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Der Anhänger der Linie 6 war fast leer. Eva verlangte einen Fahrschein bis Bilk und zahlte aus ihrem Portemonnaie. Die Schaffnerin sah sie sonderbar an, und Eva wurde klar, daß mit ihrem Aussehen etwas nicht in Ordnung war. Sie öffnete Regines Tasche und betrachtete sich in dem kleinen Spiegel. Ihr Gesicht war rußgeschwärzt. Mit einigen Tempo-Tüchern und Eau de Cologne gelang es ihr, den gröbsten Schmutz zu entfernen. Sie warf die Tücher in den Papierkorb und wollte den Spiegel zurückstecken, als ihr einfiel, daß sie jetzt, im Hellen, noch einmal nach dem Autoschlüssel suchen könnte.

Sie fand ihn nicht, statt dessen fiel ihr Regines Paß in die Hände; in der gelben Hülle steckte der Führerschein. Ob Regine beides je noch brauchen würde …?

Eva blätterte im Paß. Auf dem Foto sah Regine erheblich jünger aus, als Eva sie kannte. Kein Wunder, der Ausweis war am 22. September 1967 ausgestellt worden. Damals war Regine drei Jahre jünger, ihr Gesicht war runder gewesen, und sie hatte die Haare kürzer und mit einem Pony getragen, genau wie Eva heute.

Plötzlich durchzuckte es sie: Das Foto hatte eine unverkennbare Ähnlichkeit mit ihr selber! Hastig las sie die Angaben auf der linken Seite. Beruf: Sekretärin. Geburtsort: Düsseldorf. Geburtsdatum: 28. September 1951. Wohnort: Düsseldorf. Gesichtsform: rund. Farbe der Augen: blau. Größe: 165 cm. Alles stimmte, alles traf auch auf sie zu — bis auf die Größe, und das war auch kein solcher Unterschied wie in Wirklichkeit. Inzwischen war Regine nämlich 172 cm geworden, und Eva war 169 cm groß. Die drei Zentimeter Unterschied zu damals würden bestimmt nicht auffallen.

Plötzlich wurde es Eva bewußt, daß sie sich schon als Besitzerin dieses Ausweises fühlte. Sie erschrak über sich selber. Aber wenn Regine nicht mehr lebte, was konnte ihr dieser Paß noch nützen? Aber für sie, Eva, war er ein Schlüssel zur Freiheit und zur großen Welt.

»Besondere Kennzeichen: keine«, las sie weiter. Auch das stimmte mit ihr überein.

Eva blätterte um und las: »Dieser Ausweis ist gültig bis 22. September 1972.« Das bedeutete, daß sie ihn mehr als zwei Jahre benützen könnte. Wenn sie ihn behielt! Das war die große Frage. Sollte sie wirklich?

Trotz ihrer Aufregung wurde ihr bewußt, daß sie jetzt drei Möglichkeiten hatte: Sie konnte an der Fährstraße aussteigen und die Tasche bei Regines Eltern abliefern — aber damit hätte sie sich endgültig jede Chance verbaut. Außerdem würde es grausam sein, Karlsons zu erzählen, was geschehen war.

Oder sie konnte nach Hause fahren, sich beschimpfen lassen, vorher aber versuchen, die Tasche zu verstecken. Dann brauchte sie nur abzuwarten, was mit Regine geschehen war, bevor sie etwas unternahm … Eva unterbrach ihren eigenen Gedankengang — wenn sie jetzt nach Hause führe, wäre es zu spät.

Obwohl sie manchmal sehr daran zweifelte, ob ihre Eltern sie liebten, wußte sie doch genau, daß sie ihr Verschwinden nicht einfach hinnehmen, sondern sie suchen lassen würden.

Jetzt, nur jetzt, hatte sie die Möglichkeit zu verschwinden, ohne je vermißt oder gesucht zu werden. Ihr Bruder Peter wußte, daß sie zur ›Remise‹ gefahren war. Wenn sie nicht mehr auftauchte, würden alle glauben, daß sie in den Flammen umgekommen sei. Vielleicht konnte die Polizei sogar die Überreste ihres Fahrrades identifizieren.

Eva steckte Paß und Führerschein wieder fort. Sie öffnete den Reißverschluß der Futtertasche, und ihre Finger fühlten ein Bündel Geldscheine. Rasch zog sie den Verschluß wieder zu. Sie konnte das Geld hier unmöglich zählen. Immerhin war es beruhigend zu wissen, daß sie sich nicht ganz blank in das große Abenteuer stürzen mußte. Sie selber hatte nicht viel mehr als eine Mark in der Tasche.

Erst am Hauptbahnhof stieg Eva aus und steuerte geradewegs die Damentoilette an. Hier konnte sie endlich das Geld zählen. Es waren 350 Mark in Scheinen, abgesehen von den Geldstücken im Portemonnaie. Anscheinend hatte Regine den Betrag schon für die bevorstehende Urlaubsreise von ihrer Bank abgehoben.

Eva entfernte mit Wasser und Seife die letzten Spuren des Rauchs und merkte erst, als sie sich kämmte, daß sie am Hinterkopf eine schmerzende Beule hatte. Dann zog sie sich mit Regines Stift die Lippen nach.

Die Rußflecken an ihrem hellen Regenmantel ließen sich nicht mit Wasser oder durch Reiben entfernen, sie wurden eher noch schlimmer. Sie legte sich den Mantel mit der Innenseite nach außen über den Arm. Es war ein komisches Gefühl, mitten in der Nacht mit einem ärmellosen Pullover herumzulaufen, aber zum Glück war es ja warm.

Danach schlenderte sie in die Eingangshalle des Bahnhofs und überlegte, was sie jetzt anfangen sollte. Sie hatte Geld genug, um in ein Hotel zu gehen, doch das schien ihr zu riskant. Ohne Koffer, ohne Nachthemd und ohne Zahnbürste mußte sie auffallen. Außerdem traute sie sich’s nicht zu, ohne jede Übung Regines Namenszug auf der Anmeldung nachzumachen.

Es war Mitternacht vorbei. Das Restaurant war schon geschlossen. Sie zog sich an einem Automaten eine Flasche Limonade. Dann ging sie die Treppe hinunter in den Wartesaal.

Hier saßen Leute mit Koffern, Paketen, Taschen und Kinderwagen. Alle wirkten übermüdet. Eva fand einen freien Tisch. Aber sie sollte nicht lange allein bleiben.

Ein Junge mit gelocktem, schulterlangem Haar kam zu ihr und fragte vertraulich: »Hast ’ne Zigarette für mich?«

»Tut mir leid, nein.«

»So’n Pech«, sagte der Junge mit sympathischem Gesichtsausdruck.

Er trug ausgefranste Jeans, eine alte Militärjacke und Sandalen. Eva spürte, daß er ein Abenteurer war wie sie selber. Sie öffnete Regines Portemonnaie und gab ihm eine Mark.

Der Junge bedankte sich, zog eine Schachtel Zigaretten und kam zurück. »Willste?« fragte er und hielt ihr großzügig das geöffnete Päckchen hin.

Eva schüttelte den Kopf.

Er steckte sich eine an und setzte sich zu ihr. »Willste auch ins Loch?« fragte er. »Oder hast ’ne Fahrkarte?«

Eva verstand nicht. »Wieso?« fragte sie verdutzt.

»Du bist wohl janz neu hier, was?« fragte er lachend.

»Ja«, gab Eva zu.

»Dann paß auf: Also, hier jibt es mindestens alle Stunde ’ne Razzia. Hast ’ne Fahrkarte, kannste bleiben, haste keine, nehmen sie dich mit.«

»Ich habe einen Paß«, sagte Eva schlagartig.

»Nutzt dir nix. Pennen darfste hier trotzdem nicht.«

»Dann besorge ich mir eben eine Fahrkarte.«

»Nutzt dir och nichts. Die janze Nacht jehen hier Züge. Spätestens bei der zweiten Razzia schnappen se dich trotzdem. ›Was denn‹, sagen sie, ›Sie wollten doch nach Essen! Warum sind Sie da nicht vor zehn Minuten mit dem Eilzug gefahren?‹ Und schon sitzt du in der Tinte.«

»Gibt es denn keine Möglichkeit …?«

»Nein, hier nicht. Zum Pennen ist das keen Ort.«

Eva erhob sich widerstrebend. »Danke«, sagte sie, »nett von dir, daß du mir Bescheid gesagt hast. Aber was machst du hier?«

Er schielte auf seine Füße. »Hab’ mir die Quanten durchgelatscht. Muß ein Päuschen einlegen, bis ich wieder lostrampen kann.«

Herzen in Aufruhr

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