Читать книгу Verbotene Liebe - Liebesroman - Marie Louise Fischer - Страница 4
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ОглавлениеMit einem tiefen Seufzer der Erleichterung zog Sabine Kortner die letzte Seite aus ihrer Schreibmaschine. Sie legte die numerierten Blätter zusammen und las den ganzen Brief noch einmal sorgfältig durch. Ein einziger Tippfehler hätte bedeutet, daß sie die betreffende Seite noch einmal hätte abschreiben müssen, denn Rechtsanwalt Dr. Brettschneider duldete keine Verbesserungen. Zum Glück aber war alles in Ordnung.
Sie heftete das Original und die Durchschläge zusammen, legte sie in die Unterschriftenmappe, warf einen Blick auf ihre Armbanduhr – es war sechs Uhr vorbei – und begann ihren Schreibtisch aufzuräumen. Sie stand auf, dehnte und reckte sich, um die verkrampften Glieder zu lösen, trat zu einem der Fenster und öffnete beide Flügel weit.
Straßenlärm drang in das große Vorzimmer der Anwaltskanzlei hinauf, in dem sie tagsüber mit drei anderen Mädchen zusammen arbeitete. Wie schon so oft, hatte Dr. Brettschneider auch heute Sabine als letzte zurückbehalten, weil noch etwas Wichtiges zu erledigen war. Sie war stolz darauf, aber jetzt schmerzte ihr der Kopf.
Sabine freute sich auf die starke Tasse Tee, die ihre Mutter ihr zu Hause aufbrühen würde. Dann früh ins Bett mit einem guten Buch.
Einen Augenblick lang sah sie zum abendlichen Himmel hinauf, der sich wie eine riesige blaßblaue Glocke über München dehnte. Es war erstaunlich warm, denn der Herbst sollte laut Kalender schon in wenigen Tagen beginnen.
Die Tür des Chefzimmers öffnete sich. Sabine ging zurück zu ihrem aufgeräumten Schreibtisch und ergriff die Unterschriftenmappe. Während Dr. Brettschneider seinen Klienten, Peter Hartmann, auf den engen Flur hinausbegleitete, legte sie die Mappe auf den riesigen Mahagonischreibtisch im Chefzimmer.
„Ich bin fertig, Herr Doktor“, sagte Sabine Kortner, als Dr. Brettschneider zurückkam.
Er erwiderte ihr Lächeln mit zerstreutem Blick. „Ich weiß, daß ich mich auf Sie verlassen kann, Sabine. Sie können jetzt Feierabend machen. Bis morgen!“
„Bis morgen“, sagte sie – aber da hatte der Chef die Tür schon hinter sich zugezogen.
Sabine Kortner riß hastig ihren leuchtend blauen Regenmantel aus dem Garderobenschrank und nahm ihre Handtasche. Sie nahm sich nicht einmal die Zeit, einen Blick in den Spiegel zu werfen. Fast fluchtartig verließ sie die Kanzlei, denn sie wußte aus Erfahrung, daß Dr. Brettschneider trotz allem guten Willen imstande war, sie noch im letzten Moment zurückzurufen. Sie hastete zum Fahrstuhl. Im Treppenhaus des alten Bürogebäudes brannte Licht.
Erst im letzten Moment entdeckte Sabine ihn. Peter Hartmann. Sie verhielt unwillkürlich den Schritt und errötete bei der Vorstellung, daß er glauben könnte, sie hätte sich nur deshalb so beeilt, weil sie ihn noch erreichen wollte. Aber er schien sie gar nicht zu beachten. Er stand in Gedanken versunken vor der Tür des Fahrstuhlschachts. Sabine betrachtete ihn verstohlen.
Peter Hartmann war ein gutaussehender junger Mann mit einer sportlichen, breitschultrigen Figur, sonnverbrannter Haut und schwarzen, mühsam gezähmten Locken, nußbraunen Augen und blendend weißen Zähnen.
Er drückte ungeduldig auf den Knopf, der den Fahrstuhl herbeiholen sollte. „Braucht das verdammte Ding denn immer so lange?“
„Sie können ja zu Fuß gehen, wenn es Ihnen zu lange dauert“, sagte sie kühl.
Er hatte mehr zu sich selber gesprochen, darum wandte er sich mit leichtem Erstaunen um und betrachtete Sabine mit gerunzelter Stirn. „Keine schlechte Idee!“
Er wollte sich schon auf den Weg zur Treppe machen, als der Aufzug rasselnd näher kam und mit einem Stöhnen hielt.
„Na also“, brummte Peter Hartmann, „warum nicht gleich so?“
Er öffnete das knarrende Gitter und ließ Sabine in die altmodische Kabine einsteigen.
Sie legte den Zeigefinger auf einen Knopf des Schaltbretts. „Erdgeschoß?“ fragte sie, nachdem Peter Hartmann Gitter und Kabinentür hinter sich zugezogen hatte.
„Na klar!“ antwortete er mürrisch.
Sabine drückte, und der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung.
Sie fühlten plötzlich beide die Intimität des Beisammenseins in der Enge des kleinen Käfigs und wurden verlegen. Angestrengt starrten sie aneinander vorbei gegen die holzgetäfelten Wände. Ich hätte doch noch in den Spiegel sehen sollen, dachte sie. Wahrscheinlich sehe ich schauderhaft aus.
Und er dachte: Wenn ich mich bloß erinnern könnte, wie die Kleine heißt . . .
Der Käfig hielt mit einem Ruck, der beide ein wenig aus dem Gleichgewicht brachte.
„Nanu?“ sagte er. „Sind wir schon unten?“
Sie tat einen kleinen zitternden Atemzug. „Ich glaube nicht.“
„Was soll das heißen?“ Er riß die beiden inneren Türen der Kabine auseinander. Vor ihm lag ein Stück verwitterter Mauer. Es war, als grinsten ihm die Backsteine höhnisch entgegen.
„Wir sind steckengeblieben“, sagte Sabine gefaßt.
Er drehte sich zu ihr um und fauchte wütend, als wäre sie die Schuldige: „Kommt so was öfter vor?“
„Manchmal“, antwortete sie belustigt.
„Verdammter Mist!“
„Regen Sie sich nicht auf. Sie brauchen bloß auf den Alarmknopf zu drücken, dann weiß der Hausmeister Bescheid!“
Er preßte seinen Daumen auf den Alarmknopf.
„Sie müssen richtig drücken“, sagte sie. „Bis das rote Licht aufleuchtet!“
„Versuchen Sie’s doch mal!“
Sie tat es. Aber nichts geschah.
Sie sahen sich beide erschrocken an.
„Scheint auch kaputt zu sein“, sagte er schließlich und stellte seine Aktentasche auf den Boden.
„Aber . . . das ist doch nicht möglich!“ Jetzt verlor auch sie ihren Humor.
„Bei so einem alten Kasten ist alles drin . . .“
„Ich . . . das tut mir leid“, sagte sie verwirrt.
Zum erstenmal sah er sie voll an und stellte fest, daß das Mädchen mit dem schmalen offenen Gesicht, den großen blauen Augen und dem schulterlangen aschblonden Haar auf eine unauffällige Art hübsch war. Sehr hübsch sogar.
„Das ist doch nicht Ihre Schuld“, sagte er in verändertem Ton.
„Es tut mir trotzdem leid.“ Sie drückte ihre Handtasche vor die Brust.
„Mir auch! Mein alter Herr wird schön toben, wenn ich nicht rechtzeitig mit den Unterlagen zurück bin!“ Er deutete auf seine Aktentasche.
Sie wich seinem Blick aus. „Mutti wird sich Sorgen machen.“
„Ist sie so ängstlich?“
„Leider. Mein Vater . . .“ Sie stockte.
„Na, was ist mit Ihrem Vater?“ Er sah lächelnd auf sie herab. Unfaßbar! dachte er. Ich war schon vier- oder fünfmal in Brettschneiders Kanzlei. Aber dieses Mädchen ist mir bisher nie aufgefallen. Wahrscheinlich weil sie so still und bescheiden ist. Eine stille Schönheit . . .
„Mein Vater ist vor ein paar Jahren auf der Heimfahrt von seiner Arbeitsstelle tödlich verunglückt“, sagte sie leise und blickte zu Boden. „Seitdem hat meine Mutter ständig Angst, auch mir könnte etwas zustoßen. Ich bin das einzige Kind . . .“
Sie sah ihn ernst aus ihren großen blauen Augen an. „Was können wir tun, um hier herauszukommen?“
„Ich fürchte . . . nichts!“ Er konnte seinen Blick von ihrem Gesicht nicht lösen.
Sie wurde sofort wieder verlegen. „Sie meinen, wir müssen einfach warten?“
„Was denn sonst?“ Sie ist zauberhaft, dachte er.
„Wir könnten gegen die Wände schlagen und schreien . . .“
„Ist um diese Zeit überhaupt noch jemand im Haus?“
„Dr. Brettschneider!“
„Also warten wir, bis er seine Kanzlei verläßt. Er wird ja dann merken, daß mit dem Aufzug etwas nicht in Ordnung ist.“ Sie sieht so schutzbedürftig aus, dachte er. Wie ein Engel in der Hölle. Bin ich der Teufel in ihren Augen?
„Hoffentlich“, sagte sie und senkte die Handtasche, die sie wie einen Schild vor ihrer Brust gehalten hatte.
„Bestimmt“, erklärte er und legte mehr Zuversicht in seine Stimme, als er fühlte. Nein, sie hält mich nicht für den Teufel, stellte er befriedigt fest. Sie vertraut sich mir an . . . „Überlegen wir, wie wir uns die Zeit so gut wie möglich vertreiben können. Habe ich mich überhaupt schon vorgestellt?“
„Ich weiß doch, wie Sie heißen.“ Sie lächelte verschämt, und dieses Lächeln gab ihrem klaren Gesicht einen besonderen Reiz.
„Ach ja, natürlich.“ Er spürte, daß das Eis langsam schmolz.
„Aber Sie können sich nicht mehr an meinen Namen erinnern, nicht wahr, Herr Hartmann?“ Sabine sah ihn jetzt an.
„Müßte ich das?“
„Überhaupt nicht. Ich gehöre ja nicht zu Ihren Kreisen“, versuchte sie zu scherzen.
„Gibt es das denn noch? Kreise, meine ich. Wir gehören doch alle zusammen zum arbeitenden Teil der Menschheit.“ Er grinste vergnügt, meinte aber, was er sagte.
„Nur mit dem Unterschied, daß Sie, Herr Hartmann, in der Firma Ihres Vaters arbeiten, die Sie später übernehmen werden . . . während ich immer Anwaltssekretärin bleiben werde. Was natürlich nicht heißen soll, daß ich mich beklagen will. Ich wollte Ihnen nur klarmachen, daß Sie eben doch in eine andere Welt gehören.“ Sabine war merkwürdig ernst geworden.
Er aber lachte. „Wirklich? Das Schicksal scheint nicht Ihrer Ansicht zu sein, sonst hätte es uns nicht zusammen eingesperrt . . . Sabine! Nicht wahr, so heißen Sie?“
Sie errötete leicht. „Sie haben es also doch behalten!“
„Ihr Name ist mir plötzlich wieder eingefallen . . . Sabine! Paßt gut zu Ihnen!“
„Sabine Kortner.“
„Ich nehme es zur Kenntnis, werde aber trotzdem bei Sabine bleiben. Und Sie nennen mich Peter, ja?“ Sein Blick fiel auf die nackte Mauer des Fahrstuhlschachts. Er zog die beiden Innentüren der Kabine wieder zu.
„Eine scheußliche Situation!“ Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Es geht schon auf halb sieben zu!“
In diesem Augenblick leuchtete ein Lämpchen am Schaltbrett auf. Sabine rief: „Dr. Brettschneider!“ Wie auf Kommando begannen sie an die Wände zu hämmern und um Hilfe zu rufen.
Dr. Richard Brettschneider war ein Anwalt der alten Schule. Obwohl er als juristischer Berater von bedeutenden Industrieunternehmungen glänzend verdiente, hielt er es für unnötig, seine Kanzlei im vierten Stock des alten, wenig repräsentativen Gebäudes aufzugeben und in ein modernes Bürohaus überzusiedeln. Die hohen geräumigen Zimmer mit den stuckverzierten Decken und den schweren alten Möbeln wirkten vertrauenerweckend, hatte er im Lauf der Jahre festgestellt.
Aber an diesem Abend erkannte Dr. Brettschneider, daß der Fahrstuhl des alten Hauses durchaus kein Vertrauen verdiente. Der Anwalt ging wie immer zur Aufzugstür und drückte auf den Rufknopf. Als sich nichts rührte, er aber dumpfes Poltern und Rufen von unten vernahm, dachte er: Wieder kaputt, das Ding! Na, immerhin versuchen sie schon, es zu reparieren.
Er stieg verdrossen die Hintertreppe hinunter, die am anderen Ende des langen Ganges lag, und verließ das Haus durch den Hinterausgang zum Hof, wo sein Wagen parkte. Ehe er noch die Autotür aufschloß, hatte er den defekten Fahrstuhl schon vergessen.
Sabine Kortner und Peter Hartmann klopften und riefen etwa drei Minuten lang, dann hielten sie erschöpft inne und sahen sich fragend an.
„Vielleicht hat er uns gar nicht gehört“, befürchtete sie.
„Kann schon sein“, bestätigte er. „Das Solideste an der ganzen Aufzugsanlage scheint die Kabine hier zu sein. Wahrscheinlich sogar schalldicht.“
Sabine betrachtete im schwachen Licht der Kabinenlampe ihre geröteten Hände.
„Vielleicht hat Brettschneider auch nicht begriffen, was der Lärm bedeutet . . .“ Peter Hartmann legte beide Hände auf ihre Schultern. „Sabine. Sie haben doch gesagt, daß der Aufzug schon öfter steckengeblieben ist! Wissen Sie, woran das liegt?“
„Ich glaube, die Gittertüren auf den einzelnen Stockwerken funktionieren nicht richtig. Manchmal, wenn der Fahrstuhl an solch einer Tür vorbeifährt, drückt er die Tür ein bißchen auf, und irgendein elektrischer Kontakt wird unterbrochen. Der Fahrstuhl bleibt dann mitten im Schacht stecken.“
Er rieb sich nachdenklich das Kinn. „So ähnlich habe ich mir das vorgestellt.“
„Und?“ Sie blickte ihn mit weitgeöffneten Augen an. „Hilft uns das weiter?“
„Vielleicht hat Brettschneider die geöffnete Tür bemerkt . . .“
„Ja!“ rief Sabine aus, von neuer Hoffnung wie elektrisiert. „Vielleicht hat er sie geschlossen!“
„Versuchen wir es“, sagte er wenig überzeugt und drückte auf den Knopf, der den Aufzug in Richtung Erdgeschoß in Bewegung setzen sollte. Nichts rührte sich. Er drückte auf sämtliche Knöpfe, der Aufzug stand wie eingemauert.
„Nichts“, sagte Sabine enttäuscht. „Was machen wir jetzt?“
„Es handelt sich um ein reines Bürohaus, nicht wahr?“ fragte er. „Also keine Aussicht, daß jemand um diese Zeit noch hinaufoder hinunterfahren will?“
Sie schüttelte stumm den Kopf.
„Dann, liebe Sabine“, sagte er und versuchte die bittere Pille durch ein herzliches Lächeln zu versüßen, „dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als uns auf eine lange Nacht vorzubereiten.“
In ihren blauen Augen stand blankes Entsetzen. „Sie meinen, wir müssen die ganze Nacht in diesem Käfig verbringen?“
Er zog sie sacht an sich. „Wäre das denn so schlimm? Ich finde nicht. Wir hätten Gelegenheit, uns näher kennenzulernen . . .“
Sie riß sich mit einer jähen Bewegung los. „Nein!“ rief sie „Nein! Ich . . . Nein, das halte ich einfach nicht aus!“
Er trat so weit von ihr zurück, wie es in dem kleinen Raum nur möglich war. „Wenn Ihnen meine Anwesenheit so unangenehm ist . . .“
„Aber das hat doch gar nichts mit Ihnen zu tun! Es ist nur . . . die ganze Situation! Ich habe schon jetzt das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.“ Sie griff sich zum Hals.
Selbst bei der schwachen Kabinenbeleuchtung fiel ihm auf, wie blaß sie war. Ihre schönen blauen Augen waren unnatürlich groß. „Sabine!“ sagte er erschrocken. „Um Gottes willen – ist Ihnen nicht gut?“
Sie zwang sich zu einem Lächeln, das ihr schmales weißes Gesicht noch rührender machte. „Seien Sie mir nicht böse, bitte . . . Aber ich habe das Gefühl, als wenn ich gleich in Ohnmacht fallen würde. Alles wird so . . . so dunkel!“
Ihre weitgeöffneten Augen wurden blicklos, sie taumelte. Er konnte sie gerade noch rechtzeitig auffangen. Bewußtlos lag sie in seinen Armen.
Sekundenlang stand er wie erstarrt, spürte die Wärme ihres jungen Körpers, konnte den Blick nicht von dem weißen Antlitz wenden. Er mußte sich zwingen, nicht ihren halbgeöffneten Mund, der einer aufgesprungenen roten Rose glich, zu küssen. Er ließ sie vorsichtig zu Boden gleiten, lehnte ihren Oberkörper gegen eine Wand und zog mit einer fast schamhaften Bewegung den Rock herunter, der die hübschen Knie des Mädchens freigegeben hatte.
„Sabine!“ rief er, „Sabine!“ Er hielt ihren Kopf unter dem Kinn und schlug ihr sanft auf die Wangen, um sie ins Bewußtsein zurückzubringen. Aber ihr Kopf pendelte haltlos hin und her. Er öffnete ihre Handtasche mit einer Hand und fand, was er suchte: ein Fläschchen Eau de Cologne. Er tränkte ihr Taschentuch damit, rieb ihr die Schläfen ein und redete voll Sorge auf sie ein.
„Sabine, Liebes, mach die Augen auf! Bitte! Ich bin ja bei dir! Es kann dir nichts passieren! Komm wieder zu dir . . . bitte!“
Ganz allmählich kehrte wieder Farbe in ihre Wangen zurück. Als sie die blauen Augen aufschlug und ihn erkannte, glaubte er, den wunderbarsten Augenblick seines Lebens zu erleben.
„Sabine!“ rief er. „Endlich!“
„Es tut mir so leid . . . ich . . .“
„Bitte, sei jetzt . . . seien Sie jetzt still, ganz still!“ Er wagte nicht, weiter du zu ihr zu sagen. „Atmen Sie tief durch, ja? Es ist Luft genug in dem alten Käfig! Sie müssen nur atmen, dann ist Ihnen gleich wieder besser!“
Sie rang gehorsam nach Luft. „Es ist schon wieder gut“, sagte sie. „So etwas Blödes! Das ist das erstemal, daß mir das passiert!“
„Klar“, sagte er erleichtert, „es gehört ja auch nicht zur Tagesordnung, daß man in einem alten Klapperkasten von Aufzug stekkenbeibt.“ Er zog sich seine Jacke aus.
„Was machen Sie denn da?“ fragte sie verständnislos.
Er lächelte auf sie herab. „Ich versuche, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.“ Er legte die Jacke zusammen und schob sie ihr unter den Kopf. „Sie haben jetzt einen Polster, und ich kann mich frei bewegen!“
„Wozu? Ich verstehe nicht . . .“
„Ich habe eingesehen, daß man eine halbe Portion wie Sie unmöglich eine ganze Nacht lang in einem Aufzug schmachten lassen kann! Deshalb starte ich jetzt zur Befreiungsaktion!“ Er hatte sich die Krawatte vom Kragen des weißen Hemdes gezogen und schlang sie ihr um den Hals. „Da! Als Andenken!“
Er tastete mit den Händen die Decke der Kabine ab. „Hier muß es doch irgendwo . . . Ah, da ist sie schon! Die Ausstiegsluke!“ Er sah zu ihr herab. „Ich habe da eben eine Nagelfeile in Ihrer Handtasche gesehen . . .“
„Ja, natürlich...“ Sie suchte kurz in ihrer Tasche. „Hier!“
Er bückte sich zu ihr hinab und nahm die Nagelfeile entgegen.
„Ich werde jetzt die Schrauben lösen und nach oben aussteigen . . . Nur keine Angst, ich lasse Sie nicht im Stich! Wenn ich erst draußen bin, ist es nur noch eine Sache von Minuten, Sie zu befreien!“
Sie sah, wie er an der Luke in der Kabinendecke die erste Schraube löste, die zweite . . . Plötzlich erlosch das Licht.
„Verdammter . . .“ Peter schluckte den Rest.
„Was ist passiert?“ flüsterte Sabine angstvoll.
„Nichts. Irgendein Idiot muß am Hauptschalter gewesen sein.“
„Was nun?“ drang Sabines Stimme aus der Finsternis.
„Notbeleuchtung!“ Peter Hartmann ließ sein Feuerzeug aufflammen. „Kommen Sie! Halten Sie mal!“ Er faßte sie am Oberarm und half ihr beim Aufstehen.
Sie nahm das brennende Feuerzeug, und Peter löste die beiden restlichen Schrauben.
„So, das hätten wir“, sagte er und drückte den Deckel der Ausstiegsluke nach oben ab. „Nun noch ein Klimmzug . . . Mal sehen, ob ich das auf meine alten Tage noch schaffe!“
„Aber ist denn das nicht gefährlich?“
„Nicht die Spur. Sehen Sie, ich lege den Schalter für den Nothalt um – so! Jetzt kann wirklich nichts passieren!“
Sie trat dicht an ihn heran. „Peter, bitte . . .“
„Wenn ich Glück habe“, sagte er sehr laut, um eine leichte Verlegenheit zu überspielen, „erwische ich den Verschlußriegel der nächsten Außentür vom Kabinendach aus. Sonst muß ich eben noch ein wenig höher klettern.“
„Peter“, sagte sie, „wenn Ihnen etwas zustößt . . .“
Er sah ihr zärtlich in die Augen, „Wäre es sehr schlimm?“
„Peter, bitte, bleiben Sie hier, lassen Sie den Unsinn! Ich fühle mich schon wieder ganz gut . . . Und wir werden die Nacht schon irgendwie . . .“
Er lächelte jungenhaft. „Irgendwie?“ fragte er. „Wie denn?“
„Peter!“
„Wenn ich noch länger hier mit Ihnen eingesperrt bin, kann ich für nichts garantieren.“ Er grinste. „Also auf in den Kampf!“
Er mußte dreimal ansetzen, bis es ihm gelang, sich hochzuziehen. Das Feuerzeug in Sabines Hand zitterte, während sie ihm zusah. Die Kabine wackelte bedenklich, als er sich auf das Dach schwang. Wenn ihm nur nichts passiert, dachte sie. Mein Gott! Wenn ihm etwas zustößt, bin ich schuld daran!
Sie sah ihn vor sich, zerschmettert, blutüberströmt.
Er steckte den Kopf durch die Luke.
„Das Feuerzeug, bitte!“
Sie reichte es ihm vorsichtig hinauf. Sein Kopf verschwand aus der Öffnung. Einen Augenblick stand sie still in der Dunkelheit. Dann bückte sie sich, tastete nach seiner Jacke, hob sie auf und drückte sie ans Herz. Lieber Gott, betete sie, beschütze ihn . . .
Die Befreiung war nicht so einfach durchzuführen, wie Peter Hartmann sich das gedacht hatte. Er mußte feststellen, daß die Kabine so ungünstig stand, daß er den Verschlußriegel der nächsten Tür nicht ohne weiteres erreichen konnte.
Die Seile waren ölig, verschmiert, sie boten keinen Halt. Er drehte die Düse des Feuerzeuges auf. Die zischende Flamme gab genug Licht, aber er mußte sich beeilen. Das Gas konnte nicht mehr lange reichen. Er stellte das Feuerzeug auf einen kleinen Mauervorsprung und zog sich am Gitter der Tür hoch, das er gerade noch erreichen konnte.
Das Schwerste war, den Riegel der Tür zu öffnen, denn er konnte dazu nur eine Hand benutzen. Mit der anderen mußte er sich festhalten. Seine Füße fanden in einem kleinen Loch, das er in der Wand entdeckte, kaum Halt.
Das Lächeln verging ihm. Er atmete durch die zusammengebissenen Zähne. Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn.
Endlich ließ sich der Riegel zurückschieben, er konnte die Tür aufstoßen, sich hinausschwingen. Keuchend holte er Luft. Seine Finger schmerzten. Er wurde sich bewußt, daß er es keine Sekunde länger ausgehalten hätte. Aber stärker als der nachträgliche Schrecken war das befreiende Gefühl des Sieges.
Er legte beide Hände vor den Mund und rief in den Aufzugschacht hinunter: „Sabine!“
„Ja?“ Ihre Stimme klang klein und fern.
„Ich habe es geschafft, Sabine! Ich versuche jetzt, die offene Tür zu finden!“ Er drückte sorgfältig die Gittertür zum Schacht zu. Die Flamme des Feuerzeugs erlosch. Aber nur einen Augenblick lang herrschte Finsternis. Dann flammte plötzlich das Licht im Treppenhaus auf, und eine rauhe Stimme dröhnte: „Was treiben Sie denn hier?“
Er fuhr herum, sah sich einem glatzköpfigen Mann gegenüber, der mit einem Knüppel bewaffnet war.
„Darf ich fragen, mit wem ich die Ehre habe?“ Peter war ganz ruhig.
„Ich bin der Hausmeister . . .“
„Dann, lieber Mann“, sagte Peter und wischte sich die Hände an seinem Taschentuch sauber, so gut es ging, „kümmern Sie sich um den Aufzug! Wir sind zwischen zwei Stockwerken steckengeblieben!“
Der Hausmeister entgegnete wütend: „Das können Sie alles der Polizei erzählen!“
In seine Worte hinein drang aus dem Fahrstuhlschacht Sabines ängstliche Stimme. „Peter! Peter, wo sind Sie?“
Der Hausmeister lauschte verblüfft, strich sich verlegen über die Glatze und murmelte: „Scheinen ja tatsächlich recht zu haben . . .“
„Beeilen Sie sich, Mann!“ drängte Peter Hartmann.
Kurze Zeit später schon fand der Hausmeister den Grund der Panne, und zwei Minuten danach hielt der Fahrstuhl im Erdgeschoß, wo Peter Hartmann sehnsüchtig wartete. Er riß die äußere Gittertür auf, und Sabine flog ihm entgegen. Er legte seine Arme um sie, und Sabine drückte ihren Kopf gegen seine Brust.
Eine noch nie gefühlte Seligkeit erfüllte Peter, als ihr schmaler, warmer Körper sich an ihn schmiegte. Er hoffte, daß dieser Zustand nie enden möge.
„Danke“, hauchte Sabine und drückte ihre weichen Lippen gegen seine Wange, dann löste sie sich schnell.
Verlegen schaute sie jetzt zu Boden, wandte sich um und holte ihre Handtasche, ihren blauen Regenmantel, Peters Jacke und Aktentasche aus der Fahrstuhlkabine.
„Ach, Sie sind es, Fräulein Kortner“, machte sich der Hausmeister bemerkbar.
Sabine sah ihn an und begann zu lachen. „Gut beobachtet, Herr Mühlau!“ Sie wunderte sich, daß sie keinen Groll gegen ihn empfand. „Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, säße ich noch immer in dem Käfig.“
„Tut mir leid, aber ich wußte doch nicht . . .“
„Schon gut“, unterbrach Peter ihn. „Kann ich mir bei Ihnen die Hände waschen?“
In der Wohnung des Hausmeisters bürstete er sich auch die Hose sauber, aber die breiten schwarzen Ölspuren auf dem weißen Hemd ließen sich nicht beseitigen.
„Sabine, geben Sie mir bitte meine Jacke und die Krawatte.“ sagte er.
Sabine schüttelte schelmisch den Kopf. „Die Krawatte behalte ich!“ Sie wickelte sie sich übermütig um den Hals.
Peter mußte lachen. „Ich gebe zu, sie steht Ihnen besser als mir. Außerdem haben Sie sie wirklich verdient.“
Er zog sich die Jacke über und blickte dann prüfend an sich herunter. Die Schmutzflecken am Hemd waren verdeckt. Sabine reichte ihm seine schmale Aktentasche.
„Und was machen wir mit dem angebrochenen Abend?“ fragte er gutgelaunt, als sie sich von dem Hausmeister verabschiedet hatten und vor einem roten Porsche standen. Es war Peters Wagen.
„Ich weiß nicht . . .“ erwiderte Sabine unsicher.
„Aber ich weiß!“ bestimmte Peter lachend. Er öffnete die Tür zum Beifahrersitz.
Da verwarf Sabine alle Bedenken. Sie dachte zum ersten Male nicht an ihre Mutter, die zu Hause auf sie wartete, voller Angst, der Tochter könnte etwas passiert sein. Sabine ließ sich auf den niedrigen Ledersitz gleiten und steckte Peters Krawatte in ihre Manteltasche.
„Was haben Sie denn vor, Peter?“ fragte sie bescheiden, aber doch voller Erwartung.
„Wir fahren in einen Biergarten“, erklärte er und ließ den Motor des offenen Sportwagens an. „Da läßt man mich auch ohne Krawatte hinein . . .“
Sabine lachte leise auf. Ich glaube, ich bin verliebt, zum erstenmal in meinem Leben richtig verliebt, dachte sie selig.
Sie fuhren in dem offenen roten Porsche durch den dichten Münchener Abendverkehr, über den Stachus, am Hauptbahnhof vorbei, bogen ab in die Arnulfstraße. Es war ein herrliches Gefühl für Sabine. Sie sah Peters kräftige Hände am Lenkrad, sein beherrschtes männliches Gesicht, und sie fühlte sich sicher in seiner Nähe.
Für einen Augenblick keimte die Hoffnung in ihrem Herzen, Peter möge sie das ganze Leben lang begleiten und beschützen. Aber sofort wischte sie diesen Hoffnungsschimmer weg. Ich darf nicht träumen, ermahnte sie sich.
Peter stellte den Sportwagen auf dem Parkplatz des Biergartens ab. „Vielleicht finden wir einen etwas ruhigen Platz“, sagte er, während sie sich zwischen den ersten vollbesetzten Tischen hindurchschlängelten.
An diesem warmen Spätsommerabend war hier Hochbetrieb. Man war fröhlich und laut, aß goldbraune Brathähnchen, danach einen Rettich, genannt „Radi“, und trank Bier.
Vollbusige Serviererinnen in Dirndlkleidern transportierten in jeder Hand vier Tonkrüge und schafften sich mit Kommandostimme Platz.
Peter und Sabine fanden am Rand einer Hecke einen kleineren Tisch, der leer war. „Wie für uns geschaffen!“ meinte Peter, legte seine Aktentasche mit den Unterlagen des Rechtsanwalts auf einen Stuhl, nahm Sabine den blauen Regenmantel ab und legte ihn darüber. „Bitte, setzen Sie sich, Sabine.“
Er winkte einer Serviererin und bestellte zwei Maß Bier und zwei halbe Brathähnchen.
„Ist doch recht?“ fragte er Sabine. Sie nickte.
Die Serviererin ging. Sabine und Peter saßen sich gegenüber. Die unbekümmerte Fröhlichkeit war verflogen. Eine merkwürdige Beklemmung herrschte zwischen ihnen. Die Beklemmung zweier Menschen, die sich noch scheuen, ihre Gefühle zu zeigen. Gefühle, die noch so jung und verletzbar . . .
„Mit dem Wetter haben wir aber Glück“, sagte Peter, als er spürte, daß die wortlose Pause unerträglich lang wurde.
„Ja“, antwortete Sabine. „Der Sommer ist uns ja auch noch einiges schuldig.“
Peter nickte. Dann war wieder eine Pause. Sabines schöne lange Hände lagen in einer nervösen Spannung auf der Tischplatte, fast verkrampft. Ihre Augen waren gesenkt.
Peter fühlte, daß sie das gleiche empfand wie er. Aber auch sie fand die richtigen erlösenden Worte nicht.
„Sie sind Chefsekretärin bei Brettschneider?“ begann er das Gespräch wieder.
„Wir sind zu viert in der Kanzlei . . .“
„Aber unter den vieren sind Sie die Erste?“
„Ich weiß nicht . . .“
„Sabine, seien Sie doch nicht so bescheiden!“ Peter sah das zarte Lächeln, das sich um ihren schön gezeichneten Mund legte. „Macht Ihnen die Arbeit denn Spaß?“
„Ja, sehr. Ich wollte mal selbst Anwältin werden. Aber da war ich noch sehr jung.“ Ihre Augen wanderten über seine Hände. Er ist nicht verheiratet oder verlobt, dachte sie.
„Warum sind Sie denn nicht Anwältin geworden?“ Peter biß sich auf die Unterlippe. Er hätte die Frage am liebsten wieder ausgewischt.
Aber Sabine antwortete sofort. „Mein Vater kam damals ums Leben. Bei einem Unfall. Da hat meine Mutter mich vom Lyzeum genommen und bei einer privaten Handelsschule angemeldet. Nach einem Jahr habe ich dann die Stellung bei Dr. Brettschneider bekommen.“
„Sie mußten Geld verdienen?“
„Ja, meine Mutter bezieht nur eine kleine Pension. Und sie hatte auch Angst, ihr könnte etwas passieren, und ich wäre dann ganz allein und ohne Beruf.“
„Sie sind das einzige Kind, Sabine?“
„Ja.“
Peter lachte plötzlich auf. „Das ist ja das reinste Verhör!“ Er sah die Serviererin kommen. „Na, dann wollen wir uns erst mal stärken.“ Peter spürte, daß seine Worte zu laut waren. Verflucht, dachte er, was ist denn los mit mir? Ich benehme mich wie ein Primaner.
Er bezahlte und hob dann den Bierkrug. Sabine nahm den ihren in beide Hände.
„Auf unsere wundersame Rettung aus dem Fahrstuhl“, sagte er leise.
„Auf meinen Helden“, entgegnete Sabine, und ein leuchtendes Lächeln glitt über ihr Gesicht.
Für Sekunden sahen sie sich in die Augen. Was für ein Zauberwesen, dachte Peter. Rein und unverdorben. Ohne jede eingelernte Pose. Ganz anders als die auf Hochglanz polierten Mädchen aus dem Tennisclub . . .
Während sie das Hähnchen mit den Fingern aßen, sprachen sie nicht. Manchmal nur, wie zufällig, trafen sich ihre Blicke, aber immer wieder wichen sie einander aus.
„Ich glaube, wir müssen uns die Hände waschen“, sagte Peter, nachdem er sich den Mund mit der Serviette abgewischt hatte. „Und . . . Oje, das habe ich ja ganz vergessen! Ich sollte ja die Unterlagen . . . Schon nach neun Uhr. Mein Vater wird toben! Ich muß gleich mal anrufen. Sabine, bitte entschuldigen Sie . . .“ Er sprang auf und verschwand zwischen den Tischen. Sabine sah ihm nach. Mutti wird schon auf mich warten, dachte sie. Sie hat immer solche Angst um mich. Aber heute ist es mir egal. Es ist so schön, mit ihm zusammen zu sein. Es ist so schön, verliebt zu sein . . .
Frau Gerda Hartmann saß vor dem Fernsehschirm, ganz gebannt von den aufregenden Abenteuern eines amerikanischen Superdetektivs.
Als sie hörte, wie hinter ihr die Zimmertür geöffnet wurde, war es ihr, als setze ihr Herz einen Schlag lang aus. Sie sprang auf und rief entsetzt: „Wer ist da?“
„Ich bin es“, ertönte die sonore Stimme ihres Mannes aus der Dunkelheit.
„O Paul . . . beinahe hast du mich zu Tode erschreckt!“
„Mach den Flimmerkasten aus!“ sagte er gelassen.
Seine Frau gehorchte. Sie wußte, es war besser so. „Wieso bist du überhaupt schon da, Paul? Ich dachte, ihr wolltet heute den Vertragsabschluß machen!“
„Dachte ich auch. Aber wir haben es auf morgen verschieben müssen. Unser Herr Sohn ist samt den Unterlagen verschwunden.“
„Ja, aber hast du denn Dr. Brettschneider angerufen?“
„Habe ich. Dort hat sich niemand mehr gemeldet.“
Frau Hartmann bekam runde Augen vor Entsetzen. „Um Gottes willen . . . dem Jungen wird doch nichts zugestoßen sein?“
„Ausgerechnet Peter? Daß ich nicht lache!“ Herr Hartmann ließ sich schwer in einen Sessel fallen. Er hatte eine erstaunliche Ähnlichkeit mit seinem Sohn. Wenn man ihn betrachtete, konnte man sich leicht vorstellen, wie Peter in dreißig Jahren aussehen würde. Sie hatten beide den gleichen kräftigen Körperbau – wenn der alte Hartmann auch im Lauf der Zeit ein wenig in die Breite gegangen war –, das gleiche dunkle lockige Haar, das bei Herrn Hartmann schon einige weiße Strähnen zeigte, die gleichen nußbraunen Augen. Nur fehlte dem Vater die jungenhafte Herzlichkeit des Sohnes. Seine Lippen waren schmaler, sein Kinn eckiger. Er war vierundfünfzig Jahre alt und stolz auf das, was er erreicht hatte. Der ehemalige Maurer galt heute als einer der reichsten Bauunternehmer Deutschlands. Er hatte es mit Fleiß und Härte geschafft.
„Mach dir keine Sorgen, Gerda“, sagte er, „Peter versteht es schon, auf sich aufzupassen. Schließlich ist er kein Kind mehr, begreife das doch endlich, er ist sechsundzwanzig Jahre alt.“
„Aber mit dem Auto . . .“
„Unsinn!“
Frau Hartmann war fünf Jahre jünger und einen Kopf kleiner als ihr Mann, hatte ein hübsches gepflegtes Gesicht unter dezent blondiertem Haar, dem man ansah, daß sie den Kampf gegen das Altern mit unerschütterlicher Tapferkeit führte.
„Ich vermute eine Weibergeschichte dahinter!“ erklärte Paul Hartmann bestimmt.
Gerda Hartmann wurde nachdenklich. „Du, da werde ich mal Gisela Schneider anrufen!“
„Gisela? Was hat denn die damit zu tun?“
„Ich glaube, Gisela ist genau Peters Typ.“
„Unsinn! Sag lieber, Gisela ist genau der Typ, den du dir als Schwiegertochter wünschst.“
„Du etwa nicht? Schließlich arbeitest du mit ihrem Vater seit Jahren großartig zusammen. Wenn die beiden ein Paar würden, könnte deine Hoch- und Tiefbaugesellschaft sich mit seinem Architektenbüro liieren und . . .“
Herr Hartmann hatte sich eine Zigarre angesteckt. „Hör auf damit, Gerda. Bring mir lieber was zu trinken. Ich habe einen schweren Tag hinter mir.“
„Aber du wirst doch zugeben . . .“
„ . . . daß Gisela eine blendende Partie ist.“
Frau Hartmann ging zur Hausbar des kostspielig eingerichteten Zimmers, schenkte ihrem Mann einen gut bemessenen Kognak ein. „Nicht nur das. Gisela ist auch ein sehr liebes Mädchen. Und sie hat Format! Spielt Tennis, fährt einen eigenen Wagen, trägt nur Modellkleider. Sie studiert und kann über alles sprechen. Und außerdem hat ihr Vater Geld. Peter könnte mit ihr sehr glücklich werden.“
„Aber nur, wenn du endlich aufgibst, die beiden zu verkuppeln.“
Gerda Hartmann reichte ihrem Mann das Glas. „Na, hör mal, Paul. Wärst du denn damit einverstanden, wenn er sich in irgendein hergelaufenes Ding verlieben würde? Ein Mädchen aus kleinen Verhältnissen, vielleicht . . .“
„Ich würde schon Mittel und Wege finden, das zu verhindern.“ Herr Hartmann nahm einen kräftigen Schluck.
„Na also“, sagte sie befriedigt, „dann kannst du auch nichts dagegen haben, daß ich Gisela Schneider anrufe.“
„Tu, was du nicht lassen kannst“, brummte Herr Hartmann.
Seine Frau war schon auf die Diele hinaus zum Telefon gelaufen. Es stand in der Diele, weil Paul Hartmann in seinem Privathaus nirgendwo anders ein Telefon duldete.
Nach einigen Minuten kam Gerda Hartmann wieder. Sie machte ein betrübtes Gesicht. „Nein, Paul, bei Gisela Schneider ist er auch nicht. Er läßt sich überhaupt nicht mehr bei ihr sehen, sagt Gisela . . .“
„Und du willst die beiden verkuppeln!“ brummte Hartmann und blätterte weiter in einer Fachzeitschrift für das Bauwesen.
„Sie passen doch so gut zueinander“, meinte Frau Hartmann beharrlich. „Und Gisela scheint unseren Peter auch sehr gern zu haben. Ich finde . . .“
Ihr Satz wurde vom Schrillen des Telefons abgeschnitten. Paul Hartmann rührte sich nicht. Er wußte, daß seine Frau in jedem Fall schneller war, wenn es sich um das Telefon handelte.
„Es ist Peter!“ rief sie laut von der Diele aus.
Es verging nur kurze Zeit, da erschien sie wieder im Zimmer und setzte sich ihrem Mann gegenüber. „Peter läßt sich entschuldigen. Er sagt, es sei etwas Wichtiges dazwischengekommen.“
„Und was, bitte?“ fragte Hartmann, ohne aufzusehen.
„Das will er uns morgen erklären. Er kommt zum Frühstück.“
Hartmann blätterte weiter. „Wenn es nicht wirklich etwas Wichtiges ist, kann der Junge sich aber auf etwas gefaßt machen.“
„Paul, sei doch froh, daß ihm nichts passiert ist!“ Wie so oft versuchte sie, Peter vor seinem Vater in Schutz zu nehmen.
„Geschäft ist Geschäft!“ erwiderte er kühl. „Fast wäre mir ein Auftrag geplatzt, weil mein Herr Sohn mit den Unterlagen von Dr. Brettschneider nicht zur verabredeten Verhandlung mit den Chemieleuten erschienen ist.“
„Worum geht es denn, Paul?“
„Um einen Bauauftrag von knapp hundert Millionen Mark, mein Schatz!“
Peter kam zurück an den Tisch und setzte sich mit einem Seufzer der Erleichterung. „Das Donnerwetter ist verschoben auf morgen“, sagte er und hob seinen Bierkrug. „Na ja, enterben wird mich der Alte ja nicht gleich. Prost!“
„Ist es denn so schlimm?“ fragte Sabine. „Ich meine, was Sie vergessen haben . . .“
„Es geht um einen Bauauftrag von fast hundert Millionen Mark“, sagte Peter leichthin und stellte den Krug ab.
„Mein Gott!“
„Sabine, lassen wir das. Sprechen wir von etwas anderem.“
„Peter, ich möchte mir auch die Hände waschen. Ich habe gewartet, wegen der Aktentasche mit den Unterlagen . . .“
Ehe er noch etwas sagen konnte, war sie schon weg. Es ist unfaßbar! dachte er. Sie hat mich verzaubert . . . Ich vergesse sogar den Millionenauftrag. Fast zum Lachen . . . Aber es ist ernst, ich spüre es . . . Sie ist das erste Mädchen, bei dem ich das Gefühl habe: Ihr kann ich mich anvertrauen. Sie ist so offen, ohne jede weibliche List . . .
Gedankenverloren starrte er über die Tische des Biergartens. Er hörte nicht das laute Treiben, das röhrende Lachen biergefüllter Männer. Er erwachte erst wieder, als Sabine an den Tisch kam. Sie hatte sich gekämmt und ein bißchen Lippenstift aufgelegt. Keine Schminke war sonst auf ihrem frischen natürlichen Gesicht.
„Jetzt habe ich aber Durst“, sagte sie und erfaßte mit einer Hand den Bierkrug. Über den Rand hinweg sah sie Peter an. Die Lampen des Biergartens spiegelten sich in ihren Augen wie Sterne.
Plötzlich begann der Krug in ihrer Hand zu zittern, drohte umzukippen. Peter griff zu, seine Hand berührte die ihre, blieb auf ihr liegen. Langsam senkte sich der Bierkrug, kam mit einem dumpfen Laut auf dem Tisch zum Stehen. Aber ihre Hände lagen noch immer zusammen, und ihre Augen hielten noch immer einander fest.
„Sabine . . .“ flüsterte er.
„Peter . . .“
In diesen Sekunden war die lärmende Umwelt für sie versunken wie hinter einer Glaswand.
Ganz sanft lag ihre schmale Hand zwischen seinen liebkosenden Fingern. Er hob sie hoch, führte sie an seine Wange, an seine Lippen.
„Peter, bitte . . .“ Sie wollte ihm die Hand entziehen. Aber eine heiße Welle lief durch ihren Arm, durch ihren Körper. Das Blut begann in ihren Ohren zu rauschen. Wie in einem seligen Rausch fühlte sie sich. Peter, ich liebe dich, ich liebe dich . . . pochte ihr Herz.
Ihre Finger begannen seine Haut zu streicheln. Peter schloß die Augen. Wie ein Wunder kam die Liebe . . . dachte er. Das ist kein kitschiger Schlagertext. Das ist die Wirklichkeit. Und sie ist herrlich!
„Sabine, ich . . . ich glaube, ich bin verliebt“, sagte er leise.
Da begannen ihre Augen feucht zu glänzen.
„Aber Sabine, du weinst ja . . .“
„Ich bin so glücklich“, hauchte sie und schämte sich der Tränen nicht, die ihr über die Wange liefen.
„Ich war noch nie verliebt . . . so wie jetzt . . .“
„Sabine, laß uns gehen.“
Ihre Hände lösten sich voneinander. Peter legte ihr den Mantel über die schmalen Schultern, nahm seine Aktentasche auf. Sabine griff nach ihrer Handtasche und folgte ihm. Sie gingen zu seinem Wagen und stiegen ein.
„Willst du nach Hause?“ fragte er.
„Meine Mutter wird warten . . .“ Nach einer Pause fuhr sie fort: „Peter, bis heute war ich eine gehorsame Tochter, die spätestens um zehn Uhr zu Hause war.“
„Bis heute . . .“ Er lächelte, aber als er sie dann voll ansah, war er ernst. „Sabine, ich möchte mit dir Zusammensein. Nicht nur heute. Und nicht nur bis um zehn.“
„Ja, Peter, ich möchte es auch . . . Peter, ich . . . ich habe noch nie einen Freund gehabt. Meine Mutter wollte es nicht . . .“
Peter horchte auf. „Verstehst du dich mit deiner Mutter nicht?“
„Doch. Sie meint es gut mit mir. Zu gut. Manchmal fühle ich mich wie eine Gefangene. Ich bin zwanzig Jahre alt . . .“
„ . . . und schön. Sabine, ich muß deiner Mutter sogar dankbar sein. Vielleicht wärst du sonst schon vergeben.“
Sie lächelte. „Wo willst du noch hin? Ohne Krawatte?“
„Die brauche ich auch nicht.“ Er startete. „Ich will mit dir allein sein. Irgendwo . . .“
Sie fuhren durch die erleuchteten Straßen. An einer dunklen Stelle am Rand eines Parks hielt Peter. Er stellte den Motor ab und schaltete die Scheinwerfer aus.
Sekundenlang saßen sie still, nur ihre Atemzüge waren zu hören. Dann zog er sie sanft an sich.
Ihr Kopf legte sich auf seine Schulter. Seine Hand suchte die ihre. So verharrten sie. Sie sahen in den sternenklaren Himmel, und jeder spürte den anderen.
Es war unendlich schön, nur so dazusitzen. Sie sprachen kein Wort, und sie küßten sich nicht.
Irgendwo sang eine Nachtigall.
Wie romantisch . . . dachte Peter plötzlich, aber dann wurde dieser Gedanke hinweggespült von einer Woge des Glücks.
Sie wußten nicht, wie lange sie so saßen. Peter war es, der zuerst sprach. „Sabine, ich glaube, du mußt jetzt wirklich nach Hause.“
„Ja, ich glaube auch . . .“
Sie fuhren zurück in die Stadt. Es war kurz vor Mitternacht, als sein Sportwagen in der Goethestraße vor dem alten Mietshaus hielt, in dem Sabine mit ihrer Mutter in einer engen dunklen Wohnung lebte.
Er ließ das Steuer los, nahm sie noch einmal in die Arme. Und sie küßten sich. Der erste herrliche Kuß voll trunkener Seligkeit. Endlich lösten sie sich.
„Jetzt muß ich wirklich gehen, Peter“, sagte sie und strich sich das Haar aus dem Gesicht. „Es ist furchtbar spät geworden.“
„Wann sehen wir uns wieder?“
„Wann du willst!“
„Morgen?“
Sie zögerte einen Augenblick, dann wurde ihr klar, daß vierundzwanzig Stunden ohne Peter eine sehr lange Zeit sein würden. „Gut. Morgen.“
„Kann ich dich anrufen?“
„Zu Hause haben wir kein Telefon. Und in der Kanzlei . . . Nein, Peter, lieber nicht! Dr. Brettschneider sieht das nicht gern. Er kann sogar sehr böse werden.“
„Gut. Dann machen wir gleich etwas aus. Morgen abend um sieben Uhr. Ich hole dich hier ab.“
„Nein, Peter, du weißt ja, meine Mutter . . .“
„Sie wird sich mit meiner Existenz vertraut machen müssen!“
„Natürlich. Aber das geht nicht so schnell. Laß ihr Zeit.“
„Wenn du meinst . . .“
„Ja. Peter. Treffen wir uns doch vor dem Nationaltheater. Punkt sieben Uhr. Einverstanden?“
„Du wirst mich doch nicht versetzen?“
„Peter!“
„Es kommt mir alles immer noch so . . . so unwahrscheinlich vor!“
„Ist es ja auch“, sagte sie glücklich, „wenn ich nur daran denke, daß wir bis heute abend noch nie ein persönliches Wort miteinander gesprochen haben . . .“
Sie küßten sich noch einmal. Es war einer jener wundervollen Küsse, die kein Ende nehmen wollen.
„Jetzt aber genug!“ Sie riß sich energisch los. „Gute Nacht, Peter . . . ich muß jetzt wirklich gehen!“ Sie öffnete die Autotür.
„Bis morgen, Sabine! Halt! Meine Krawatte!“
„Nichts da! Die behalte ich!“ Sie zog die Krawatte aus der Manteltasche und legte sie sich mit einem übermütigen Lachen um den Hals. „Bis morgen!“
Er blieb sitzen, sah ihr nach, wartete, bis sie die Haustür aufgeschlossen hatte. Sie drehte sich noch einmal um, winkte.
Dann war sie verschwunden.
Mit einem schweren Seufzer gab er Gas, zuviel Gas. Der Motor heulte auf. Dann schoß der Wagen vorwärts . . .
Sabine summte vor sich hin, während sie die Treppe hinaufschritt. Sie fühlte sich seltsam verzaubert, wie im siebten Himmel. Ein solches Gefühl, wie es sie jetzt durchdrang, hatte sie noch nie empfunden. Alle Sorgen waren weit entrückt. Strahlend und wunderbar schienen das Leben und die Zukunft vor ihr zu liegen.
Immer noch summend, steckte sie den Schlüssel in das Schloß der Wohnungstür. Sie schrak zusammen, als die Tür plötzlich von innen aufgerissen wurde. Der Schlüsselbund fiel klirrend zu Boden.
Ihre Mutter stand vor ihr, eine hagere, energiegeladene Gestalt in einem verblichenen Morgenrock. „Wo hast du dich herumgetrieben?“
Die Ernüchterung kam zu jäh. Sabine fand keine Worte.
„Willst du mir keine Antwort geben?“ schrie Frau Kortner.
„Aber Mutti . . . ich . . . laß dir doch erklären . . .“
„Du warst bei einem Mann!“
„Mutti, ich bitte dich . . .“
Frau Kortner ergriff ihre Tochter beim Arm, zerrte sie in die Wohnung. „Herein mit dir! Soll das ganze Haus von unserer Schande erfahren?“
Sabine bückte sich, hob ihren Schlüsselbund auf und ließ sich willenlos in die kleine Diele zerren.
„Wo du gewesen bist, will ich wissen!“ fauchte Frau Kortner. „Wie heißt der Mann?“
„Aber Mutti, laß mich doch erst mal zu Atem kommen . . .“
„Und getrunken hast du auch! Während ich hier vor Sorge um dich vergangen bin! Weißt du eigentlich, wie spät es ist? Gleich zwölf Uhr! Mitternacht!“
„Mutti, ich . . . bitte, hör mich doch an! Ich kann nichts dafür, wirklich nicht! Der Aufzug ist steckengeblieben und . . .“
„Lüg mich nicht an! Verkommene Augen, verschmierter Lippenstift, eine Männerkrawatte um den Hals! Wie eine Hure siehst du aus! Weißt du, wo du enden wirst, wenn du so weitermachst? Im Mütterheim! Wie deine Tante! Du kennst doch die Geschichte meiner Schwester Emmy . . . Sie hat sich herumgetrieben. Mit Männern! Genau wie du!“
Sabine schloß die Augen. Warum muß sie alles kaputtmachen? dachte sie verzweifelt. Es war so schön heute abend mit Peter. Mit einer müden Bewegung hängte sie ihren Mantel auf, legte ihre Tasche auf den Flurtisch.
„Sag doch etwas!“ herrschte ihre Mutter sie an.
Sabine fühlte einen Kloß in ihrer Kehle. Sie kämpfte gegen die Tränen an.
„Hab’ ich also recht!“ Frau Kortner zerrte ihre Tochter in die Küche. „Meine einzige Tochter ist eine, eine . . .“ Sie sprach den Satz nicht zu Ende. „Wie meine Schwester!“
„Tante Emmy hat doch nur ein Kind . . .“, versuchte Sabine zu widersprechen.
„Nur ein Kind!“ kreischte die Mutter. „Unehelich war es! Ein gottverdammter Bankert!“
„Mutti, bitte . . .“ Sabine hob flehend die Hände. „Ich weiß, du meinst es nur gut mit mir. Aber warum bist du so ungerecht?“
Ihre Mutter hörte gar nicht zu. Sie stand am Herd und zitterte vor Erregung. „Ich habe sie im Mütterheim besuchen müssen . . . Draußen in Nymphenburg. Oh, wie hab’ ich mich geschämt! Eine Schande! Und jetzt meine Tochter . . . Genau das gleiche!“ Plötzlich schrie sie wieder: „Wie lange bist du schon mit dem Kerl zusammen?“
Sabine sah das verzerrte Gesicht ihrer Mutter. Sie tat ihr leid in diesem Moment, aber sie fühlte auch, daß die Grenze des Ertragbaren erreicht war.
„Mutti, es ist mein Leben . . .“
„Dein Leben! Ja, aber ich werde verhindern, daß du es an einen Mann wegwirfst. Ich werde es verhindern, solange ich lebe! Ich möchte meine Tochter nicht in einem Mütterheim besuchen müssen, wo die Dirnen ihre Sündenbrut zur Welt bringen. Meine Schwester hat die Windeln fremder Kinder waschen müssen, weil niemand mehr etwas von ihr wissen wollte. Eine Ausgestoßene war sie!“
„Mutti, das stimmt doch nicht . . . Und überhaupt: Warum sollte ich denn in ein Mütterheim? Was soll der Vergleich mit Tante Emmy?“
„Schweig! Du bist genauso verkommen . . . Meine Tochter! Ich habe dich in Ehren aufgezogen . . .“
Plötzlich griff sie nach der Krawatte, die locker um Sabines Hals geschlungen war. „Gib den Fetzen her!“
Sie zerrte daran. Sabine wehrte sich. Mit einer heftigen Bewegung entriß sie ihrer Mutter die Krawatte. „Nein!“ Sabine war unnatürlich ruhig in diesem Moment. „Ich geb’ sie nicht her.“
„Dein Sündenlohn, was?“ Die Mutter schrie wie rasend. „Es war das letztemal. Von morgen an kommst du sofort nach Büroschluß nach Hause und gehst nicht wieder weg. Ich werde aufpassen auf dich wie . . .“
„ . . . wie auf eine Gefangene“, unterbrach Sabine ruhig. „Nein, Mutti, ich bin zwanzig Jahre alt . . .“
„Du wagst es noch?“ schrie Frau Kortner außer sich. „Du willst nicht gehorchen?“ Ganz plötzlich kam der Schlag.
Sabine fühlte, wie ihre Wange zu brennen begann. Rote Funken tanzten vor ihren Augen. Und dann zerriß etwas in ihr. „Nein!“ schrie sie zurück. „Nein! Jetzt ist es aus. Ich gehe. Gleich! Ich lasse mich nicht länger von dir schikanieren. Ich will endlich wie ein erwachsener Mensch leben . . .“
Sie schoß an ihrer Mutter vorbei über den winzigen Flur in ihr Zimmer. Sie riß einen Koffer vom Schrank, riß die Tür auf, riß wahllos Kleider heraus . . .
„Ich gehe“, flüsterte sie dabei tonlos wie in einem Rausch. „Ich halte es nicht länger aus. Ich will endlich glücklich sein dürfen . . . Ich gehe. Und wenn ich auf der Straße übernachten muß . . .“
Frau Kortner war ihrer Tochter in das kleine Zimmer gefolgt. Sie starrte auf Sabine, die Kleider, Röcke, Pullover, Unterwäsche aus dem Schrank riß und in einen Koffer stopfte.
„Aber Sabine“, rief Maria Kortner fassungslos, „das kannst du doch nicht . . . Du kannst doch nicht einfach fort! Mitten in der Nacht!“
„Und ob ich das kann!“ schleuderte Sabine ihrer Mutter entgegen.
Frau Kortner begriff, wie ernst es Sabine war. Sie entschloß sich, weichere Töne anzuschlagen. „Du willst mich also wirklich . . . allein lassen?“
Sabine schwieg verbissen, drückte den Deckel des kleinen Koffers zu.
„Nach allem, was ich für dich getan habe?“ rief ihre Mutter.
„Ja, nach allem!“ Sabine richtete sich auf. „Du hast mich aufgezogen, das war großartig von dir! Nachträglich noch meinen herzlichen Dank! Schließlich hättest du mich auch gleich nach der Geburt aussetzen können!“
„Sabine!“
„Laß mich doch in Ruhe, wenn du die Wahrheit nicht hören kannst! Ewig appellierst du an meine Dankbarkeit, an meine töchterliche Liebe, an meine Verpflichtung dir gegenüber! Ja, ja, ich habe dich lieb, du bist ja meine Mutter, und ich bin dir auch dankbar! Aber das alles gibt dir doch kein Recht, mich zu versklaven!“
„Du weißt nicht mehr, was du redest, Kind!“
„O doch! Hundertmal habe ich dir das schon sagen wollen, aber immer wieder habe ich geschwiegen, alles in mich hineingefressen. Weil ich dir nicht wehtun wollte. Ich weiß ja, du meinst es gut mit mir. Aber so geht es einfach nicht weiter. Ich ertrage es nicht länger!“
Frau Kortner verzog die schmalen Lippen. „Ich wußte gar nicht, daß dein Leben ein solches Martyrium ist.“
„Eben!“ Sabine nickte heftig. „Nichts weißt du, gar nichts! Du glaubst, es genügt mir, die ganze Woche über nur zu arbeiten und dann am Wochenende mit dir spazierenzugehen. Vielleicht auch mal ins Kino. Mit dir selbstverständlich! Du bildest dir ein, daß ich glücklich sein muß, weil du für mich kochst, mir meine Blusen bügelst. Aber zum Glück, liebe Mutti, gehört doch etwas mehr.“
„Ein Mann?“
Sabine lächelte sarkastisch. „Gratuliere! Du hast mein Problem auf den einfachsten aller Nenner gebracht!“
„Ach, jetzt verstehe ich! Es ist also meine Schuld, daß du noch nicht den richtigen gefunden hast?“
„Genau. Denn du gibst mir gar keine Gelegenheit, mich umzuschauen. Als ich neulich zu Trudis Geburtstagsparty wollte, bekamst du wieder deine berühmte Migräne . . .“
„Willst du mir etwa auch darauf einen Vorwurf machen?“
„Nein! Ich behaupte ja nicht, daß du Theater spielst. Ich versuche dir nur klarzumachen, daß es so einfach nicht weitergeht. Ich will endlich mein eigenes Leben leben! Nicht immer deine vorwurfsvollen Fragen hören. Nicht immer um Erlaubnis bitten müssen, wenn ich etwas unternehmen will!“
Frau Kortner trat näher. „Nun, wenn es nur das ist, Sabine, ich verspreche dir . . .“
„Versprich doch nichts, was du nicht halten kannst! Du wirst dich nie ändern. Ich verlange das auch gar nicht. Laß mich fort, Mutti! Laß uns auseinandergehen ohne Groll und ohne Feindschaft.“
„Soll ich etwa tatenlos zusehen, wie du mit offenen Augen in dein Unglück rennst? Wer ist dieser Mann überhaupt?“
„Ach, Mutti, es geht jetzt doch gar nicht um einen Mann!“
„Mach mir doch nichts vor, Kind! Jemand muß dich gegen mich aufgehetzt haben. Wer? Erzähl mir alles! Ich habe ein besseres Urteilsvermögen als du.“
Sabine legte beide Hände auf die mageren Schultern der Mutter, schüttelte sie leicht. „Mutti! Kannst du denn nicht begreifen, daß ich mein eigenes Leben leben, meine eigenen Erfahrungen machen, meine eigenen Enttäuschungen durchstehen will?“
Frau Kortners blaßblaue Augen füllten sich mit Tränen. „Ich will dich doch nur behüten . . .“
„Ja, das weiß ich. Aber versteh endlich, daß ich nicht mehr behütet sein will!“
Frau Kortner lächelte schwach. „Ich glaube, es war gut, daß wir uns einmal richtig ausgesprochen haben, Kind. Ich hatte ja keine Ahnung von alledem, was in deinem kleinen Kopf herumspukt. Aber nun sei brav, pack deinen Koffer wieder aus . . .“
Sabine wurde von zwiespältigen Gefühlen hin- und hergerissen. Sie ärgerte sich, daß sie sich überhaupt auf eine Auseinandersetzung mit der Mutter eingelassen hatte, anstatt einfach die Wohnung zu verlassen. Jetzt hatte sie sich ihren Zorn von der Seele geredet, ihre Empörung war verraucht. Jetzt wäre es ihr unnatürlich erschienen, den Wunsch der Mutter nach Versöhnung abzuschlagen. Andererseits fühlte sie sich sogar erleichtert. Es wäre ihr doch sehr schwergefallen, die Geborgenheit ihres Heims zu verlassen und sich mitten in der Nacht ein Zimmer zu suchen. Wo denn?
„Ich verspreche dir“, sagte Frau Kortner und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, „von nun an darfst du tun und lassen, was du willst. Du hast ja recht, schließlich bist du erwachsen. Du brauchst mir auch kein Wort über den Mann zu erzählen, wenn du nicht willst.“ Fast im gleichen Atemzug fügte sie hinzu: „Wie heißt er eigentlich?“
Sabine mußte wider Willen lächeln. „Ach, Mutti, du bist unverbesserlich!“ Sie schloß ihre Mutter zärtlich in die Arme. Und sie konnte es nicht länger zurückhalten, „Mutti, ich bin verliebt! Richtig verliebt!“
„Sabine, mein Kind!“ mahnte die Mutter. „Ich bitte dich, wirf dich nicht weg . . . an einen Mann!“
Peter Hartmann fuhr vorsichtig, wenn auch mit überhöhtem Tempo, durch die nächtlichen Straßen Münchens. Sein Herz und seine Gedanken waren bei Sabine. Er spürte noch das Glücksgefühl des ersten Kusses vor ihrer Haustür. Er glaubte noch die Wärme ihres jungen Körpers zu fühlen.
Er sah sie vor sich, die biegsame, schmale Gestalt, das stille helle Gesicht mit den großen blauen Augen. O Sabine! Ich liebe dich . . .
Er hätte es herausschreien können. Sein Herz lief über von Glück.
Die Reifen seines Porsche quietschten empört, als Peter ihn mit einer übermütigen Bewegung um die Ecke riß, in die Widenmayerstraße hinein.
Der Wagen schoß vorwärts, etwa zweihundert Meter weit. Plötzlich trat Peter mit aller Kraft auf die Bremse. Die Reifen schrien auf . . .
Fast wäre er in einen unbeleuchteten uralten BMW hineingefahren, Peter starrte verblüfft durch die Windschutzscheibe. Und im nächsten Augenblick schon sah er sich von einer Schar grölender Burschen umringt.
„Unser verlorener Sohn!“
Peter holte erst mal tief Luft, ehe er sprach. „Ihr seid wohl verrückt geworden! Macht hier nicht solch einen Krach! Mitten in der Nacht . . .“
Die Burschen schlugen ihm lachend auf die Schultern. Es waren Freunde von Peter, Freunde aus dem Tennisclub.
„Mensch, alter Junge!“ schrie Udo, der überall das große Wort führte. „Seit ’ner Viertelstunde stehen wir vor deiner Tür wie verliebte Troubadoure.“
Peter hielt sich lachend die Ohren zu. „Schreit doch nicht so!“
„Wir wollen noch feiern!“ erklärte Udo lautstark. „Stell dir vor . . .“
„ . . . ich werde Vater“, schaltete sich ein hagerer rotblonder Jüngling ein. Peter kannte ihn, den Sohn eines Generaldirektors, nur flüchtig.
„Maxi, unser Schwerenöter, wird Vater!“ Udo hieb dem Rotblonden kräftig ins Kreuz. „Seit vier Wochen verheiratet und schon Vater!“
„Na, ja“, sagte Maxi kleinlaut. „Susi und ich haben es schon etwas früher gewußt.“
„Macht nichts!“ Udo drängte die Freunde zu seinem BMW-Dixie. „Man soll die Feste feiern, wie sie fallen . . . Los, wir fahren alle mit meiner rollenden Gartenlaube!“
Peter griff nach der Aktentasche mit den Unterlagen. „Ich muß das erst raufbringen.“ Er stieg aus.
„Aber wehe dir, du kommst nicht wieder runter!“ Udo lachte. Peter kam. Oben, in seinem Junggesellen-Appartement, hatte er sekundenlang überlegt, ob er nicht tasächlich die Freunde versetzen sollte. Er wäre viel lieber allein geblieben mit seiner Sehnsucht nach Sabine . . . Doch Peter befürchtete, daß die vier Burschen keine Ruhe geben würden.
„Aber nicht lange“, sagte er, als er sich in das alte Gefährt zwängte. „Ich muß morgen früh raus.“
Sie fuhren zum Tennisclub. In der Bar des Clubhauses war noch Hochbetrieb. Die fünf Freunde setzten sich an einen runden Tisch, und Udo grölte: „Eine Runde Whisky! Maxl zahlt heute alles!“
Ein fröhliches Gelage begann. Langsam fand auch Peter seine gute Laune wieder. „Prost!“ rief er plötzlich aus. „Auf die Mädchen, die wir lieben!“
Plötzlich fühlte er einen weichen, warmen Arm, der sich um seinen Hals legte. „Und auf die Männer, die wir lieben“, hauchte eine rauhe vibrierende Stimme.
Peter drehte sich überrascht um. Er sah in das schöne, sorgfältig geschminkte Gesicht von Gisela Schneider.
Sie lachte ihr girrendes aufreizendes Lachen und trank aus einem flachen Champagnerglas. „Speziell auf unseren verlorenen Sohn.“
Peter fand endlich seine Sprache wieder. „Was soll der Quatsch eigentlich? Auch Udo hat schon vom verlorenen Sohn gefaselt.“
„Ach, du weißt es noch gar nicht?“ Gisela ließ sich auf den freien Stuhl neben ihm nieder, schwang die langen Beine übereinander und strich ihr dünnes Seidenkleid glatt. „Deine Mutter hat bei mir angerufen und nach dir gefragt. Du seist spurlos verschwunden, hat sie gesagt . . .“
Sie trank und sah Peter über das Champagnerglas hinweg an. Die Augen unter den langen getuschten Wimpern schimmerten grünlich. „Ich habe in ganz München nach dir gesucht. Per Telefon. Dann bin ich hierher gefahren.“
„Nett von dir“, sagte Peter kühl. „Aber deine Sorge war ganz unnötig.“
„Peter . . .“, Gisela verschluckte, was sie sagen wollte. Sie richtete sich auf und preßte die Lippen zusammen. „Hast du eine Zigarette für mich?“ fragte sie unvermittelt.
Peter zog ein zerknittertes Päckchen aus der Jackentasche. Gisela griff mit ihren manikürten Fingern nach einer der schwarzen Zigaretten und sah Peter erwartungsvoll an.
„Ach ja, Feuer . . . Entschuldigung!“ Er suchte nach seinem Feuerzeug, bis ihm einfiel, daß es auf einem Mauervorsprung im Fahrstuhlschacht des alten Bürohauses stand. In dem Haus, wo er und Sabine im Fahrstuhl steckengeblieben waren und wo ihre wundervolle Liebe begonnen hatte.
Peter lächelte versonnen. „Tut mir leid, Gisela . . .“
Sie warf die Zigarette auf den Tisch. Die Freunde hatten sich inzwischen an die Bar zurückgezogen, wo Charly, der Mixer, jetzt alle Hände voll zu tun hatte.
„Tanz mit mir“, sagte Gisela in flehendem und doch fast befehlendem Ton.
Peter zögerte. Er spürte einen bohrenden Unwillen, aber er wußte, er konnte Gisela keinen Korb geben. „Wenn du willst“, sagte er knapp und stand auf.
Sie tanzten nach einer Bluesmelodie. Giselas schlanker, doch wohlgeformter Körper drängte sich vom ersten Takt an fest gegen Peter. Seine Hände lagen um ihre Taille, als berührten sie glühendes Eisen.
Was für ein Unterschied, dachte Peter. Diese ekelhafte Routine eines verwöhnten Partygirls . . . Und dagegen die unverdorbene Natürlichkeit von Sabine . . .
„Bitte, sei mir nicht böse“, sagte er, als die Platte zu Ende war. „Ich möchte nach Hause. Ich bin müde.“
„Nimm mich mit“, sagte Gisela und ließ ihre warmen, nackten Arme um seinen Hals.
„Ich bin ohne Wagen hier.“
„Dann nehmen wir ein Taxi.“ Gisela legte all ihren verführerischen Charme in ihr Lächeln. Wortlos ging Peter. Gisela holte ihren Mantel und ihre Handtasche und lief ihm hinterher.
Sie mußten bis zum Taxistand an der nächsten Ecke laufen. Gisela hakte sich bei Peter ein und schmiegte sich eng an ihn. Als sie im Taxi saßen, sagte Peter zu dem Chauffeur: „Erst zur Mauerkircherstraße.“
„Dummkopf!“ zischte Gisela leise. „Das wirst du noch bereuen!“
Peter blieb ungerührt. Er sprach kein Wort, bis der Wagen vor dem prunkvollen Haus des Architekten Schneider hielt. Erst als Gisela hastig ausstieg, sagte er mechanisch: „Auf Wiedersehen . . .“ Doch das schöne Mädchen stöckelte grußlos und zornbebend davon.
„Jetzt zur Widenmayerstraße“, sagte Peter. Hier, in einem der hohen alten Häuser, befand sich das kleine geschmackvoll eingerichtete Junggesellen-Appartement, das er seit fast einem Jahr bewohnte. Er kam eigentlich nur noch an Wochenenden in das Haus seiner Eltern.
In dieser Nacht träumte Peter von Sabine. Und der erste Gedanke am nächsten Morgen hieß auch. Sabine . . .
Er wusch sich, rasierte sich und zog sich an. Dann stieg er in seinen Porsche, um, wie verabredet, zu seinen Eltern zu fahren. Er sollte erklären, warum er am Abend zuvor mit den Vertragsunterlagen von Rechtsanwalt Dr. Brettschneider nicht zur Besprechung mit den Chemieleuten erschienen war . . .
Weil ich Sabine kennengelernt habe, dachte er glücklich.
Es fiel ihm schwer, seine Gedanken von ihr loszureißen. Erst als er in die Harthauserstraße einbog, wurde ihm klar, daß er besser daran täte, seine Gedanken auf das bevorstehende Gespräch mit seinen Eltern zu konzentrieren.
Er parkte vor der Einfahrt. Die Villa seiner Eltern, ein mächtiger weißer Würfel, lag inmitten eines parkartigen Gartens. Die Aktentasche mit den Unterlagen in der Hand, lief Peter um das Haus herum, die Stufen zur Terrasse hinauf. Er klopfte gegen das Glas der offenen Flügeltür und rief: „Hallo! Hier bin ich! Guten Morgen!“
Die Eltern saßen am Frühstückstisch. Gerda Hartmann sprang hastig auf, der Tisch kam ins Schwanken, Kaffeetassen klirrten. „Peter!“ rief sie. „Wir haben uns gestern abend solche Sorgen um dich gemacht!“
Er küßte seine Mutter zärtlich auf die Wange. „Lieb von euch, aber absolut unnötig! ’n Morgen, Papa!“
„Was war los gestern abend?“ fragte Paul Hartmann energisch. „Hast du eine Panne gehabt?“
„Nein . . . wir sind mit dem Aufzug steckengeblieben!“
„Wer wir?“ fragte Herr Hartmann.
„Eine Sekretärin von Dr. Brettschneider und ich. Die Alarmanlage hat auch nicht funktioniert. Wir haben gewartet und gewartet, aber niemand kümmerte sich um uns. Schließlich wurde es mir zu dumm, und ich bin hinausgeklettert.“
„Und das Mädchen?“ schaltete sich Frau Hartmann ein.
„Habe ich natürlich auch herausgeholt.“
„Und dann“, fragte Frau Hartmann, „seid ihr zusammen etwas trinken gegangen, um euch von dem Schreck zu erholen, ja? Ich verstehe das alles, Peter, aber ich finde doch, du hättest gleich anrufen sollen!“
„Tut mir leid, Mama, aber . . .“
Herr Hartmann unterbrach ungnädig. „Hast du die Unterlagen?“
„Ja. Hier.“ Er klopfte auf die Aktentasche, die er noch immer in der Hand hielt. „Dr. Brettschneider hat den Vertrag vorbereitet.“
„Das Gespräch mit den Chemieleuten ist auf heute vertagt.“
„Waren die Herren sehr ungehalten?“ fragte Peter lächelnd. Aber er fühlte sich etwas unsicher. Die Ruhe seines Vaters kam ihm nicht ganz geheuer vor.
„Ich habe die Chemieleute mit einer Flasche französischem Kognak und ein paar guten Zigarren bei Stimmung gehalten. Die Auslagen dafür ziehe ich dir vom nächsten Gehalt ab.“
„Papa meint es nicht so, Peter“, sagte Frau Hartmann rasch. „Das ist nur wieder einer seiner Witze. Wir sind ja beide froh, daß dir nichts passiert ist. Auch Gisela war ganz besorgt, als ich ihr von deinem Verschwinden erzählte!“
Peter Hartmann setzte sich an den Frühstückstisch und goß sich Kaffee ein. „Wie kommst du eigentlich dazu, ihr irgend etwas über mich zu erzählen?“
„Aber Peter, wir wußten doch nicht, wo du warst!“
Peter Hartmann lachte. „Mama, da hast du mich ausgerechnet bei Gisela vermutet?“
„Ja! Als wenn das so abwegig wäre! Schließlich ist Gisela ein reizendes Mädchen und . . .“
Peter legte das Wurstbrot auf den Teller zurück. „Sag mal, Mama, wann wirst du endlich aufhören, mich verkuppeln zu wollen! Meine Freundinnen habe ich mir bisher immer selbst ausgesucht. Und auch die Frau fürs Leben werde ich allein finden . . .“
„Ich hoffe nur“, sagte Frau Hartmann, „sie wird aus unseren Kreisen sein!“
„Zu was für einem Kreis gehören wir denn, Mama?“ fragte Peter hitzig. „Was unterscheidet uns deiner Meinung nach von anderen Menschen? Papa ist reich, das ist alles. Ich finde es vorteilhaft, Geld zu haben, aber das gibt uns doch nicht das Recht . . .“
„Schluß der Debatte“, erklärte Herr Hartmann. Er stand auf.
„Aber Paul“, rief seine Frau, „bist du nicht auch der Meinung . . .“
„Da du schon danach fragst: Ich gestehe Peter jedes Recht zu, sich zu amüsieren, solange seine Arbeit nicht darunter leidet. Man ist nur einmal jung. Kein vernünftiger Mann sollte an Heirat denken, bevor er dreißig ist.“
„Aber Papa“, wandte Peter ein, „das gilt doch nicht für jeden. Ich zum Beispiel . . .“
„Mein Sohn“, unterbrach Herr Hartmann, „laß dir eines sagen: Jedes Mädel, das sich in dich verliebt – egal, ob aus einem armen oder einem reichen Haus –, meint nicht nur dich, sondern auch die Millionen deines Vaters. Deshalb bin ich unbedingt dafür, daß du mit einer festen Bindung wartest, bis du genügend Menschenkenntnis besitzt, um Schein und Sein zu unterscheiden.“ Herr Hartmann schlug seinem Sohn kameradschaftlich auf die Schulter: „So, Junge, jetzt kennst du meine Einstellung!“ Er sah auf die Uhr. „Zeit, daß wir ins Büro kommen. Übrigens, zu deiner Information: Die Vertragsbesprechung mit den Herren vom Chemiekonzern findet um sechs Uhr statt.“
Peter erschrak. Ihm fiel seine Verabredung mit Sabine ein. „Muß ich dabeisein?“ fragte er vorsichtig.
„Ich lege sogar größten Wert darauf. Oder hast du etwas Wichtiges vor?“
„Nein...“, antwortete Peter zögernd und dachte: Was mache ich bloß mit Sabine?
„Na also!“ brummte Paul Hartmann und ließ sich von dem Dienstmädchen Hut, Mantel und Aktentasche bringen. „Ich werde nämlich ungemütlich, wenn wieder zufällig ein Fahrstuhl stekkenbleibt. Ich hoffe, wir verstehen uns, mein Sohn.“
„Ja, Papa.“ Peter stand nachdenklich vom Tisch auf. Ich kann Sabine nicht stundenlang am Nationaltheater stehen lassen, überlegte er. Sie muß Bescheid wissen. In der Anwaltskanzlei anrufen? Nein, geht nicht! Das gibt Ärger mit Brettschneider, und überhaupt . . . Bleibt nur eins: Erich muß das erledigen.
Das erste, was Peter im Büro tat – er rief seinen Freund Erich Krüger an. Er mußte gut drei Minuten warten, bis Erich, der ein möbliertes Zimmer bei einem alten kinderlosen Ehepaar gemietet hatte, an den Apparat kam.
„Na endlich!“ sagte Peter Hartmann. „Wie geht’s dir, alter Junge?“
Erich Krüger gähnte kräftig in den Telefonhörer hinein. „Verdammt früh . . .“
Peter lachte. „Du hast wohl wieder mal die ganze Nacht lang gesoffen.“
„Die halbe Nacht!“ verteidigte Erich sich. „Und ich hatte auch einen Grund zum Saufen . . . Mein alter Herr hat mir einen wüsten Brief geschrieben. Wenn ich nicht bis Semesterschluß meine Prüfungen mache, will er mir den Wechsel streichen.“
„Und warum machst du sie nicht? Schließlich studierst du schon lange genug. Wir fingen doch zusammen an. Und ich bin schon seit einem guten Jahr fertig.“
„Vor einem Jahr“, behauptete Erich Krüger, „hätte ich die Prüfungen auch machen können. Sogar mit Leichtigkeit. Aber damals hatte ich keine Lust. Warum sollte ich mich beeilen? Das hätte doch nur den Effekt gehabt, daß ich München verlassen und ins heimatliche Kaff hätte zurückkehren müssen. Also hab’ ich mir Zeit gelassen. Und jetzt habe ich das meiste, was ich gelernt habe, wieder vergessen.“
„Ach, das wird dir schon alles wieder einfallen, wenn du dich richtig dahinterklemmst. Bis zum Frühjahr gibt dir dein alter Herr bestimmt eine Gnadenfrist.“
„In diesem Sinn habe ich meinem alten Herrn auch schon geschrieben.“
„Na also.“ Peter Hartmann wollte nun endlich von seiner eigenen Sorge sprechen. „Übrigens, falls du im Augenblick nicht allzu tief in der Arbeit steckst . . .“
„Noch nicht.“
„Sehr gut. Dann könntest du mir einen Gefallen tun. Ich habe mich mit einem Mädchen verabredet . . .“
„Und jetzt willst du sie abschieben?“
„Im Gegenteil. Ich bin geschäftlich verhindert, und ich möchte sie nicht vergeblich warten lassen. Wir sind für heute abend um sieben vor dem Nationaltheater verabredet.“
„Und warum rufst du die Kleine nicht einfach an?“
„Sie hat kein Telefon.“
„Pech. Und jetzt soll ich dich wohl vertreten?“
„Mach keinen Quatsch!“ Peters Stimme wurde plötzlich laut. „Laß die Finger von diesem Mädchen!“
„Schrei doch nicht so . . .“, erwiderte Erich träge. „Ist es denn was Ernstes?“
„Es könnte ernst werden.“
„Seit wann kennst du sie denn?“
„Seit gestern.“
Erich Krüger gähnte wieder. „O diese Jugend!“
„Erich, hör zu! Du gehst also hin und entschuldigst mich. Sag ihr, ich werde mich morgen bei ihr melden, zu Hause. Oder ich hole sie vom Büro ab.“
„Und wie sieht sie aus? Das mußt du mir schon verraten, denn sonst kann ich sie ja nicht erkennen.“
„Sie hat wunderschönes aschblondes Haar, schulterlang, ein schmales Gesicht, große blaue Augen, eine schlanke biegsame Figur, das reizendste Lächeln von der Welt . . .“
„Du, Peter, dich scheint es aber ganz schön erwischt zu haben. Mir läuft schon das Wasser im Mund zusammen.“ Erich wurde munter.
Peter Hartmann lachte. „Junge! Hände weg von Sabine! Und vielen Dank. Gib mir bitte telefonisch Bescheid, ob es geklappt hat . . .“ Peter legte auf. Erich ist doch ein netter Kerl, dachte er. Er wird Sabine den Fall erklären und ansonsten die Finger von ihr lassen . . .