roten Locken flatterten um ihren kleinen Kopf, ihre zarte Haut war vor Erregung gerötet. „Mike“, rief sie schon von weitem, „endlich! Ich habe dich den ganzen Morgen gesucht! Wo hast du denn gesteckt!?“

Michaels Freunde lachten, und auch er lächelte amüsiert.

„Bei den Leichen“, sagte er, „schade, daß du nicht heruntergekommen bist. Wir hatten heute eine ganz besonders hübsche dabei, leider schon ein bißchen angegammelt, aber sonst …”

„Hör auf damit!“ sagte sie und stampfte mit ihrem Fuß auf den Boden. „Sei nicht widerlich!“

„Widerlich? Aber wieso denn? Ich erzähle nur ganz sachlich ..“

„Deine Erzählungen aus dem Seziersaal interessieren mich nicht, das solltest du langsam wissen. Schließlich bin ich Philologin und keine von euren abgebrühten Medizinerinnen!“ Ihre Augen, die von einem unwahrscheinlich tiefen, fast violetten Blau waren, funkelten ihn an.

„Schade“, sagte er, „aber dann kann ich ja gehen.“ Er blickte auf seine sportliche Armbanduhr. „In zehn Minuten habe ich Physiologie …“

„Mußt du mich eigentlich immer ärgern? Du weißt doch ganz genau, daß ich dich sprechen möchte!“

„Warum hast du das nicht gleich gesagt?“ Michael Bergmeister wandte sich an seine Kommilitonen, die die kleine Szene mit sichtlicher Anteilnahme genossen hatten. „Geht schon voraus, ihr seht, ich habe noch zu tun.“

Die anderen trennten sich nur ungern. „Daß du bei deinem Anlauf überhaupt noch zum Studium kommst“, sagte einer halb spöttisch, halb neiderfüllt.

„Er teilt sich’s eben ein“, erklärte ein anderer.

Aber dann schoben sie endlich doch ab.

Michael Bergmeister nahm Monika beim Arm und zog sie in eine der breiten Nischen. „Also, was gibt’s, Kätzchen?“ fragte er. „Was sagst du zu dem Vertrag?“ platzte sie heraus.

Er hob erstaunt die Augenbrauen. „Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.“

„Aber … der Vertrag! Ach tu doch nicht so! Du mußt ihn doch bekommen haben!“ Sie zerrte aufgeregt an dem Reißverschluß ihrer flachen Kollegtasche.

„Vielleicht könntest du dich ein bißchen genauer ausdrücken“, sagte er und blickte, die Hände in den Hosentaschen, belustigt auf sie hinunter.

„Er ist mit der Post gekommen. Mit einem Brief von der Grammola. Winterstein schreibt …“ Endlich löste sich der verklemmte Reißverschluß, sie öffnete ihn mit einem Ruck, nahm einen Umschlag heraus, klemmte die Kollegtasche zwischen die Beine, zog den Briefbogen aus dem Umschlag. „Der Verkauf unserer Platte wäre … ließe sich so erstaunlich gut an … erstaunlich gut, schreibt er … daß er sich entschlossen hätte, uns unter Vertrag zu nehmen. Wir sollen, um Bühnensicherheit zu gewinnen, erst mal eine Tournee durch ganz Deutschland mitmachen.“ Sie reichte Michael Bergmeister den Brief, lächelte strahlend zu ihm auf. „Ich habe das Gefühl, daß in seinem Programm eine Lücke ist … aber unser Glück. Jetzt sind wir drin.“

Michael Bergmeister las den Brief. Ohne es selber zu merken, runzelte er dabei die Stirn. „Und der Vertrag?“ fragte er endlich.

„Den habe ich auf meiner Bude gelassen. Weißt du, ich verliere immer so leicht etwas. Gerade die wichtigsten Dinge.“

„Na ja“, sagte er und gab ihr den Brief zurück. „Wahrscheinlich werde ich ja den gleichen Brief und den gleichen Vertrag bei uns vorfinden. Ich bin schon um acht Uhr weggegangen.“

„Wir müssen so bald wie möglich abhauen“, sagte sie. „Ich werde heute abend gleich mit meinen Altvorderen telefonieren.

R-Gespräch natürlich.“

Er sah sie an. „Du willst wirklich?“

„Na klar. Das ist doch die Chance unseres Lebens. Stell dir bloß mal vor … tausend Mark fix. Und dazu noch die Spesen. Und an den Platten verdienen wir natürlich auch noch.“

„Ist dir Geld so furchtbar wichtig?“ fragte er ohne Vorwurf, aber mit sachlichem Interesse.

„Nicht unbedingt. Aber es muß doch schön sein, selber was zu verdienen, statt mit einem lausigen Wechsel auskommen zu müssen. Aber davon abgesehen … was glaubst du, was wir für einen Spaß haben werden.“

„Ich weiß nicht“, sagte er, „mich kann die ganze Geschichte nicht so recht locken. Schlager singen! Wenn es wenigstens Jazz wäre.“

„Den schmuggeln wir einfach ein“, sagte sie überzeugt, „warte mal, bis wir erst berühmt sind … dann können wir aufnehmen, was wir wollen.“

„Wenn du dich da nur nicht irrst.“ Michael Bergmeister stieß sich von der Marmorverkleidung ab, gegen die er sich bis jetzt mit dem Rücken gelehnt hatte. „Nein, Kätzchen! Tut mir leid, wenn ich dich enttäuschen muß. Da mache ich nicht mit.“

„Nicht?!“ rief sie enttäuscht. „Nur weil’s kein Jazz ist?“

„Nein“, sagte er, „um ehrlich zu sein … ich mache gern Musik. Verdammt gern sogar. Besonders mit dir, denn du hast wirklich was los. Aber trotz und alledem. Das Ganze war für mich immer nur ein Hobby. Und ich denke, es ist besser, wenn es dabei bleibt.“

Sie konnte sich so schnell nicht abfinden. „Aber … warum denn?“

„Weil ich dabei bin, einen Beruf zu erlernen … einen vernünftigen Beruf. Wenn du dein Studium schon nicht ernst nimmst …“

„Sag doch so was nicht! Du weißt genau, daß ich ziemlich fleißig bin! Ich habe diesen Winter allein drei Seminare mitgemacht und in allen gute Arbeiten geschrieben.“ Sie hatte den Brief in ihre Kollegtasche zurückgeschoben, schloß sie jetzt wieder, nahm sie in die Hand. „Aber es gibt eine Menge Mädchen, die mindestens so gute Lehrerinnen werden könnten wie ich … und bei dir ist es doch dasselbe. Ganz im Gegenteil, an Lehrern herrscht Mangel, und Ärzte gibt es viel zuviel. So heißt es jedenfalls immer. Warum willst du dich unbedingt darauf versteifen …“

„Das verstehst du nicht.“

„O doch!“ rief sie und warf mit Schwung ihre leuchtenden Locken in den Nacken. „Vielleicht besser, als dir lieb ist! Weil dein Vater Chef ist, weil er dir alle Wege ebnen kann, weil …“

„Nun aber Schluß!“ In seiner Stimme war plötzlich ein gefährlicher Unterton. „Du nimmst dir ziemlich viel heraus, wie? Aber wenn du es genau wissen willst … ja, ich werde Arzt, weil mein Vater Arzt ist und mein Großvater Arzt war, und weil ich von klein auf nie, aber wirklich nie auf den Gedanken gekommen bin, etwas anderes werden zu wollen. Das ist die Wahrheit, ob sie dir nun paßt oder nicht.“ Etwas milder fügte er hinzu: „Aber das sollte dich natürlich nicht hindern, das Angebot dieses Plattenfritzen anzunehmen.“

In ihre schönen Augen waren Tränen gestiegen. Sie schluckte. „Ohne dich?“ brachte sie schließlich hervor.

„Warum nicht? Winterstein wird bestimmt einen anderen Partner für dich finden.“

Sie sah ihn mit schwimmenden Augen an, öffnete den Mund, als wenn sie etwas sagen wollte, preßte die Lippen fest aufeinander, drehte sich um und rannte davon.

Er sah ihr nach, ein wenig verwirrt und völlig verständnislos. Dann, nach einem Blick auf seine Armbanduhr, machte er sich mit raschen Schritten auf den Weg zum Physiologiesaal.

„Dieser Zustand ist einfach unerträglich!“ Direktor Oskar Binagel ballt, wahrscheinlich ohne es selber zu merken, die fleischige Hand zur Faust und klopfte in kurzen ungeduldigen Schlägen auf sein Knie. Er war ein kräftiger breitschultriger Mann und hätte, wenn er nicht eine Brille mit einem schwarzen Glas vor dem einen Auge getragen hätte, wie ein Bild blühender Gesundheit gewirkt.

Professor Bergmeister blieb bei diesem Erregungsausbruch ganz ruhig. „Ich weiß natürlich, daß ein so ausgeprägtes Lähmungsschielen alles andere als angenehm ist“, sagte er.

„Sie wissen gar nichts!“ Direktor Binagels breite Stirn rötete sich. „Sonst hätten Sie längst etwas unternommen … irgend etwas!“

„Irgend etwas hätte wohl wenig Sinn. Wir müssen das tun, was Sie gesundmacht, nicht wahr?“

„Dann tun Sie es doch endlich! Drei Monate sind jetzt seit dem verdammten Autounfall vergangen, und ich habe es satt, gründlich satt, mich länger vertrösten zu lassen! Es ist ja qualvoll. Wenn ich lesen … wenn ich bloß irgend etwas sehen will, muß ich mein krankes Auge zukneifen. An Autofahren ist gar nicht mehr zu denken. Wie stellen Sie sich vor, daß ich meinen Beruf ausüben soll? Oder erwarten Sie etwa, daß ich mich in den Ruhestand begebe? Mit dreiundvierzig Jahren.“

„Lieber Direktor Binagel“, sagte Professor Bergmeister, und seine Stimme klang gelassen, fast kühl, „Sie müssen mir glauben, daß ich Ihnen gern all diese Schwierigkeiten erspart hätte. Aber ich konnte es nicht verantworten, zu operieren, solange ich nicht sicher war, daß ein chirurgischer Eingriff unvermeidlich ist. Bisher konnten wir immer noch damit rechnen, daß die Lähmung der Augenmuskeln von selber zurückgehen würde … aber wenn ich Sie recht verstehe, haben sich bisher keinerlei Anzeichen von Besserung gezeigt?“

„Da … sehen Sie doch selber!“ Direktor Binagel riß sich die Brille von den Augen und starrte den Professor herausfordernd an. „Selbst wenn ich geradeaus blicke, sehe ich alles doppelt!“

Professor Bergmeister beobachtete den Patienten aufmerksam. „Bitte, sehen Sie mal nach links …“

Direktor Binagel tat es. „Das geht“, sagte er, „das ist die einzige Richtung, in der ich ein vernünftiges Bild habe … aber ich kann mir doch nicht dauernd den Kopf verrenken, um alle Gegenstände in diesen Blickwinkel zu bekommen.“

„Jetzt langsam zur Mitte!“

Direktor Binagel versuchte es, aber nur das linke Auge gehorchte. Das rechte blieb stehen. – „Weiter nach, rechts!“

Die Pupille des linken Auges drehte sich bis in den äußersten Lidwinkel, das rechte starrte unbewegt geradeaus.

„Danke, das genügt mir“, sagte Professor Bergmeister. „Sie können Ihre Brille wieder aufsetzen.“

„Werden Sie mich jetzt endlich operieren?“ drängte der Patient. „Von mir aus reißen Sie das Auge ’raus. So, wie es sich jetzt benimmt, kann ich es doch nicht mehr brauchen. Mit einem gesunden Auge wäre ich bestimmt besser bedient.“

„Das werden wir nun doch lieber nicht tun.“ Professor Bergmeister legte die Spitzen seiner schmalen Finger gegeneinander, lächelte ein wenig. „Ich weiß schon, an was Sie denken … wenn dich dein rechtes Auge ärgert, dann reiße es aus und wirf es von dir! Aber wir werden eine Muskelpfropfung machen und das ärgerliche Auge dahin bringen, wieder ordentlich zu funktionieren.“

Direktor Binagel beugte sich begierig vor. „Wann?“

„Sie würden natürlich einige Wochen in der Klinik bleiben müssen.“

„Das ist mir egal!“ Fast im selben Atemzug fügte er abschwächend hinzu: „Na, egal ist es mir natürlich doch nicht, aber was sein muß, muß sein. Lieber jetzt mal ein paar Wochen aussetzen, als noch länger in dieser Verfassung herumlaufen. Wann kann ich also kommen?“

„Ich werde mich mal eben mit der Oberschwester in Verbindung setzen und fragen, ob ein Privatzimmer frei ist.“ Professor Bergmeister hatte den Telefonhörer des Haustelefons schon in der Hand. „Ich denke, Sie sind einverstanden, daß mein erster Assistent, Dr. Norman Hilpert, Sie operieren wird? Ein ausgezeichneter Chirurg.“

Direktor Binagel legte die breite Stirn in Falten. „Aber ich hatte gedacht, Sie würden selber …“

„Ich hoffe, Sie werden nicht darauf bestehen.“ Professor Bergmeister lächelte entschuldigend. „Ich habe mich nämlich gerade heute entschlossen, in nächster Zeit nur noch ganz ausnahmsweise selber zu operieren, da ich mich einer wissenschaftlichen Arbeit widmen muß.“ Er sah, daß Oskar Binagels Gesicht sich verfinstert hatte, und fügte noch hinzu: „Ich würde Ihnen Dr. Hilpert nicht empfehlen, wenn ich nicht wüßte, daß er diese Operation genausogut ausführen kann wie ich … möglicherweise sogar besser!“

An diesem Abend brachte Professor Bergmeister seiner Frau zwölf auserlesen schöne Teerosen mit nach Hause. Er hatte den Wagen vor einem Blumengeschäft halten lassen, war selber hineingegangen und hatte sie ausgesucht. Aber Vera entlockten sie nicht einmal ein Lächeln.

„Danke“, sagte sie und klingelte nach dem Mädchen. „Ist es wahr, daß du Direktor Binagel von deinem Assistenten operieren läßt?“

„Wie kommst du darauf?“ fragte er überrumpelt.

„Edith Binagel hat mich angerufen. Ihr Mann hat dein Benehmen ziemlich merkwürdig gefunden. Sie wollte wissen, was dahintersteckt.“ Das Mädchen erschien, und Vera drückte ihr die Rosen, ohne noch einmal hinzusehen, in die Hand. „Bitte, stellen Sie sie in eine Vase, Gitta.“

„Wo ist Michael?“ fragte Professor Bergmeister, ließ sich in seinen Lieblingssessel sinken und entfaltete die Tageszeitung.

„In einem seiner Klubs“, sagte Vera gleichgültig. Sie wartete, bis das Mädchen mit den Blumen das Zimmer verlassen hatte, fragte fordernd: „Was ist los, Klaus? Weich mir nicht aus.“

Er sah sie über den Rand der Zeitung an. „Seit wann interessierst du dich für meine Arbeit?“

„Soll das ein Vorwurf sein?“

Sein Kopf war schon wieder hinter der Zeitung verschwunden. „Nein, nur eine erstaunte Frage“, murmelte er.

„Klaus!“ Sie riß ihm mit einem Ruck die Zeitung aus der Hand. „Lies nicht, wenn ich mit dir spreche!“

Professor Bergmeister bückte sich, um die Blätter, die auf den Boden gesegelt waren, wieder aufzuheben. „Ich glaube nicht, daß ein Gespräch sinnvoll ist, solange du so aufgeregt bist“, erklärte er gelassen.

„Aufgeregt! Wütend bin ich, außer mir! Warum willst du Direktor Binagel nicht operieren? Bitte, gib mir eine einzige Erklärung dafür, falls dir eine einfällt. Du weißt genau, Binagel ist ein reicher Mann. Wenn du nur wolltest, könntest du dir bei dieser Operation eine goldene Nase verdienen, statt dessen …“ Sie schluchzte auf, preßte ein weißes Batisttüchlein gegen die Augen.

„Vera!“ sagte er. „Bitte, Vera! Liebling! Es gibt doch gar keinen Grund zum Weinen! Es ist doch nichts geschehen … nicht das geringste!“ Er stand auf, ging zu ihr hin, nahm sie in die Arme. Sie ließ es widerstandslos zu.

„Du weißt genau, was Edith Binagel für eine Klatschbase ist“, schluchzte sie. „Sie wird die tollsten Gerüchte über dich ausstreuen. Alle werden sich fragen: Was ist mit Professor Bergmeister los? Glaubt er mit einemmal, daß er es nicht mehr nötig hat? Oder traut er sich nichts mehr zu?“

„Aber Liebling, das ist doch alles Unsinn“, sagte er. „Binagels Operation macht Dr. Hilpert wirklich genausogut wie ich.“

Ihr Kummer schlug schon wieder in Verzweiflung über. „Aber darauf kommt es ja nicht an!“ rief sie mit tränenerstickter Stimme. „Es geht doch um etwas ganz anderes! Warum hast du Binagels Operation abgelehnt?“

„Das habe ich ja gar nicht getan. Ich habe ihm nur nahegelegt, sich an Hilpert zu wenden. Und wenn du genau wissen willst warum … hast du denn ganz vergessen, wie oft du dich beklagt hast, daß ich zuwenig Zeit für dich habe? Daß du den ganzen Tag und die meisten Abende allein bist? Jetzt solltest du doch eigentlich froh sein …“

Sie ließ ihn nicht aussprechen. „Meinetwegen? Du hast es meinetwegen getan?“

„Unsertwegen, Vera“, sagte er ernst, „ich habe eine schwierige wissenschaftliche Arbeit vor …“

„Deine Vorlesungen! Aber die hast du sonst doch immer nebenbei gemacht.“

„Es handelt sich nicht um Vorlesungen, sondern um meine Arbeit über Lichtkoagulation. Ich habe meine Versuchsreihe jetzt beendet …“

Sie löste sich mit einem Ruck aus seinen Armen. „Du hast also trotzdem weitergemacht“, sagte sie, „obwohl ich dich so gebeten … obwohl ich dich angefleht habe!“ Ihre Tränen waren mit einem Schlag versiegt, ihr Gesicht glich einer starren Maske.

Er ließ die Arme sinken. „Ich mußte es tun, Vera. Ich bin Wissenschaftler. Du hast gewußt, daß du einen Wissenschaftler heiratest.“

„Einen Wissenschaftler, ja … aber keinen Selbstmörder!“

„Vera!“

„Schau mich nicht so an! Ich bin es nicht, die sich an unserer Ehe versündigt hat, sondern du … du ganz allein! Du hast dein Augenlicht aufs Spiel gesetzt, unser Glück … alles! Nur aus deinem verbohrten wissenschaftlichen Ehrgeiz!“

„Darauf“, sagte er und wandte sich ab, „gibt es wohl nichts mehr zu sagen.“

Sie lachte böse auf. „Du machst es dir sehr einfach.“

Er wollte zur Tür.

Sie verstellte ihm den Weg. „Kannst du mir schwören, daß diese Versuche deinen Augen nicht geschadet haben? Kannst du es mir schwören?“ – Er schwieg.

„Ich habe es gewußt“, sagte sie tonlos, „ich habe es von Anfang an gewußt. Jetzt ist es also soweit. Deshalb hast du dich vor der Operation an Binagcl gescheut. Weil deine Augen versagen. Herrgott, steh nicht so da und schau mich an …“

Er machte einen tiefen Atemzug, der wie ein Seufzer klang. „Selbst wenn du recht hättest, Vera … hast du ganz vergessen, was du mir geschworen hast? Du wolltest in guten und schweren Tagen zu mir halten. Ich habe es dir geglaubt.“

„Wenn es dein Schicksal gewesen wäre zu erblinden“, sagte sie hart, „ich hätte nicht mit der Wimper gezuckt. Ich hätte dich getröstet und gepflegt. Ich hätte mich damit abgefunden, für den Rest meines Lebens an einen … einen Blinden gebunden zu sein. Aber so ist es ja nicht. Du hast dein Augenlicht mutwillig zerstört. Ich habe dich immer wieder gewarnt. Aber was aus mir werden soll, war und ist dir ja gleichgültig.“

„Ich liebe dich, Vera.“

„Nein, das ist nicht wahr! Du liebst nur dich, deine Patienten, deine Arbeit.“

Er streckte die Hand nach ihr aus, aber sie wich zurück, als ob er ein ekelerregendes Reptil wäre.

„Rühr mich nicht an“, schrie sie hysterisch, „nie wieder!“

„Soll das heißen, daß du mich verlassen willst?“

„Damit die ganze Stadt mit Fingern auf mich zeigt? O nein, so leicht mache ich dir das nicht. Du wirst mich noch eine Weile ertragen müssen. Aber ich wünschte … ich wünschte wahrhaftig, ich hätte niemals eingewilligt, deine Frau zu werden!“

Michael Bergmeister kam mitten in der Nacht nach Hause.

Bis zwölf Uhr hatte er mit der Studentenband, der auch Monika Ebers als Sängerin angehörte, gejazzt. Nachher hatten die Mitglieder der Band noch ein paar Glas Bier getrunken, denn die Hitze im Studentenkeller war wieder einmal mörderisch gewesen.

Michael war bester Laune. Er pfiff, als er sich dem Haus seines Vaters näherte, vor sich hin – Body and Soul, das er an diesem Abend dreimal hatte bringen müssen.

Als er die Vorgartentür aufstieß, sah er, daß im großen Wohnzimmer noch Licht brannte. Er war überrascht. Es kam selten vor, daß seine Eltern noch auf waren, wenn er heimkam. Er überlegte, daß er wohl oder übel noch hineingehen mußte, um gute Nacht zu wünschen.

In der Diele blieb er einen Augenblick lauschend stehen, aber kein Laut kam von drinnen. Er öffnete die Tür und sah Vera. Sie kauerte vor dem halb erloschenen Kamin, hatte die Knie hochgezogen und starrte in die züngelnden Flammen.

Erst als er sich näherte, blickte sie auf und sah ihn an. Ihre schönen grünen Augen waren verschwollen und von Tränen gerötet, ihr silberblondes Haar hing in Strähnen.

Er stand und starrte sie an. Noch nie hatte er sie so gesehen. Er fühlte sich im Innersten getroffen.

„Wenn du deinen Vater sprechen willst“, sagte sie, und selbst ihre Stimme klang fremd, wie geborsten, „er ist schon zu Bett gegangen.“

Jetzt endlich fand er die Sprache wieder. „Vera, was ist mit dir?“ fragte er, und dann, sehr unsicher: „Hat es Ärger gegeben?“

Sie lachte. Ein verzweifeltes, freudloses Lachen. „Man kann es auch so nennen.“

„Willst du es mir nicht sagen?“

Sie zuckte die vollen Schultern. „Warum nicht? Der Ärger, wie du es nennst, besteht darin, daß mein Leben zerstört ist. Ich habe alles falsch gemacht.“

„Aber, Vera …“

„Widersprich mir nicht. Ich weiß genau, was ich sage. Jetzt endlich weiß ich es. Ich hätte deinen Vater nie heiraten dürfen.“

Sein Herz tat einen heftigen Sprung. „Ich dachte … du liebtest ihn?“

„Liebe! Liebe! Was ist Liebe? Meine Gefühle spielen doch keine Rolle. Für niemanden. Am wenigsten für deinen Vater. Was bin ich denn für ihn gewesen? In all den Jahren? Eine Puppe, eine hübsche Puppe, die sich elegant anzieht und die man verwöhnen kann. Und von der man erwartet, daß sie lächelt … immer lächelt, lächelt, lächelt.“

„Vera“, sagte er mühsam, „ich glaube bestimmt, du tust Vater unrecht.“

Sie sah ihn an, fast haßerfüllt. „Genau diese Worte hatte ich von dir erwartet. Du und dein Vater, ihr habt ja immer zusammengehalten. Dir bedeute ich genausowenig wie ihm. Wie habe ich mich um deine Freundschaft bemüht. Seit ich in dieses Haus gekommen bin, habe ich um deine Liebe gekämpft. Aber du … du bist mir nie einen Schritt entgegengekommen. Du hast in mir nie eine Mutter gesehen.“

„Eine Mutter?“ sagte er. „Hast du das im Ernst erwartet?“

„Ja, ja“, sagte sie heftig und sprang auf, „ich habe mir so gewünscht, dir etwas zu bedeuten. Wie oft du mich auch zurückgestoßen hast. Wenn er größer wird, habe ich mir gesagt, wird er es besser verstehen. Jetzt bist du erwachsen … und wie ist es geworden? Du bist mir fremder denn je. Meinst du, ich merke nicht, wie du mir ausweichst? Was habe ich dir denn getan?“

„Nichts“, sagte er heiser, „gar nichts …“

Sie stand sehr nahe vor ihm, so nahe, daß er die Tränen spuren auf ihren zarten Wangen sehen konnte.

Plötzlich ertrug er es nicht länger. Er riß sie in seine Arme.

„Vera“, stammelte er erstickt, „ich liebe dich … ich liebe dich! Hast du es wirklich nicht gewußt? Ich liebe dich bis zum Wahnsinn!“

Mit den Augen der Liebe

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