Читать книгу Die Klasse ist für Petra - Marie Louise Fischer - Страница 4
Eine schlimme Enttäuschung
ОглавлениеEin Umzug ist immer etwas sehr Aufregendes, besonders, wenn die neue Wohnung in einer fremden Stadt liegt.
Petra Sartorius mit ihren zwölf Jahren hatte schon viele Umzüge erlebt, weil ihre beiden Eltern Opernsänger waren. Zugleich mit den Bühnen, an denen sie auftraten, wechselte die ganze Familie auch die Städte und die Wohnungen. Petra war schon daran gewöhnt, für sie bedeutete ein Umzug gar nichts Außergewöhnliches, aber diesmal war es doch besonders aufregend. Zum ersten Male war die Mutter nicht dabei. Sie hatte viele Gastspiele nach Südamerika abgeschlossen, und Siegfried, Petras älterer Bruder, war gleich aus den Ferien in ein Internat abgereist. So kam es, daß Petra zum ersten Male in ihrem Leben mit dem Vater ganz allein war, das heißt, beinahe ganz allein, denn natürlich hatte die alte Babette sie nicht im Stich gelassen. Sie gehörte schon in das Haus Sartorius, als Petra noch gar nicht auf der Welt war.
Petra mochte Babette fast so gern wie die Mutter, denn Babette hatte immer Zeit für sie. Als Petra noch ganz klein gewesen war, hatte die alte Babette ihr Puppenkleider genäht, sie getröstet, wenn sie mit einem Loch im Knie heimkam, und sie gepflegt, wenn sie fieberte. Mutter war ganz anders. Sie war sehr schön und sehr klug, und sie hatte so lange Fingernägel, daß sie gar nichts im Haushalt anpacken konnte, selbst wenn sie gewollt hätte. Immer sah sie so elegant aus wie aus einem Modeheft geschnitten, selbst wenn sie am frühen Morgen im Schlafrock zum Frühstück erschien. Man konnte es Mutter nie recht machen, jedenfalls Petra konnte es nicht.
„Ich begreife gar nicht, wie ich zu so einer Tochter komme“, sagte sie oft. Sie lachte natürlich dabei, aber Petra wußte trotzdem, daß ein bißchen Ernst dahinter steckte.
Mutter hatte sich ein anmutiges, hübsches Töchterchen gewünscht, das pfleglich mit seinen Kleidern umging, artig und wohlerzogen war, kurzum, ein Töchterchen, mit dem man sich sehen lassen konnte.
Das aber war Petra nicht. Sie war wild und unordentlich, brachte in jedes neue Kleid gleich am ersten Tag einen großen Flecken, wenn nicht gar einen Riß. Am liebsten lief sie in Hosen herum.
Und was sagte Vater? Wenn Petra nur an ihren schönen stattlichen Vater mit der tiefen warmen Stimme und dem braunen lockigen Haar dachte, wurde ihr das Herz heiß. Sie liebte ihren Vater über alles. Natürlich tadelte er sie auch oft genug, aber Petra wußte, daß er im Ernstfall immer zu ihr halten würde. Vater war ihr allerbester Freund.
Welches Pech, daß sie kein Junge geworden war! Siegfried hatte Glück gehabt. Er war ein Junge, aber er machte sich gar nichts daraus. Er war auch gar kein richtiger Junge, jedenfalls in Petras Augen nicht. Siegfried war eigenbrötlerisch und still, er las viel, musizierte für sich allein und hielt sich von seinen Altersgenossen fern. Aus seinen Anzügen wuchs er wohl heraus, aber sie waren dann meistens immer noch genausogut imstande wie am ersten Tag. Immer herrschte in seinem Zimmer peinlichste Ordnung, immer hielt die Mutter ihn Petra als Vorbild vor.
Nein, Petra war nicht traurig, daß Siegfried nicht mehr zu Hause war, und auch die Abwesenheit der Mutter war, bei Licht besehen, nicht allzu schlimm. Endlich hatte sie ihren Vater ganz für sich allein.
Aber vorläufig bekam sie nicht viel von ihm zu sehen. Die Proben im Opernhaus hatten schon begonnen, und solange die Wohnung noch nicht vollkommen eingerichtet war, kam der Vater nur zum Schlafen nach Hause.
„Ihr habt genug zu tun“, sagte er, „da will ich euch nicht auch noch Mühe mit dem Kochen machen!“
Petra und Babette hatten wahrhaftig genug zu tun. Als endlich die Möbel auf ihrem Platz standen und die Gardinen vor den Fenstern hingen, fing die eigentliche Arbeit erst an. Da mußten Koffer und Kisten geöffnet, Geschirr, Porzellan, Kleider, Bücher und Wäsche ausgepackt und alles an seinen Platz gestellt werden. Es war unheimlich, was bei so einem Umzug alles zum Vorschein kam, Dinge, die man längst vergessen hatte. Petra fand alte Kostüme der Mutter, die seit Jahren in der Mottenkiste geruht hatten, Puppen ohne Arme und ohne Köpfe, mit denen sie längst nicht mehr spielte, zerrissene Bilderbücher — alles hatte die gute Babette sorgfältig eingepackt.
Petra half mit Feuereifer. In normalen Zeiten war sie nicht einmal zu bewegen, ein Staubtuch in die Hand zu nehmen, aber bei einem Umzug war das alles ganz anders.
Voller Stolz führte sie den Vater, als er am Abend nach Hause kam, in sein neues Arbeitszimmer. Petra und Babette hatten den schönsten und größten Raum für den Vater ausgewählt, eine breite Glastür führte von seinem Zimmer aus in den Garten mit den schönen alten Bäumen, deren Blätter braun, golden und rot gegen den klaren Herbsthimmel leuchteten. Der Sessel und der Schreibtisch standen so, daß der Vater von seinem Platz aus gleich in den Garten schauen konnte. Hinter diesen Platz waren die Bücherregale so aufgestellt, daß er sich nur umzudrehen brauchte, um sich ein Buch auszuwählen.
Der große Flügel stand mitten im Raum. Der Messingfuß der Stehlampe war blitzblank geputzt, und auch die Aschenbecher funkelten fleckenlos. Selbst der große Perserteppich, den Petra hingebungsvoll mit einer Bürste und Essigwasser bearbeitet hatte, leuchtete wie seit langem nicht mehr.
„Fein“, sagte der Vater anerkennend und strich Petra durch das zersauste Haar.
„Mutter hat auch ein sehr schönes Zimmer gekriegt“, sagte Petra eifrig, „nicht ganz so groß — aber auch sehr schön. Das zweitschönste, sozusagen. Soll ich es dir zeigen?“
„Später mit Vergnügen. Aber jetzt würde es mich, ehrlich gestanden, mehr interessieren, ob ich etwas zu essen kriegen kann …“
„Natürlich kannst du das, Pappi! Babette hat was Feines gemacht … Apfelstrudel!“
„Na, denn los!“
Sie aßen alle zusammen in der Küche. Der Vater hatte sich zu Babettes Apfelstrudel eine Tasse Bohnenkaffee kochen lassen, Petra und Babette tranken Milch.
„Schmeckt es Ihnen, Herr Doktor?“ fragte Babette besorgt. „Wenn ich gewußt hätte, daß Sie heute abend zum Essen kommen würden …“
„Es schmeckt mir großartig. Nach dem ewigen Wirtshausessen sind eure knusprigen Apfelstrudel geradezu ein Gedicht!“
„Ab morgen kannst du wieder jeden Tag zum Essen kommen, Pappi! Nicht wahr, Babette?“ sagte Petra.
„Natürlich, Herr Doktor … jetzt sind wir aus dem Gröbsten heraus.“
„Freut mich zu hören. Vielleicht besteht dann auch die Möglichkeit, daß du dir das Haar schneiden und die Nägel in Ordnung bringen läßt, Petra, was?“
Petra strich sich unwillkürlich eine ihrer zerzausten blonden Locken aus der Stirn. „Klar, Pappi“, sagte sie, „ich hatte ohnehin vor, morgen einen Schönheitssalon aufzusuchen!“
Der Vater starrte sie an. Was!?“
Petra lachte wie ein Kobold.
„Ja, lach nur“, sagte der Vater, „da hast du mich wieder einmal ganz schön auf den Arm genommen … aber schaden würde dir ein Besuch beim Friseur ganz bestimmt nicht.“
„Schaden nicht … aber was soll es nutzen?“
„Wenn dich deine Mutter so sähe!“
„Ach, Mammi … sie sieht’s ja nicht, die ist doch jetzt, ich weiß nicht, wo!“
„Aber ich. Sie tritt heute abend in Buenos Aires auf!“
„Hat sie dir das geschrieben?“
„Klar …ich werde dir nachher ihren Brief vorlesen …“
„Und die Marken?“
„Bekommst du!“
„Prima. Es hat doch was für sich, wenn man eine Mutter hat, die in der Welt herumgondelt.“
„Wenn ich deiner Mutter schreiben würde, wie du hier herumläufst …“
„In langen Hosen, bitte! Das ist, lässig‘!“
„In einer Bluse, an der drei Knöpfe abgerissen sind“, sagte der Vater, „mit Händen … nein, zeig nur her, Verstecken gilt nicht!“ Er hatte ihre kleine Hand gepackt und hielt sie mit eisernem Griff. „Mit dreckigen Pfoten, Trauerrändern unter den Nägeln! Also weißt du, Petra, Umzug hin und her … die Hände hättest du dir ja schon vor dem Essen waschen können!“
„Vergessen“, sagte Petra rasch und war froh, als sie ihre Hand endlich zurückziehen konnte.
„Weißt du überhaupt, wie du aussiehst?“ fragte der Vater und sah sie prüfend an.
„Ich kann nichts dafür, daß ich keine Schönheit bin!“ sagte sie trotzig und stopfte sich einen großen Bissen Apfelstrudel in ihren Mund, der so breit war, daß Siegfried behauptet hatte, sie könnte den Spargel quer essen.
„Wie ein Junge!“ sagte der Vater.
„Au fein!“ schrie Petra mit vollem Mund.
„Wie ein Gassenjunge! Du darfst dich wirklich nicht beklagen, wenn deine Mutter nicht mit dir zufrieden ist.“
„Na, jetzt ist sie ja weg“, sagte Petra ungerührt.
„Aber sie kommt wieder. Wenn sie dich so verwahrlost vorfindet, dann können wir uns auf einiges gefaßt machen.“
„Hast du Angst vor Mammi?“ fragte Petra ernsthaft.
„Nein, aber ich wünschte, du hättest etwas mehr Angst vor mir.“
„Angst ist aber nichts Gutes“, sagte Petra und wischte sich mit dem Handrücken ihren Milchbart ab. „Nur Feiglinge haben Angst. Ich hab’ dich lieb.“
„Dann, bitte, mach mir die Freude und benimm dich wie ein anständiger Mensch. Wie ein Mädchen. Lauf nicht ’rum wie ein Hottentotte, wasch dir die Hände vor dem Essen, laß dir die Haare schneiden — das ist wohl das wenigste, was man von seiner Tochter verlangen kann.“
Plötzlich stiegen Petra die Tränen in die Augen. „Ach“, sagte sie kläglich.
„Habe ich dich gekränkt?“ fragte der Vater.
„Ja, das hast du. Da habe ich mir nun mit allem so viel Mühe gegeben, und du … und du … du hast bloß wieder was an mir auszusetzen. Man kann tun, was man will, immer bringe ich gute Zeugnisse mit nach Hause, nie bin ich krank, nie mach’ ich euch Sorgen, und bloß, weil ich nicht ’rumlaufen will wie eine Zierpuppe …“
„Also, Petra, nun mach aber mal einen Punkt. Niemand verlangt von dir, daß du wie eine Zierpuppe ’rumläufst. Was ich erwarte, ist einfach, daß du dich anständig anziehst und anständig wäschst. Hast du mich verstanden?“
„Ja, Pappi“, sagte Petra kleinlaut.
Babette ergriff ihre Partei. „Petra hat mir wirklich sehr tüchtig beim Umzug geholfen, Herr Doktor — alles, was recht ist. Und wenn jemanden die Schuld trifft, daß das Kind so unordentlich herumläuft …“
„Dann sind Sie es nicht, Babette! Versuchen Sie jetzt bloß nicht, Petra in Schutz zu nehmen. Ich kenne meine Tochter genausogut wie Sie. Ich weiß, daß sie sich in der Schule sehr viel Mühe gibt …“
„Hast du mich eigentlich angemeldet, Pappi?“ unterbrach Petra ihn.
„Wo?“
„Im Gymnasium natürlich.“
Der Vater faltete seine Serviette zusammen. „Gut, daß du mich daran erinnerst, Petra. Also, paß auf … mit dem Gymnasium wird es leider nichts …“
„Was!?“
„Starr mich nicht so an, es ist nicht meine Schuld. Hier in Narheim gibt es kein Mädchengymnasium …“
„Ich weiß doch, Pappi! Aber wir hatten doch besprochen …“
„Bitte, laß mich erst mal ausreden. Auf das hiesige Gymnasium gehen nur Jungens, dort werden Mädchen überhaupt nicht aufgenommen. Es wird uns also nichts anderes übrigbleiben …“
„Aber, Pappi, das geht doch gar nicht! Ich habe doch auf einem Gymnasium angefangen, da kann ich doch nicht einfach …“
„Der Mensch kann alles, wenn er muß. Ein Realgymnasium für Mädchen ist hier, und dort werden wir dich anmelden!“
„Ich will nicht auf ein Mädchenrealgymnasium gehen, ich … ich bin Gymnasiastin. Das ist ein himmelhoher Unterschied. Begreifst du das denn nicht, Pappi? Ich kann doch nicht einfach was ganz anderes lernen, nur weil es in diesem blöden Nest kein Gymnasium für Mädchen gibt!“
„Also erst einmal ist Narheim kein blödes Nest, sondern eine sehr kultivierte Stadt, und zweitens wird dir gar nichts anderes übrigbleiben, als auf das Realgymnasium für Mädchen zu gehen.“
„Hast du mit dem Direktor gesprochen?“
„Nein.“
„Siehst du! Wenn du mit ihm sprichst …“
„Petra! Ich habe dir gesagt, es geht nicht. Du kannst es mir schon glauben. Sie nehmen hier auf dem Gymnasium kein Mädchen auf. Das weiß ich mit absoluter Sicherheit. Es hat also gar keinen Zweck …“
„Das glaube ich nicht. Aber ich glaube, wenn man hingeht …“
„Also, bitte. Wenn du wieder einmal alles besser weißt … geh hin. Erkundige dich selber, melde dich an, du wirst ja sehen, was dabei herauskommt.“
„Und du … du kommst nicht mit mir?“
„Nein. Von mir aus mach deine Dummheiten, aber mach sie allein. Renn dir nur deinen Dickkopf ein. Wenn du gescheiter geworden bist, bin ich immer noch gerne bereit, dich in der Mädchenschule anzumelden!“
„Verdammt noch mal!“ sagte Petra laut und deutlich, aber sie sagte es lieber erst, als der Vater in sein Zimmer gegangen war.