Читать книгу Mit den Augen der Liebe - Marie Louise Fischer - Страница 5

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Die Netzhautoperation der jungen Gunhild Wigand war für neun Uhr vormittag festgesetzt.

Die Patientin hatte am Abend zuvor ein starkes Schlafmittel bekommen. Kurz bevor sie in den Operationssaal I gefahren wurde, hatte Dr. Hesse, der Anästhesist der Augenklinik, ein Beruhigungsmittel injiziert, das sehr rasch zu wirken begann.

Sie war ganz gefaßt.

Als sie an ihrer Mutter, einer eleganten, überschlanken Dame, vorbeigeschoben wurde, die vor dem Operationssaal wartete, brachte sie sogar ein kleines Lächeln zustande, das Frau Wigand ein wenig verkrampft erwiderte.

Dann wurde sie in den Vorbereitungsraum hineingefahren, und die Doppeltüren schlossen sich hinter ihr.

Schwester Ethel, eine rundliche, sehr ruhige Frau, desinfizierte sorgfältig das Gebiet um das linke Auge, band Gunhilds Stirnlocken mit einem festen Band zurück, deckte den ganzen Kopf mit einem weißen sterilen Tuch ab, in dem ein runder Ausschnitt nur das Operationsgebiet freiließ:

Gemeinsam mit Schwester Gerda, die als unsterile Hilfe bei der Operation arbeitete, fuhr sie die Patientin in den OP hinüber. Schwester Gerda übernahm es, die Patientin auf den Operationstisch zu betten, und zwar so, daß ihr Kopf entspannt auf einer Stütze zu liegen kam. Es herrschte ein sehr starkes, schattenfreies Licht.

Dr. Hesse trat ein, schon fertig zur Operation gekleidet, in weißem Kittel, weißer Kappe, Mundschutz vor dem Gesicht. Er sah den Schrecken in Gunhilds offenem Auge, sagte beruhigend: „Sie brauchen sich nicht zu ängstigen … ich garantiere Ihnen, Sie werden nicht das geringste spüren.“

Er nahm die aufgezogene Spritze, die Schwester Ethel ihm reichte, führte einen raschen, geschickten Stich rechts vom Auge aus, ließ die betäubende Flüssigkeit auslaufen, zog die Nadel zurück und stach noch einmal, links unterhalb des Auges, ein. Die Spritze war mit einer Mischung von Novocain, das zur Betäubung diente, und Corbasil gefüllt, das die Gefäße zusammenzog und eine gewisse Blutleere bewirkte.

„Das war alles“, sagte er beruhigend, „schlimmer wird es nicht!“

Er wartete fünf Minuten, während denen er noch einmal den Puls der Patientin prüfte. Dann überzeugte er sich, daß die Empfindungsfähigkeit des Auges schon sehr gedämpft war, ließ sich eine zweite Spritze geben. Diesmal injizierte er hinter das Auge und direkt in die Bindehaut hinein.

Während diese Operationsvorbereitungen getroffen wurden, waren Professor Bergmeister und sein Assistent, Dr. Hilpert, schon in den Waschraum getreten. Sie wuschen sich jeder in einer Schüssel mit Desinfektionsflüssigkeit die Hände. Nach den vorgeschriebenen fünf Minuten reichte Schwester Ethel ihnen sterile Tücher zum Abtrocknen, half erst dem Professor, dann Dr. Hilpert in die Operationskittel, die nach hinten geschlossen wurden. Sie setzten sich ihre Kappen fest, banden den Mundschutz vor.

Auf einen Wink des Professors brachte Schwester Gerda noch einmal das Bild der Ablatio Retinae, das mit der Funduskamera vom Auge der Patientin gemacht worden war, hielt es den beiden Ärzten zur Ansicht hin. Der Netzhautriß war millimetergenau festgelegt worden.

Dr. Hesse kam in den Waschraum. „Alle Vorbereitungen getroffen, Herr Professor“, meldete er, „subkonjunktivale Injektionen vor fünf Minuten. Inzwischen volle Wirkung erzielt.“

„Puls?“ – „Zufriedenstellend.“

Professor Bergmeister schien den Bruchteil einer Sekunde zu zögern, dann sagte er: „Also … ich denke, wir können. Stirnlupe bitte, Schwester Gerda!“

Hintereinander traten sie in den OP.

Dr. Hilpert beugte sich über die Patientin, setzte den Lidsperrer ein, den Schwester Ethel ihm übergeben hatte. Das Auge der Patientin war jetzt weit geöffnet, ein Zwinkern oder Zucken war unmöglich. „Bitte, blicken Sie jetzt nach oben“, sagte er eindringlich, „noch höher, wenn es geht … ja, so! Danke!“

Das waren die letzten Worte, die bis zum Ende der Operation gesprochen werden sollten. Da die Patientin nur lokal betäubt, sonst aber bei, wenn auch gedämpftem, Bewußtsein war, wurde in völligem Schweigen gearbeitet. Professor Bergmeister, Doktor Hesse, Dr. Hilpert und Schwester Ethel waren eine eingespielte Mannschaft. Sie brauchten nicht mehr als einen Augenwink, eine winzige Bewegung, um sich untereinander zu verständigen. Alle arbeiteten, um sich die nötige Feinfühligkeit zu bewahren, mit bloßen Händen.

Schwester Gerda hatte Dr. Hilpert eine feine sterile Nadel mit einem Perlonfaden gereicht. Mit zwei, drei Stichen in die Bindehaut befestigte Dr. Hilpert den Faden und fixierte so das Auge.

Das Ende des Fadens behielt er während der ganzen Operation in der Hand.

Professor Bergmeister warf einen fragenden Blick zu dem Anästhesisten hinüber, der den Finger am Puls der Patientin hatte. Dr. Hesse nickte unmerklich.

Ein haarscharfes, sehr feines Skalpell in der Rechten, beugte sich der Professor über das jetzt bloßgelegte Auge der Patientin.

Ohne zu zögern, setzte er es an, zog einen feinen Schnitt durch die Bindehaut. Im selben Augenblick begann das Auge unvermutet stark zu bluten. Eine kleine Ader war getroffen worden.

Dr. Hilpert warf den Kopf herum und starrte den Anästhesisten an. War es möglich, daß er vergessen hatte, das bluthemmende Corbasil zu spritzen?

Aber Dr. Hesse stand ganz ruhig, zuckte kaum merklich die Schultern.

Ohne einen Wink des Professors abzuwarten, hatte Schwester Ethel ihm eine winzige silberne Klemme gereicht. Alle starrten gebannt auf die schmalen, beweglichen Hände des Professors, sahen aufatmend, wie er die durchschnittenen Enden der Ader fand, sie, eine nach der anderen, abklemmte. Dann band er beide Enden mit einem Faden ab, entfernte die Klemmen.

Der erste Schnitt lag jetzt offen und ohne Blutung frei.

Mit Bewunderung stellte Dr. Hilpert fest, wie behutsam Professor Bergmeister sich durch Orbitagewebe und Augenmuskeln bis zu der Stelle vorarbeitete, wo die Ablösung lag. Dann legte er die Skleralexzision an, nahm die Diathermienadel zur Hand, betätigte den Fußschalter. Er umstichelte den Riß von außen und hinten, riegelte ihn dadurch ab, so daß er nicht mehr weiterreißen konnte. Er vermied es dabei mit äußerster Vorsicht, die Netzhaut mit der Pinzette anzurühren, weil sie überaus empfindlich war. Er wußte, sie würde sich später von selbst wieder anlegen. Um ein gutes Anliegen der normalerweise lose aufliegenden Netzhaut zu erreichen, legte er rings um die Rißstelle winzige Stiche und damit Entzündungsherde an. Die Netzhaut sollte auf diese Weise mit der Unterlage verwachsen.

Auf einen Wink reichte ihm Schwester Ethel wieder das schmale Skalpell. Mit einem zweiten raschen Schnitt führte er eine sichelförmige Exzision der Sklera durch. Die Blutung war diesmal nur schwach und ließ rasch nach. Professor Bergmeister entfernte das herausgenommene Stückchen Lederhaut mit der Pinzette. Schwester Ethel reichte ihm eine sehr dünne Nadel, in die ein steriles Frauenhaar gefädelt war.

Mit zarten Stichen nähte er die beiden Schnittstellen der Lederhaut aneinander und erreichte so eine Bulbusverkürzung. Durch die Verkleinerung des Augapfels sollte die Spannung, der die Netzhaut ausgesetzt war, vermindert werden.

Er entfernte die Fäden, mit denen er das durchschnittene Äderchen abgebunden hatte, ohne daß eine stärkere Blutung auftrat.

Dann richtete er sich aufatmend hoch.

Die Stille, die während der letzten Minuten nur durch das Geräusch des Diathermieapparates unterbrochen worden war, schien plötzlich nicht mehr quälend. Die lastende Spannung löste sich

Alle wußten, die Operation war beendet.

Schweigend wandte Professor Bergmeister sich um und verließ den Operationsraum. Dr. Hilpert sah ihm sekundenlang nach: er schien noch gebeugter als sonst, eine schmale, von Verantwortung niedergedrückte Gestalt.

Dr. Hilpert wandte sich der Patientin zu, zog sanft, jede Zerrung vermeidend, den Faden aus der Bindehaut, mit der er das Auge in seiner unnatürlichen Stellung fixiert hatte, entfernte die Lidsperre.

Die Patientin murmelte etwas Unverständliches, zwinkerte ein wenig, schloß das Auge. Man hörte ihre tiefen Atemzüge.

„Sie ist eingeschlafen“, stellte Dr. Hesse fest, „der Puls ist zufriedenstellend.

„Ausgezeichnet!“ Dr. Hilpert wartete noch einen Augenblick, sah zu, wie Schwester Ethel das sterile Tuch vom Kopf der Patientin nahm. Gunhilds entspanntes, jetzt im Schlaf fast kindliches Gesicht kam zum Vorschein.

„Ich glaube, Sie können sie jetzt nach oben bringen“, sagte Doktor Hesse, „aber jemand muß bei ihr bleiben, bis sie aufwacht …“

„Aber selbstverständlich, Herr Doktor!“ sagte Schwester Ethel und gab sich keine Mühe zu verbergen, daß sie diese Anweisung, ihr, der erfahrenen Schwester gegenüber, für durchaus überflüssig hielt.

Dr. Hilpert trat in den Waschraum hinaus, wo Professor Bergmeister sich gerade von Schwester Gerda aus dem Operationskittel helfen ließ. Er wirkte sehr müde, nahm Brille mit Stirnlupe ab, strich sich mit der Hand über die Augen.

„Soviel ich weiß, haben Sie noch zwei Eingriffe heute morgen?“ fragte er.

„Ja, Herr Professor. Eine Splitterextraktion und ein Glaukom.“

„Ich hätte Sie gern gesprochen …”

Dr. Hilpert warf unwillkürlich einen Blick auf die große weiße Uhr, die in die Wandkacheln eingelassen war.

„Nicht jetzt“, sagte Professor Bergmeister rasch, „ich will Sie um Gottes willen nicht aufhalten …“

„Ich denke, ich werde nach elf Uhr fertig sein. Wenn es Ihnen recht ist …“

„Ja, bitte“, sagte Professor Bergmeister mit einem schwachen Lächeln, „ich erwarte Sie in meinem Arbeitsraum.“

Als Dr. Hilpert den Waschraum verließ, sah er die Mutter der Patientin und Gabriele Zerling beieinanderstehen. Frau Wigand war so blaß, daß das Rouge, das sie sich auf die Wangen gelegt hatte, sich hart gegen ihre blutlose Haut abzeichnete. Alle Tünche schien gleichsam von ihrem heute früh noch so sorgfältig zurechtgemachten Gesicht abgebröckelt zu sein.

Gabriele Zerling sah ihn sofort, sie hatte auf ihn gewartet. „Herr Doktor, bitte …“, sagte sie und machte einen Schritt zur Mitte des Ganges hin.

Er zog, seltsam berührt durch ihre unerwartet förmliche Anrede, die Augenbrauen hoch. „Ja …?“

„Herr Doktor, könnten Sie Frau Wigand bitte sagen, wie die Operation verlaufen ist? Sie macht sich solche Sorgen.“

Dr. Hilpert wandte sich der Mutter der Patientin zu und setzte ein Lächeln auf, von dem er selber spürte, daß es allzu berufsmäßig wirkte. „Aber dazu ist gar kein Grund vorhanden, gnädige Frau“, sagte er beruhigend.

Frau Wigand rang die mit kostbaren Ringen geschmückten Hände. „Kein Grund? Wie können Sie das sagen! Was haben Sie mit meinem armen Kind gemacht! Ich habe es gesehen, wie es herausgefahren wurde … wie tot lag es da! Dabei hatte Professor Bergmeister mir doch versichert, daß die Operation nur mit lokaler Betäubung durchgeführt werden sollte.“

„Ist ja auch geschehen. Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen zu machen, gnädige Frau … die Patientin ist einfach eingeschlafen.“

„Eingeschlafen?“

„Ja. Das ist nichts Ungewöhnliches. Immerhin sind ja doch einige Kubikzentimeter Beruhigungs- und Betäubungsmittel seit gestern abend in ihren Kreislauf gespritzt worden.“ Er nickte den beiden Frauen zu und wollte weitergehen. Er hatte das dringende Bedürfnis, in den wenigen Minuten, die ihm bis zur nächsten Operation, die er selber durchführen mußte, blieben, noch eine Zigarette zu rauchen und eine Tasse Kaffee zu trinken.

„Bitte“, sagte Gabriele rasch, „Frau Wigand möchte so gerne wissen, ob die Operation gut verlaufen ist. Sagen Sie ihr doch etwas … erzählen Sie, was geschehen ist!“

„Genau das, war vorgesehen war“, sagte er, ohne seine Ungeduld zu verbergen. „Professor Bergmeister hat Ihnen das doch schon erklärt, gnädige Frau. Wenn Sie meinen Rat hören wollen … Sie sollten jetzt nach Hause gehen und sich erholen. Damit Sie heiter und ausgeruht sind, wenn Sie mit Ihrer Tochter sprechen … das wird frühestens heute nachmittag der Fall sein. Guten Tag.“ Er ging mit großen Schritten davon.

Im Schwesternzimmer hatte die junge Gerda ihm schon eine Tasse Kaffee aufgegossen. „Endlich, Herr Doktor“, sagte sie, „es bleiben nur noch fünf Minuten bis zur Extraktion.“ Sie lächelte, während sie ihm eingoß. „Dafür ist der Kaffee aber wenigstens nicht mehr so heiß, daß Sie sich die Kehle verbrennen können!“

Er zündete sich eine Zigarette an. „Es ist gut, Sie lächeln zu sehen, Gerda“, sagte er, „Sie sind ein Lichtblick in meinem Leben.“

Sie wurde ein wenig rot, sagte: „Sie sollten nicht solche Späße machen, Herr Doktor … eines Tages könnte ich Sie ernst nehmen, und dann würden Sie einen schönen Schrecken bekommen!“

„Glauben Sie?! Da schätzen Sie mich aber ganz falsch ein!“ Er packte sie mit der linken Hand im Nacken und schüttelte sie leicht.

„Entschuldigen Sie … es tut mir leid, wenn ich störe!“ sagte Gabriele Zerling scharf. Sie hatte die angelehnte Tür aufgestoßen und war in das Schwesternzimmer getreten.

„Aber durchaus nicht“, sagte Dr. Hilpert ohne Verlegenheit und nahm einen Schluck Kaffee.

Schwester Gerdas Röte hatte sich noch vertieft. Sie murmelte, daß sie dringend in den OP müßte, und stob davon.

„Deshalb hattest du es also so eilig!“ sagte Gabriele ironisch.

„Allerdings. Und wenn du jemals eine wirkliche Ärztin werden solltest, wirst du verstehen lernen, daß man hin und wieder eine kleine Stärkung nötig hat.“

„Einen Flirt?“

„Nein. Eine gute Tasse Kaffee. Aber ich finde es äußerst reizvoll, daß du eifersüchtig bist.“

„Ach, bilde dir doch nur keine Schwachheiten ein“, sagte sie wütend und drehte sich um.

„Nicht so eilig“, rief er, „jetzt, nachdem du mir Schwester Gerda, o all mein Glück, sowieso vertrieben hast, kannst du ruhig noch bleiben.“

„Sehr gnädig“, sagte sie böse, blieb aber dennoch stehen.

„Was hast du dir eigentlich gedacht, mich eben auf dem Gang zu siezen? Soll das etwa heißen, daß alles, was bisher zwischen uns gewesen ist, nichts gilt?“

„Du weißt genau, daß das nicht der Fall ist!“ Gabrieles große dunkle Augen sprühten. „Aber das bedeutet für mich noch lange nicht, daß ich es jedem auf die Nase binden muß.“

„Aha, ich verstehe“, sagte er ernsthaft, „ich bin in deinen Augen wohl nicht standesgemäß?“

Sie stand, die ganze zierliche Person gespannt, mit geballten Fäusten vor ihm. „Mußt du mich immer ärgern?“

Er lachte. „Immer nicht. Aber von Zeit zu Zeit ist es ganz erfrischend.“

„Ach du!“ Plötzlich siegte ihr Sinn für Humor, sie mußte lachen.

„Du bist eine der bezauberndsten Frauen, die mir je begegnet sind“, sagte er ernsthaft, „ich hätte sehr große Lust, dich zu küssen. Aber leider …“, er drückte seine Zigarette aus, leerte den Rest der Kaffeetasse mit einem Zug, „leider ruft die Pflicht.“

Zwei Stunden später saßen sich Professor Bergmeister und sein Assistent an dem niedrigen Tisch in dem hellen Untersuchungszimmer des Professors gegenüber. Der Professor hatte sich und seinem jungen Kollegen ein Glas Kognak eingeschenkt. Jetzt nahm er sich eine Zigarette aus der silbergefaßten Tischdose, und Dr. Hilpert beeilte sich, ihm Feuer zu geben.

„Ich muß die Wahrheit wissen“, sagte Professor Bergmeister eindringlich, „schonen Sie mich nicht … die volle Wahrheit, verstehen Sie?!“

„Ja, Herr Professor“, erwiderte Dr. Hilpert zögernd. Er konnte nicht verbergen, daß er sich unbehaglich fühlte.

Professor Bergmeister sah ihn durch den bläulichen Rauchschleier mit einem verstehenden Lächeln an. „Ich begreife natürlich durchaus, daß Ihnen diese Aufgabe unangenehm ist, Norman“, sagte er, „aber an wen könnte ich mich schon wenden, wenn nicht an Sie?“

„Wenn Sie wirklich wünschen, daß ich Sie untersuche“, erklärte Dr. Hilpert mit Überwindung, „ich bin natürlich bereit.“

„Es kommt mir nicht so sehr auf Ihre Untersuchung an wie auf Ihre ehrliche Diagnose. Also, bitte, machen wir es gleich. Ich möchte es hinter mir haben.“ Professor Bergmeister drückte seine eben angerauchte Zigarette aus, erhob sich.

Auch Dr. Hilpert stand auf. „Hatten Sie in letzter Zeit … Beschwerden, Herr Professor?“ fragte er.

„Augenschmerzen, ja. Heute, nach dieser Netzhautoperation, waren sie wieder besonders stark. Aber mehr noch gibt mir zu denken, daß ich in den letzten sechs Monaten die Dioptrien meiner Brillengläser zweimal habe erhöhen müssen.“

Dr. Hilpert schwieg.

„Ich nehme an, es ist Ihnen nicht entgangen“, fügte Professor Bergmeister mit leichter Bitterkeit hinzu, „wie nahe ich mich beim Operieren herabbücken muß.“

„Und wie ist es beim Lesen?“ fragte Dr. Hilpert sachlich.

„Geht fast besser ohne Brille. Allerdings muß ich alles etwa fünf Zentimeter dicht vor die Augen halten.“ Nach einer kleinen Pause setzte er hinzu: „Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß das alles streng unter uns bleiben muß. Ein Chirurg, der im Verdacht steht, daß seine Augen versagen, ist erledigt.“

Dr. Hilpert hatte das Gefühl, etwas Beruhigendes sagen zu müssen. „Ich bin sicher, Herr Professor, daß Ihre Befürchtungen zumindest übertrieben sind.“

„Na, wir werden ja sehen“, sagte Professor Bergmeister mit einem Lächeln, das seinem Assistenten Bewunderung abnötigte.

Hintereinander traten sie durch die Milchglastür in den Dunkelraum für optische Geräte.

„Ich denke, wir ersparen uns fürs erste die Spaltlampe“, sagte der Professor, „das Ophthalmoskop dürfte genügen.“ Er setzte sich in den Untersuchungsstuhl. „Wir können beginnen, Kollege. Das Gerät ist gebrauchsfertig.“

Dr. Hilpert zog seinen Stuhl nahe an den des prominenten Patienten heran, nahm den Augenspiegel in die Hand, schaltete mit einem Druck auf den Knopf die Beleuchtung ein. „Bitte, Brille abnehmen!“ sagte er.

„Na, so etwas!“ Der Professor lachte nervös. „Hundertmal hat man das seinen Patienten gesagt, und wenn man selber an der Reihe ist, vergißt man es.“ Er nahm die Brille ab, legte sie auf den in Reichweite stehenden „Famulus“, den weißlackierten kommodenartigen Kasten, der seine ärztlichen Instrumente enthielt.

Seine Augenpartie wirkte jetzt, ohne Brille, eingefallen, er sah in dem Dämmerlicht des Raumes mit einem Schlag wesentlich älter aus.

„Überhaupt“, fuhr er fort, während er sich bemühte, die Augen weit zu öffnen, um Dr. Hilpert die Untersuchung zu erleichtern, „es ist ein merkwürdiges Gefühl, so ausgeliefert dazusitzen … vielleicht ganz gut, das wieder mal am eigenen Leib zu erleben.“

Dr. Hilpert hatte zuerst das linke Auge gespiegelt. „Netzhaut ziemlich dünn“, sagte er, „aber sonst keine krankhaften Veränderungen.“ Es war seiner Stimme anzuhören, wie sehr er selber über diese Feststellung erleichtert war.

„Ausgezeichnet.“ Professor Bergmeister sprach, als wenn es nicht um ihn selber ginge. „Bei meiner starken Kurzsichtigkeit war es ja zu erwarten, daß die Netzhaut auf die Dauer fadenscheinig wird. Da der Bulbus länger gewachsen ist, wird sie ständig über Gebühr gedehnt.“

„Ein ganz bekanntes Symptom“, bestätigte Dr. Hilpert.

„Ich werde mir also keinerlei körperliche Anstrengungen leisten können“, fuhr der Professor fort, „wenn ich nicht Gefahr laufen will, daß sie reißt.“ Er lachte leicht auf. „Aber das wird mich keine Überwindung kosten. Sportler bin ich nie gewesen.“

Dr. Hilpert war zur Untersuchung des rechten Auges übergegangen. Er spiegelte lange und sorgfältig, ohne ein Wort zu sagen.

„Nun, was ist?“ fragte Professor Bergmeister ungeduldig.

„Ja, leider“, sagte Dr. Hilpert zögernd, „hier sieht es schon schlechter aus.“

„Was heißt das? Wollen Sie sich nicht, bitte, genauer ausdrücken?“ fuhr der Professor auf. „Entschuldigen Sie“, fügte er abschwächend hinzu, „aber Sie werden verstehen, daß ich doch ein bißchen nervös bin. Also, was ist?“

Dr. Hilpert schaltete das Licht im Augenspiegel aus, legte das Gerät zur Seite. „Herr Professor …“

„Keine Umschweife! Heraus mit der Wahrheit! Was haben Sie entdeckt?“ Professor Bergmeister tastete nach seiner Brille, setzte sie wieder auf.

„Eine zarte Blutung in der Netzhaut und … ein Degenerationsherd im Maculabereich.“

Professor Bergmeister erhob sich so abrupt, als wenn er das enge Beisammensein mit seinem Assistenten plötzlich nicht mehr ertragen könnte. Auch Dr. Hilpert stand auf, sah, wie der Professor mit großen Schritten in dem halbdunklen Raum auf und ab ging.

„Also ist es doch so, wie ich es mir gedacht hatte“, sagte Professor Bergmeister endlich, und seine Stimme klang wieder ganz gefaßt, „die Macula, die Stelle des schärfsten Sehens, ist angegriffen. Das bedeutet … Erblindung. Früher oder später.“ Er lachte ohne Fröhlichkeit. „Immerhin habe ich die Genugtuung, ein guter Diagnostiker zu sein.“

„Man kann versuchen, den Vorgang aufzuhalten“, gab Doktor Hilpert zu bedenken.

„Mit Vitamin A? Mit Priscoltropfen? Mit Replaserol?“

„Ja.“

„Es müßte ein Wunder geschehen, wenn das noch helfen sollte. Aber Sie haben natürlich recht. Ich werde es versuchen.“ Professor Bergmeister blieb dicht vor Dr. Hilpert stehen. „Ich danke Ihnen, daß Sie mir die Wahrheit gesagt haben, Kollege.“

„Es tut mir unendlich leid, daß sie nicht günstiger ausgefallen ist.“

„So? Tut es Ihnen wirklich leid? Oder sind Sie nicht auch der Ansicht, daß ich mir dieses Leiden selber zuzuschreiben habe?“

Dr. Hilpert war ehrlich verblüfft. „Aber wie kommen Sie denn darauf, Herr Professor?“

„Na, waren Sie es denn nicht, der mich unentwegt vor meinen Selbstversuchen mit Lichtkoagulation gewarnt hat? Oder wollen Sie etwa behaupten, Sie sähen darin nicht die Ursache meiner Erblindung?“

Dr. Hilpert fand nicht auf Anhieb eine Antwort. Dann, nach sekundenlangem Zögern, sagte er: „Ich halte es für möglich … sogar für wahrscheinlich, daß diese Selbstversuche sich schädigend auf Ihre Netzhaut ausgewirkt haben oder, genauer gesagt, daß sie den Degenerationsvorgang beschleunigt haben. Auf keinen Fall aber halte ich sie für die alleinige Ursache. Eine Disposition zu dieser Erkrankung war ganz gewiß vorhanden.“

„Es wäre also theoretisch möglich, daß der Zustand meiner Augen auch ohne Lichtkoagulationen sich genauso entwickelt haben könnte?“

„Darüber, Herr Professor, kann ich mir kein Urteil erlauben. Eines jedoch muß ich mit allem Nachdruck sagen, als Ihr Arzt, als Ihr Schüler und als Ihr Mitarbeiter … Sie müssen diese Selbstversuche ab sofort einstellen.“

„So? Muß ich das? Na, fürs erste, glaube ich, muß ich noch einen Kognak trinken, um mich von dem Schrecken zu erholen …“

Professor Bergmeister wandte sich ab und ging zur Tür. Als sie wieder in dem hellen Arbeitsraum standen, goß der Professor sich selber und seinem Assistenten im Stehen noch ein Glas ein.

„Wir Ärzte sind meistens schlechte Patienten“, sagte er lächelnd, „und ich mache da keine Ausnahme. Sie mögen mit allem recht haben, was Sie sagen, aber ich kann noch nicht aufhören. Ein einziger Versuch fehlt mir noch. Der wichtigste.“ Er leerte sein Glas in einem Zug. „Ich will versuchen, auf einer ganz bestimmten, genau fixierten Stelle im Augenhintergrund einen Entzündungsherd anzulegen. Aber ich verspreche Ihnen, mein intaktes Auge dazu zu benützen.“

„Und wenn es leidet? Wenn es ebenfalls versagt? Herr Professor, sind Sie sich ganz im klaren, was das bedeuten würde?“

„Ja. Es würde beweisen, daß Lichtkoagulation nicht oder doch nur in sehr begrenztem Maß anwendbar ist.“

„Das auch. Aber das meine ich nicht. Solange wenigstens das eine Auge noch ausreichend funktionsfähig ist, können Sie als Augenchirurg arbeiten, wenigstens noch einige Jahre … vielleicht sogar länger. Wenn es aber ausfällt …“

„… sind Sie immer noch da, der meine Arbeit fortsetzen kann. Und dann Michael. Es genügt, wenn ich so lange auf dem Posten bleibe, bis er mit seinem Studium fertig ist.“

„Wenn Sie auch Ihr anderes Auge aufs Spiel setzen, bezweifle ich, daß Ihnen das gelingen wird, Herr Professor …“

Professor Bergmeister hob die schmale, blasse Hand. „Nicht, bitte nicht! Gefühlsmäßige Einwände bekomme ich zu Hause genug zu hören. Ich hatte gehofft, Sie wären imstande, den Fall als Wissenschaftler zu beurteilen.“

„Ich bin in erster Linie Arzt und fühle mich deshalb verantwortlich …“

Professor Bergmeister ließ seinen Assistenten nicht aussprechen. „Als Arzt müßten Sie begreifen können, welche ungeheure Bedeutung darin liegt, ob ich meine Versuchsreihe … und mit welchem Resultat ich sie abschließen kann … eine ungeheure Bedeutung für alle Augenkranken. Was hat ein Einzelschicksal wie das meine im Vergleich damit für ein Gewicht?“

Michael Bergmeister überhörte das erste, sachte Klopfen an der Tür seines Zimmers. Er hockte mit überkreuzten Beinen mitten auf dem Teppich, hatte sein Grammophon vor sich gestellt und lauschte mit voller Aufmerksamkeit einer kleinen, aber sehr effektvoll instrumentierten Melodie.

Erst als es das zweitemal pochte, hob er den Kopf, nahm mit einer hastigen Bewegung den Tonarm ab, sagte: „Herein.“

Es war seine Stiefmutter, die eintrat, und Michael erhob sich langsam, ohne den Blick von ihr zu wenden. Sie war attraktiv wie immer, in einem sanft anliegenden grünen Jerseykleid, das die aufregende Farbe ihrer schräg stehenden Augen noch unterstrich. Das seidige blonde Haar hatte sie sich in schimmernden Bahnen um den Kopf gelegt.

„Tut mir leid, wenn ich dich störe“, sagte sie und stürmte in den kleinen Raum, „aber ich muß dich unbedingt sprechen …“ Er wich unwillkürlich einen Schritt von ihr zurück. „Ja, bitte?“ fragte er unsicher.

„Setz dich doch!“ befahl sie. „Los! Steh nicht so ’rum!“ Sie setzte sich auf die Kante seines Schreibtisches, schlug die schlanken, schön geformten Beine übereinander.

Er zog sich einen Stuhl heran, schwang sich rittlings darauf, sah sie, Arme und Kinn auf die Lehne gestützt, unverwandt an.

„Warum fragst du denn nichts?“ sagte sie nervös. „Interessiert es dich gar nicht, was ich von dir will?“

„Doch. Sehr sogar“, sagte er mit einem Lächeln, das ihn plötzlich seinem Vater sehr ähnlich machte. „Aber ich nehme an, du wirst es mir schon sagen.“

„Ekel!“ Vera blähte die Flügel ihrer kleinen, sehr geraden Nase. „Warum bist du eigentlich in letzter Zeit so … so sonderbar zu mir? Ich habe dir doch nie was getan!“

„Ist es das, was du wissen möchtest?“ entgegnete er ruhig.

„Ach was. So interessant, wie du dir einbildest, bist du gar nicht.“

„Danke.“

„Wahrscheinlich sind es bei dir … verspätete Pubertätsjahre.“

Er zuckte mit keiner Wimper. „Auch eine Erklärung“, sagte er nur.

„Entschuldige. Ich wollte dich nicht kränken. Manchmal sage ich Sachen, die ich nicht einmal denke. Blöd, nicht wahr? Geht es dir nie so?“

Er zog es vor, diese Frage nicht zu beantworten. „Was willst du also?“ fragte er beherrscht.

„Mit dir über deinen Vater sprechen!“

„Ach!“ Er hob die dunklen, ausdrucksvollen Augenbrauen.

„Was scheint dir daran so absurd?“ fragte sie hitzig.

„Nun, wenn ich ehrlich sein soll … ich finde es geradezu anmaßend.“

„Anmaßend! Aber ich bin seine Frau, und du bist sein Sohn, wir haben durchaus das Rech …“

„… uns in Vaters ureigenste Angelegenheiten zu mischen?“

„Aber du weißt ja noch gar nicht, wovon ich rede! Dein Vater ist auf dem besten Wege, sich zu ruinieren. Wahrscheinlich ist es dir noch nicht aufgefallen … das würde mich gar nicht wundern, du kümmerst dich ja schon seit langem um nichts mehr, was in diesem Haus vor sich geht … aber tatsächlich werden seine Augen von Woche zu Woche schlechter. Er versucht es natürlich vor mir zu verbergen … nicht nur vor mir, sondern vor aller Welt … aber wie lange wird ihm das gelingen? Ich habe ihn längst durchschaut, aber das wäre ja noch nicht das Schlimmste. Sobald seine Patienten merken, was mit ihm los ist, ist er erledigt.“

„Du kennst Vater schlecht“, sagte Michael ruhig, „wenn er nicht mehr imstande ist, zu operieren, wird er es von selber aufgeben. Er hat in seinem ganzen Leben noch niemals verantwortungslos gehandelt.“

„Aber das macht doch keinen Unterschied!“ Vera schrie es fast heraus. „Ob er freiwillig abgeht oder ob man ihn zwingt … das Resultat bleibt doch dasselbe! Er ist erledigt.“

„Du übertreibst. Seine Professur wird man ihm deshalb nicht nehmen … und ich kann dir versichern, daß er auf der Uni allgemein sehr geschätzt wird.“

„Was nützt das schon“, sagte sie bitter, „was glaubst du, wie weit wir mit einem Professorengehalt reichen würden?“

„Du müßtest dich einschränken“, sagte er mit leisem Spott, „ich weiß, das wäre natürlich scheußlich für dich …“

„Einschränken! Wenn das alles wäre!“ sagte sie wild. „Kannst du dir wirklich nicht vorstellen, was es für uns alle … was es für ihn selber bedeuten würde, wenn er nicht mehr sehen kann?“

Zum erstenmal senkte Michael den Blick. „Doch. Natürlich. Du hast recht“, sagte er, „das wäre natürlich entsetzlich.“

„Endlich!“ Vera rutschte vom Schreibtisch, zog sich ihren Rock an den Hüften herunter. „Du bist also wie ich der Meinung, daß es nicht geschehen darf. Sprich also mit ihm darüber, mach ihm klar …“

„Worüber soll ich mit ihm sprechen?“ fragte er verständnislos.

„Daß er endlich seine verdammten Selbstversuche aufgibt. Du weißt doch, um was es sich handelt … diese Lichtkoagulation oder wie das heißt. Das ist es, was seine Augen ruiniert. Du mußt ihn dahin bringen, daß er es aufgibt.“

Michael schwang sich von seinem Stuhl, begann, die Hände in den Taschen seiner ausgebeulten Cordhose, im Zimmer auf und ab zu gehen. Dabei stieß er mit einem ungeduldigen Fußtritt das Grammophon, das ihm im Wege stand, zur Seite. „Das kann ich nicht“, sagte er und fuhr sich mit der Hand über das kurzgestutzte Haar, „beim besten Willen, Vera … das ist unmöglich.“

Sie vertrat ihm den Weg. „Und warum, wenn ich fragen darf?“

„Vera, sieh mal … du weißt doch, wie Vater mich immer behandelt hat. Seit Mutter tot ist, hat er mir jede Freiheit gelassen. Er war immer der Ansicht, daß jeder Mensch seine eigenen Dummheiten machen, sich selber seinen Weg durchs Leben suchen müßte … aber warum erzähle ich dir das alles! Du hast es ja selber miterlebt.“

„Und? Ich begreife nicht, was du gerade jetzt damit willst.“

„Hör auf, dich dümmer zu machen, als du bist. Die Schlußfolgerung liegt doch auf der Hand. Ein Vater, der seinem Sohn die Freiheit läßt, für sich selber zu entscheiden … der kann doch zumindest dasselbe Recht von seinem Sohn erwarten?“

„Du willst mir also nicht helfen?“

Er wich dieser Frage aus. „Zum Beispiel meine Musik“, sagte er. „Als ich zehn war, wollte ich unbedingt Klavier spielen lernen. Ich kriegte mein Klavier und meinen Unterricht. Mit fünfzehn hing es mir zum Hals ’raus, und Vater erlöste mich von der Plage. Mit siebzehn gierte ich nach einem Saxophon. Ich bekam es. Vater hat mir immer eine Menge gute Lehren gegeben, um die ich mich in den seltensten Fällen gekümmert habe. Auch mit meinem Eintritt in die Studentenjazzband war er einverstanden …“

„Aber Michael, ich bitte dich“, unterbrach sie ihn ungeduldig, „was soll das? Das sind doch alles Belanglosigkeiten. Vater …“

Diesmal war er es, der ihr ins Wort fiel. „Du findest meine Musik also völlig belanglos?“

„Aber nein, Michael, so habe ich das nicht gemeint.“

„Doch. Du hast es genauso gemeint, wie du es eben gesagt hast.

Wahrscheinlich wird es dich wahnsinnig wundern zu erfahren, daß es andere Menschen gibt, Fachleute, die ganz anderer Ansicht sind.“

„Wer?“

„Nun, Herr Winterstein, Produktionsleiter einer bekannten Plattenfirma, zum Beispiel.“

„Na ja“, sagte sie und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, „solche Leute loben gern, solange es sie nichts kostet.“

„Aber es hat ihn was gekostet. Er hat eine Platte von mir machen lassen. Was sagst du jetzt?“

Sie war ehrlich beeindruckt. „Tatsächlich?“

„Da staunst du, was?“ Er lachte jungenhaft. „Willst du sie hören?“

„Du machst Witze.“

„Nein. Gar nicht. Ich hatte sie gerade aufgelegt, als du kamst.“

Er hockte sich zu Boden, beugte sich über das Grammophon, hob den Tonarm, fragte, während die Platte schon zu kreisen begann: „Soll ich?“

„Natürlich.“

Er setzte den Arm behutsam auf, und sofort ertönte eine sehr rhythmisch temperamentvolle Musik.

„Was ist das?“ fragte Vera. „Twist?“

„Ach wo. Madison. Paß nur auf … gleich komme ich!“

Fast im gleichen Augenblick ertönte Michael Bergmeisters Stimme aus dem Apparat, fremd und doch sehr bekannt, eine sehr musikalische, aber ungekünstelte, eher harte Stimme.

Vera lauschte. Der Text war banal. Ein Loblied auf den Modetanz Madison in der Skihütte, im Strandhotel und bei der Hochzeitsfeier. Dennoch fühlte Vera sich zu ihrer eigenen Verwunderung seltsam berührt. Es war ihr, als wenn sie sich an etwas erinnern müßte, etwas sehr Schönes, das sie längst vergessen hatte.

Ganz unerwartet wurde die zweite Strophe von einer warmen Mädchenstimme gesungen. Mit einem Schlag war Vera ernüchtert.

„Wer ist das?“ fragte sie.

Mit einem Mißton brach die Melodie ab.

Michael hatte den Apparat abgestellt. Er erhob sich, sagte fast feindlich: „Eine Kommilitonin. Monika Ebers.“

„Und sie singt auch?“

Er zuckte die Achseln. „Hört sich fast so an.“

„Muß ich mir deine Frechheiten eigentlich dauernd gefallen lassen?“ rief sie zornig.

Er grinste freudlos. „Wird dir wohl nichts anderes übrigbleiben. Schließlich hast du dich freiwillig entschlossen, mein Stiefmütterchen zu werden.“

Sie drehte sich abrupt um, ging zur Tür.

Aber sie verließ das Zimmer noch nicht, blieb auf der Schwelle stehen und fragte über die Schulter zurück: „Ich erwarte also, daß du mit deinem Vater sprichst!“

„Herrgott!“ Er griff sich an die Stirn. „Und ich dachte, ich hätte dir unmißverständlich klargemacht, daß ich weder will noch kann. Begreifst du denn nicht, daß Vater durchaus imstande ist, selber über sein Tun und Lassen zu entscheiden?“

Wortlos verließ sie das Zimmer, schlug die Tür mit einem harten Knall hinter sich zu.

Michael warf sich der Länge nach auf seine Couch, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte zur Decke. Er preßte die Lippen zusammen. Seine Augen waren dunkel vor Qual.

Von Beginn ihrer Ehe an hatten Professor Bergmeister und seine junge Frau getrennte Schlafzimmer benutzt. Vera schlief morgens gern aus, frühstückte im Bett und legte großen Wert darauf, auch vor ihrem Gatten nie anders als gepflegt und zurechtgemacht zu erscheinen.

Anfangs hatte Professor Bergmeister das bedauert, inzwischen aber hatte er sich längst damit abgefunden, ja, er empfand es angenehm, wenigstens ein Zimmer in seinem Haus zu haben, in dem er sich ganz ungestört bewegen konnte. Er schlief seit Jahren schlecht, und es wäre ihm peinlich gewesen, Vera durch seine Unruhe zu stören. Manchmal stand er morgens schon um sechs oder sogar um fünf Uhr auf, ging in seine Bibliothek hinunter, um an seinen Vorlesungen zu arbeiten oder sich auf bevorstehende Operationen vorzubereiten.

Auch seine Selbstversuche, die er vergebens geheimzuhalten versucht hatte, führte er in den frühen Morgenstunden aus.

Er traf dann meist schon in der Augenklinik ein, wenn noch der Nachtportier Dienst hatte, eilte durch die spärlich beleuchteten Gänge an übermüdeten, ehrfurchtsvoll grüßenden Krankenschwestern vorüber, mußte oft eine der Putzfrauen aus seinem Untersuchungszimmer scheuchen.

Das Gerät zur Lichtkoagulation war in einem eigenen kleinen Raum, einer ehemaligen Dunkelkammer, aufgestellt, die er immer streng verschlossen hielt. Er hatte es in Zusammenarbeit mit dem technischen Leiter einer Firma für optische Geräte selber entwickelt, immer neue Verbesserungen daran einbauen lassen.

Auf einen Laien würde es mit seiner starken Lampe, seinen verschiedenen, sehr kompliziert angeordneten Linsen und seiner seltsamen Kopfstütze, die fast an ein mittelalterliches Folterinstrument erinnerte, einigermaßen erschreckend gewirkt haben. Aber Professor Bergmeister betrachtete es liebevoll. Es war seine Erfindung, sein Kind, ein Gerät, das zum Segen der Menschheit dienen sollte.

Auch an jenem Morgen, als er es zu seinem endgültig letzten Selbstversuch einstellte, erfüllte ihn die Berührung mit Schräubchen, Schrauben und Hebeln mit einem seltsamen Hochgefühl.

Es war nicht einfach, das Gerät so einzustellen, daß gebündeltes Licht gerade jene Stelle im Hintergrund seines linken Auges traf, auf die es ihm ankam. Es wäre sehr viel leichter für ihn gewesen, wenn er wenigstens diese Arbeit einem Assistenten überlassen hätte.

Aber er hatte von Anfang an darauf verzichtet – nicht aus Eitelkeit, um den möglichen Erfolg ganz allein für sich buchen zu können, sondern weil er Dr. Hilpert nicht eine Verantwortung aufbürden wollte, die er unmöglich tragen konnte. So hatte er den Ausweg gefunden, eine ganz besondere Art von Kopfstütze konstruieren zu lassen.

Sie sah aus wie eine metallene Halbmaske, die in Augenhöhe ovale Löcher hatte. In das linke dieser Löcher legte Professor Bergmeister jetzt eine augapfelgroße, lichtdurchlässige Kunststoffkugel, die ihm als Modell zur Einstellung diente.

Es dauerte eine ganze Weile, bis es ihm gelungen war, die Lichtstrahlen so zu dirigieren, daß sie sich in einem nadelspitzfeinen Punkt, an einer genau fixierten Stelle, im Hintergrund des Auges trafen.

Als er endlich soweit war, hämmerte sein Herz – vor Aufregung, vor Beklemmung, vor Stolz. Der kleine Raum hatte keine Fenster, die Luft war zum Ersticken.

Er nahm die Kugel aus der Maskenhöhle, schaltete das optische Gerät aus, setzte sich auf den Stuhl hinter der Kopfstütze, legte sein Kinn ein. Seine Augen waren jetzt genau in Höhe der Löcher.

Er betätigte einen Schalter, den er an einem Verlängerungskabel in der Hand hielt. Die Lampe leuchtete auf. Das Strahlenbündel traf sein linkes Auge.

Unwillkürlich kniff er geblendet die Lider zusammen. Dann zwang er sich, sie wieder aufzureißen. Er sah starr auf einen Punkt, den er an dem optischen Gerät mit weißer Kreide gekennzeichnet hatte, hielt das Auge weit geöffnet, damit das Licht durch die Pupille in den Augenhintergrund eindringen konnte.

Qualvolle Sekunden verstrichen. Ein nie gekannter, eisenharter Druck begann sich um seine Brust zu legen. Die peinigende, überdeutliche Vorstellung ergriff von ihm Besitz, daß er dabei war, sein eigenes Augenlicht von diesen unbarmherzigen Strahlen zerstören zu lassen.

Bisher, wenn seine Frau oder sein Assistent ihn gewarnt hatten, hatte er es mit einem Lächeln abtun können. Er hatte sich dabei überlegen, fast heldenhaft gefühlt.

Jetzt, urplötzlich, Auge in Auge mit der Gefahr, begriff er, daß das, was ihn bedrohte, ihm bisher nie deutlich, nie vorstellbar gewesen war. Erblindung – das war ein Schicksal, das jeden anderen, aber nicht ihn selber treffen konnte.

Aber er hatte sich belogen. Die Gefahr war da. Sie war greifbar, fühlbar, unmittelbar bevorstehend. Er war ihr ausgeliefert, hing als sein eigenes Opfer hilflos in der selbst konstruierten Klammer, während das grausame kalte Licht sich in seinen Augapfel hineinfraß. – „Nein!“

Professor Bergmeister wußte später nicht, ob er wirklich geschrien hatte oder ob dieser qualvolle Laut schon in seiner Kehle erstickt war.

Er wollte das Licht ausschalten, seine Finger gehorchten ihm nicht mehr, mit einer gewaltigen Anstrengung riß er das Kabel heraus.

Das Licht erlosch. Dunkelheit umfing ihn, erlösende Dunkelheit. Er seufzte erleichtert auf, preßte die Handballen vor die schmerzenden Augen.

Dann, voll Entsetzen, ließ er die Hände sinken, versuchte mit den Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Vergeblich. Pechschwarze Nacht umgab ihn.

Sein Verstand arbeitete fieberhaft. Wie war das möglich? Er erinnerte sich doch genau. Als er die Lampe einschaltete, hatte doch die übliche gedämpfte Beleuchtung in der kleinen Kammer geherrscht, sonst hätte er doch gar nicht die nötigen Vorbereitungen treffen können. Wie kam es dann –

Er war unfähig, den Gedanken bis zum Ende zu verfolgen. Eine entsetzliche Gewißheit überfiel ihn – er war erblindet!

Mit den Augen der Liebe

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