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Eine sonderbare Schneeballschlacht

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Monika Schmidt blickte sehnsüchtig aus dem Fenster ihres Klassenzimmers, vor dem der weiße Schnee in dicken, dichten Flocken vom Himmel fiel. Auch als sie noch in München lebte, hatte sie sich über den ersten Schnee gefreut, aber so schön wie hier draußen auf dem Land war er nie gewesen. Monika träumte von Schneeburgen, Schneeballschlachten und Schlittenfahrten. Nur mit halbem Ohr hörte sie auf das, was die Lehrerin erzählte.

Frau Hübner mußte Monikas Namen zweimal nennen, bis sie merkte, daß sie aufgerufen worden war. Als sie endlich aufstand, spürte sie, wie alle Gesichter sich ihr zuwandten. Sogleich wurde sie rot. Das ging ihr immer so, und sie wollte sich nicht darüber ärgern. Monika hatte eine zarte weiße Haut, die sich bei der kleinsten Erregung verfärbte, und glattes, leuchtend rotes Haar.

„Monika, hast du meine Frage verstanden?“ erkundigte sich Frau Hübner.

Unwillkürlich blickte Monika hilfesuchend auf den Platz neben sich. Aber der war leer, denn Ingrid, ihre beste Freundin, hatte sich erkältet und war zu Hause geblieben.

„Nein“, mußte Monika zugeben.

„Dann will ich sie dir zuliebe noch einmal wiederholen: Wie nennt man das, wenn der Star sein Lied singt?“

Monika riß die klaren grünen Augen auf und dachte nach. Im Sommer hatte eine ganze Starenfamilie im Nistkasten hinter dem Seerosenteich gehaust. Aber auf ihr Zwitschern hatte sie nie besonders geachtet.

„Es ist ein ziemliches Durcheinander“, sagte sie endlich, „sie quietschen und pfeifen und klappern mit den Schnäbeln.“

„Das ist schon richtig“, sagte Frau Hübner, „aber wie sagt man, wenn der männliche Star singt? Es gibt einen bestimmten Ausdruck!“ Sie hatte sich mit dieser neuen Frage wieder an die Klasse gewandt.

Monika setzte sich erleichtert.

Ein blondgelockter Junge meldete sich eifrig und wurde aufgerufen. Er hieß Norbert, war erst nach den Sommerferien in die 7. Klasse gekommen und hatte vorher in Norddeutschland gelebt.

„Wenn der S-tar mit ges-träubten Kehlfedern sein Lied singt, so sagt man, der S-tar s-pottet!“ rief er.

Er sprach mit „spitzem“ st und sp, und in den Ohren der bayerischen Kinder klang das sehr komisch; die brachen in brausendes Gelächter aus.

Monika lachte nicht mit. Norbert tat ihr leid, aber sie bewunderte ihn auch, weil er, obwohl ihn alle auslachten, immer wieder das Wort ergriff.

„Sehr gut, Norbert!“ lobte Frau Hübner und, zur Klasse gewandt, fügte sie hinzu: „Es besteht durchaus kein Grund so zu johlen!“ Dann fuhr sie fort: „Die Stare ziehen meist zweimal im Jahr ihre Jungen auf und lieben auch während der Brutzeit Geselligkeit. Sicher habt ihr alle schon beobachtet, wie sie sich auf Bäumen und Leitungsdrähten, den sogenannten Singwarten, zur gemeinsamen Unterhaltung versammeln!“

Monika, die sich jetzt zur Aufmerksamkeit zwang, fand das Leben der Stare ganz interessant, aber doch nicht jetzt mitten im Winter. Als die Klingel endlich die große Pause einläutete, sprang sie erleichtert auf. Als erste war sie bei der Tür.

„Halt!“ rief Frau Hübner. „Es schneit viel zu stark. Ihr geht nicht auf den Hof, ihr bleibt oben!“

„Schade!“ schrien die Schüler durcheinander. „Warum denn?“ – „Gerade bei Schnee ist es doch lustig!“ – „Wir brauchen frische Luft!“ Ein paar schimpften sogar recht zünftig, wenn auch nicht ganz so laut.

„Macht die Fenster auf!“ ordnete Frau Hübner ungerührt an. „Aber lehnt euch ja nicht hinaus. Peter, du übernimmst die Aufsicht!“ Sie packte ihre Bücher zusammen und verließ das Klassenzimmer.

Sofort wurden alle noch viel lauter. Aber niemand wagte an die offenen Fenster zu gehen oder gar die Hände in den niedersinkenden Schnee zu halten. Frau Hübner wußte schon, warum sie Peter zum Aufpasser gemacht hatte. Er war ein starker Junge, der auch nicht davor zurückschreckte, Kopfnüsse zu verteilen, wenn es galt, Ordnung zu schaffen.

„Ruhe!“ donnerte er. „Man versteht ja sein eigenes Wort nicht!“ Kräftig hieb er das große Lineal auf den Lehrertisch.

In die Stille hinein, die daraufhin entstand, sagte Norbert aufmüpfig: „Gib doch nicht so an, du S-treber!“

Die Klasse gröhlte.

Peter hob das Lineal, als wollte er ihm eines überziehen. Aber Norberts braune Augen funkelten ihn so zornig an, daß er es lieber sein ließ. Auf eine Rauferei wollte er es doch nicht ankommen lassen.

„Selbst S-treber!“ sagte er nur, wobei er Norberts spitzes st nachahmte.

Die anderen kugelten sich.

Monika erhob die Stimme, um die anderen zu übertönen. „Allmählich langt’s. Der Witz hat so ’nen Bart. Stellt euch nur vor, wie ihr ausschauen würdet, wenn ihr ab mogen in Preußen zur Schule gehen müßtet!“

„Dös taat i nia!“ erklärte Peter in breitestem Bayerisch.

Aber die meisten hörten doch auf zu lachen, denn Monikas Worte hatten Eindruck gemacht.

Hinter sich hörte sie zwei Mädchen miteinander tuscheln.

„Du, ich glaub, die Moni spinnt auf den Preußen!“

„Sie sucht fei einen Freund!“

Wutentbrannt drehte Monika sich um. „Ihr irrt gewaltig“, zischte sie, „ich brauche keinen Freund … ich hab schon einen!“

„Ah, wirklich? Wie heißt er denn?“

„Amadeus.“

„Und wo geht er zur Schule?“

„Überhaupt nicht. Er braucht nicht mehr in die Schule zu gehen!“

Diese Behauptung machte Eindruck, und Monika spürte, daß sie Punkte gewonnen hatte. Da sie einen älteren Bruder hatte, der oft seinen Freund mitbrachte, war sie selber noch gar nicht an Jungen interessiert. Aber viele in der Klasse, das wußte sie, wünschten sich einen Freund, wenn sie auch selber noch nicht recht wußten warum. Daß sie nun einen Freund zu haben vorgab, der schon schulentlassen war, einen großen Jungen also, machte sie beneidenswert.

Mehr noch freute es Monika, daß Norbert, als er in der nächsten Stunde wieder „über den s-pitzen S-tein s-tolperte“ nicht mehr ausgelacht wurde. Sie hoffte, daß es damit nun endgültig vorbei sein würde.

Als die Schule aus war, hatte es aufgehört zu schneien, aber die weiße Pracht bedeckte den Bürgersteig und die Straßen um einen guten halben Meter. Es hatte schon die ganze Nacht geschneit, und die Räumfahrzeuge hatten den Schnee noch nicht beiseite schaffen können. Die Fahrer der Omnibusse, die die Kinder aus der Umgebung in die Mittelpunktschule nach Geretsried zu bringen pflegten, hatten Schneeketten um die Räder legen müssen. Schneebälle flogen hin und her und gegen die Fensterscheiben, bis alle eingestiegen waren.

Monika, die nur zwanzig Minuten entfernt wohnte, konnte zu Fuß nach Hause gehen. Sie trug eine Skihose und hohe Stiefel, und es machte ihr Spaß, durch den tiefen Schnee zu stapfen.

„Ganz schön anstrengend, wie?“ sagte nach einer Weile eine wohlbekannte Stimme hinter ihr.

Sie drehte sich um und sah Norbert erstaunt an. Auch er pflegte nicht mit dem Bus zu kommen, aber das Haus, in das seine Eltern gezogen waren, lag auf der anderen Seite von Geretsried.

„Ich wollte dich nur etwas fragen“, erklärte er.

„Und deshalb stiefelst du hinter mir her? Das hättest du schon vorhin tun können.“

„Da waren wir nicht allein.“

Monikas Augen wurden immer größer. Sie konnte sich nicht vorstellen, warum Norbert mit ihr allein sein wollte.

„Hast du wirklich einen Freund?“ fragte er.

„Wie kommst du darauf?“

„Einen, der Amadeus heißt und nicht mehr zur Schule zu gehen braucht?“

Monika hatte es schon bereut, daß sie sich mit der Freundschaft von Amadeus aufgespielt hatte und es so schnell wie möglich vergessen wollen. Immerhin war es nicht gelogen gewesen. Aber unmöglich konnte sie Norbert jetzt erklären, daß dieser Amadeus ein Hausgespenst war, der behauptete, ein zwölfjähriger Junge zu sein und immer wieder französische Brocken in die Unterhaltung einfließen ließ. Das hätte Norbert kaum geglaubt, ganz davon abgesehen, daß sie ihren Eltern versprochen hatte, mit niemandem darüber zu reden.

„Warum willst du das denn wissen?“ fragte sie unbehaglich.

„Nur eben so.“

„Ich finde, es geht dich nichts an.“

„Dann hast du wohl nur angegeben?“ fragte Norbert.

„Denk, was du willst!“ Monika wandte sich ab und begann weiterzustapfen, sehr froh, daß sie ohne eine direkte Lüge davongekommen war.

Aber Norbert holte sie schnell wieder ein. „Du, ich komm dich mal besuchen, ja?“

„Lieber nicht!“ sagte Monika impulsiv, dann erst wurde ihr klar, daß Norbert sich durch diese Abfuhr gekränkt fühlen mußte. „Ich habe ein Pferd, weißt du, das ich selber versorgen muß“, fügte sie hinzu, „und überhaupt furchtbar viel zu tun.“ Sie hatte sich zu ihm umgedreht und sah seine Enttäuschung.

„Schade“, sagte er.

Sie begriff, wie einsam er sich in der fremden Umgebung fühlte und wie sehr er gehofft hatte, bei ihr Anschluß zu finden. „Vielleicht können wir uns mal irgendwo treffen“, schlug sie halbherzig vor.

„Wann?“

„Darüber sprechen wir morgen.“

„Oder magst du mich nicht?“ fragte Norbert. „Findest du mich auch komisch?“

„Nein, nein, bestimmt nicht. Du bist sehr nett, und das mit dem st ist auch gar nicht schlimm.“

„Ich versuche schon, es mir abzugewöhnen, aber das ist nicht leicht.“

„Glaub ich dir ja.“

„Also, wir sehen uns mal … außerhalb der Schule, meine ich?“

„Bestimmt“, versprach Monika, „aber jetzt mußt du wohl nach Hause gehen, sonst kriegst du Ärger.“

„Meine Eltern sind nicht so.“

„Wie schön für dich.“

Inzwischen hatten sie die Weggabelung erreicht, an der es links zum Weiler Heidholzen und geradeaus zum Haus am Seerosenteich ging, in dem die Familie Schmidt wohnte. Die Wege wären übrigens gar nicht mehr zu finden gewesen, wenn sie nicht auf beiden Seiten vorsorglich mit langen Schneestöcken gekennzeichnet worden wären. Das breite Haus lag geduckt unter dem Giebeldach, auf dem sich der Schnee türmte. Schnee lag auch auf der Brüstung des kunstvoll geschnitzten alten Balkongitters. Aus dem Kamin wehten Rauchfahnen. Auch jetzt im Winter wirkte das Haus mit seinen langgestreckten Nebengebäuden, dem Stall, in dem Monika ihr Pferd untergebracht hatte, und der Scheune, in der sich die Mutter ihre heißersehnte Töpferwerkstatt eingerichtet hatte, sehr eindrucksvoll.

„Donnerwetter“, sagte Norbert, „das ist aber mal ein schönes großes Haus! Hast du ’ne Ahnung, wer da wohnt?“

„Ich!“ erklärte Monika nicht ohne Stolz.

„Ich dachte, du kämst aus Heidholzen!“

„Das Haus gehört zu Heidholzen.“

„Ach so. Wohnt ihr schon immer hier?“

„Nein, erst ein Jahr. Vorher lebten wir in München. Aber das ist eine lange Geschichte, die erzähl ich dir ein andermal. Jetzt mußt du wirklich nach Hause.“

„Warum?“ fragte Norbert erstaunt. „Ich kann dich doch noch ein S-tück begleiten!“

Monika begann nervös zu werden, denn sie wußte aus Erfahrung, daß sie gleich das Gebiet betreten würden, in dem Amadeus sein Unwesen oder, wenn man so will, sein Wesen treiben konnte. „Das möchte ich wirklich nicht“, erklärte sie mit Festigkeit. „Bitte, geh!“

„Meinst du, daß deine Mutter schimpfen könnte?“

Monika war nahe daran ja zu sagen, aber dann kam ihr diese Erklärung doch zu dumm vor. „Nein“, sagte sie, „ich möchte einfach, bevor ich nach Hause komme und alle auf mich einstürmen, erst noch ein bißchen allein sein, verstehst du das denn nicht?“

Norbert schnappte fast hörbar ein. „Du willst mich loswerden!“ sagte er beleidigt.

Er tat Monika leid, sie mochte ihn ganz gern und hatte ihn nicht kränken wollen. Dennoch sagte sie: „Nenn es, wie du willst, aber verschwinde!“

Das wirkte. Grußlos drehte Norbert sich um. Monika sah ihm nach, um sich zu vergewissern, daß er wirklich ging. Gleichzeitig zerbrach sie sich den Kopf, um ein versöhnliches Wort zu finden, das aber nicht freundlich genug war, ihn zurückzuhalten. Da flog ein wohlgeformter Schneeball über sie hinweg und traf Norbert – patsch! – mitten auf den Hinterkopf.

Norbert drehte sich um. Er dachte, daß Monika ihn beworfen hätte. „Wenn du eine Schneeballschlacht willst, die kannst du haben!“ Er bückte sich nieder.

Monika blickte vorsichtshalber hinter sich, aber es war genauso, wie sie schon geahnt hatte: Kein Mensch stand hinter ihr.

„Amadeus“, flüsterte sie böse, „muß denn das sein!?“

Norberts Ball flog an ihr vorbei, aber schon bückte er sich wieder, um den nächsten Ball zu formen. Monika blieb nichts anderes übrig, als es ihm gleichzutun, und nun flogen die Bälle lustig hin und her. Doch Norbert konnte sich bemühen, wie er wollte, zu ihm flogen doppelt soviel Bälle, wie er selber losschicken konnte, und er bekam die meisten Treffer ab. Bald sah er aus wie ein Schneemann. Endlich traf ihn ein Ball mitten in den vor Aufregung geöffneten Mund. Er mußte spucken und husten.

„Ich kann nicht mehr!“ rief er und legte sich, zum Zeichen seiner Niederlage, mit ausgebreiteten Armen auf den Rücken in den Schnee.

Dennoch traf ihn ein Ball noch mitten auf der Brust.

„Du bist gemein!“ rief er. „Ein ganz gemeines S-tück! Wo du doch siehst, daß ich nicht mehr kann!“

„Amadeus!“ zischte Monika. „Wenn du jetzt nicht sofort, wenn du nicht auf der S-telle …“ Sie merkte, daß sie unwillkürlich Norberts spitzes st übernommen hatte, und verbesserte sich: „… auf der Stelle aufhörst, spreche ich nie mehr ein Wort mit dir!“

„Mit wem redest du denn da?“ fragte Norbert erstaunt.

„Mit dir“, erwiderte Monika prompt, „ich habe mich bei dir entschuldigt.“

„Das hättest du ruhig ein bißchen lauter tun können!“

„Also denn … entschuldige bitte, lieber Norbert! Ich hatte den letzten Ball schon geformt, da ist er mir einfach aus der Hand gerutscht.“

„Du hast vielleicht ein Tempo vorgelegt! So was habe ich noch nie erlebt!“

„Übung macht den Meister! Das liegt sicher daran, daß wir hier in Oberbayern viel mehr Schnee haben als ihr oben im Norden“, schwindelte Monika.

„Trotzdem … ich bin ganz weg!“

„Dann wünsche ich dir gute Erholung, pfüat di!“ Dann wurde ihr klar, daß Norbert diesen bayerischen Gruß, der auf hochdeutsch soviel wie „Gott behüte dich“ heißt, wahrscheinlich nicht verstand und fügte „Tschüs!“ hinzu, was, wie jeder Mensch weiß, eine Verballhornung des französischen „adieu“ ist. „Dann bis morgen!“

Während Norbert sich noch aufrappelte und den Schnee von seinem Anorak klopfte, strebte sie, so schnell sie konnte, dem Haus zu.

So ärgerlich sie auch zuerst gewesen war, mußte sie jetzt doch in sich hineinkichern: Ein Spaß war es doch!

Bravo, liebes Hausgespenst

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