Читать книгу Die Klasse ist für Petra - Marie Louise Fischer - Страница 6
Frechheit siegt
ОглавлениеDas neue Schuljahr begann in Narheim im Herbst, genaugenommen am 3. Oktober, und jetzt war erst Ende September. Das große rote Backsteingebäude, über dessen Portal in großen eingemeißelten Lettern die Worte „Friedrich-Schiller-Gymnasium“ standen, war wie ausgestorben. Es lag inmitten eines sehr großen Schulhofes, an dessen hinterster Ecke die Aschenbahn und die Sandgrube für Lauf- und Sprungübungen waren. Sonst gab es nichts Besonderes auf dem Schulhof zu sehen, nur ein paar Büsche an der Front zur Straße hin, der ganze Platz wirkte jetzt, ohne Jungens, weit, leer und öde. Die Gitterpforte, die auf den Schulhof führte, war nur angelehnt, aber die große eichene Haupttür war geschlossen.
Petra drückte mit klopfendem Herzen auf die Klingel. Es kam ihr vor, als wenn sie sehr lange warten mußte, bis die Tür geöffnet wurde. Plötzlich überkam sie heiße Angst. Was sollte sie machen, wenn man sie überhaupt nicht hineinließ? Vielleicht hatte Vater recht, vielleicht mußte man wirklich mit seinen Eltern hierherkommen, um sich anzumelden.
„He da!“ rief eine tiefe brummige Stimme. „Was gibt’s?“
Petra fuhr herum. Eine kleine Seitentür war geöffnet worden und der Hausmeister, ein dicker alter Mann mit einem riesigen Hängeschnurrbart, der ihm das Aussehen eines gutmütigen Seehundes gab, hatte sie angesprochen.
Petra nahm allen Mut zusammen. „Ich will zum Direktor“, sagte sie mit fester Stimme.
„Da könnte jeder kommen“, brummte der Pedell.
„Ich muß zum Direktor“, wiederholte Petra.
„Weshalb, wenn ich bitten darf?“
„Ich möchte mich anmelden — ich bin ein neuer Schüler!“
„Ach so. Na, dann komm mal ’rein!“
„Ist der Direktor da?“ fragte Petra, als sie am Pedell vorbei in das Schulgebäude schlüpfte.
„Erstens heißt es der Herr Direktor, und zweitens hätte ich dich gar nicht ’reingelassen, wenn er nicht da wäre!“
„Ach so. Entschuldigen Sie bitte!“
„Manieren haben die Leute heutzutage“, brummte der Pedell, „zu meiner Zeit …“
„Ist heute nicht mehr Ihre Zeit?“ fragte Petra.
„Wieso?“ sagte der Pedell verblüfft.
„Na, ich meine, Sie leben ja schließlich noch … oder sind Sie ausgestopft?“
„Du kannst gleich eine fangen“, sagte der Pedell, „dann kannst du selber entscheiden, ob ich noch lebendig bin …“
Der Pedell packte Petra mit festem Griff in den Nacken, Petra kam sich vor wie ein gefangenes Kaninchen und brüllte laut: „Aua! Lassen Sie mich los! Sie …“
„Dir werde ich’s schon zeigen!“ sagte der Pedell nicht einmal unfreundlich, und schüttelte sie hin und her.
Petra zappelte aus Leibeskräften, um loszukommen, und ehe sie selber wußte, wie es geschah, hatte sie ihn sehr kräftig und nachdrücklich gegen das Schienbein getreten.
Jetzt brüllte der Pedell: „Aua!“ und ließ Petra los.
Er rieb sich sein Bein, Petra massierte sich ihren Nacken.
„Du verdammter Bengel, du!“ schimpfte der Pedell. „So einer wie du hat uns hier noch grade gefehlt! Aber warte nur, dich werden wir schon kleinkriegen … du, Lausejunge, du verdammter!“
Sie hatten beide im Eifer des Gefechts nicht gemerkt, daß sich eine Tür geöffnet hatte und der Herr Direktor persönlich auf den langen Gang hinausgetreten war. Er hatte sich die Brille abgenommen, rieb sich noch einmal die Augen und sagte dann ärgerlich: „Was soll dieses Getöse?“
„Entschuldigen Sie bitte, Herr Direktor“, sagte der Pedell und richtete sich auf, „aber …“
„Ich habe den Herrn Pedell getreten, Herr Direktor“, sagte Petra rasch, „aber nicht mit Absicht …. bloß aus Versehen!“
„Ist das wahr?“ fragte der Direktor.
„Jawohl, Herr Direktor!“ sagte der Pedell rasch, sichtlich erleichtert, daß Petra die ganze Schuld auf sich genommen hatte.
„Na schön. Aber das ist, meiner Meinung nach, immer noch kein Grund, ein solches Geschrei zu machen.“ Er wandte sich an Petra. „Was willst du überhaupt hier? Kannst du nicht erwarten, bis die Schulferien zu Ende sind?“
„Ich bin ein Neuer, Herr Direktor“, sagte Petra, „und möchte mich anmelden.“
„Gut. Komm herein.“
Petra trat in das Zimmer des Direktors. Es war ein großer heller Raum mit vielen Aktenschränken, einem riesigen Schreibtisch und einem abgetretenen Teppich auf dem Boden.
„Hast du deine Papiere mitgebracht?“ fragte der Direktor, der sich schon hinter dem Schreibtisch niedergelassen hatte.
„Jawohl, Herr Direktor!“ Petra machte eine Verbeugung, die so ungeschickt ausfiel, daß sie beinahe gestolpert wäre.
Der Herr Direktor nahm keine Notiz davon, er überflog prüfend Petras Zeugnis, das sie ihm mit den anderen Papieren gereicht hatte.
„Na ja“, sagte er, „ich sehe, ganz ordentlich … Latein sehr gut, erstaunlich. In unserer Schule sind wir etwas zurückhaltender mit solchen Vorzugsnoten. Ich möchte dir raten, dich gleich darauf einzustellen.“
„Jawohl, Herr Direktor … aber ich hatte im letzten Halbjahr alle Arbeiten bis auf eine mit einer Eins geschrieben.“
„Donnerwetter! Dann bist du ja wahrhaftig ein Musterschüler.“
„Beinahe“, sagte Petra.
„Wo hapert’s denn?“
„Betragen“, sagte Petra kleinlaut.
Der Direktor verbarg seinen Mund hinter der Hand, aber Petra merkte an seinen Augen, daß er lächelte. Er legte das Zeugnis beiseite und überflog prüfend ihren Geburtsschein. „Wie heißt du?“ fragte er erstaunt.
Petra schoß eine Blutwelle in die Stirn. Jetzt hatte er es doch entdeckt! „Peter Sartorius“, sagte sie trotzdem mit zitternder Stimme.
„Aber hier steht doch … Petra!“
„Jawohl, Herr Direktor, ich weiß … meine Eltern haben sich damals ein Mädchen gewünscht … aber genannt werde ich Peter.“ Sie biß sich auf die Lippen, versuchte die Tränen herunterzuschlucken, die ihr unwillkürlich in die Augen traten.
Der Direktor streifte sie mit einem Seitenblick. „Na ja … ich verstehe … nicht gerade angenehm für dich. Du wirst einiges von deinen Mitschülern auszustehen haben, wenn das herauskommt …“
„Ich weiß, Herr Direktor“, sagte Petra mit schwankender Stimme, „aber … vielleicht … es braucht’s doch niemand zu erfahren!“ Plötzlich kam ihr ein Einfall. „Schließlich kann ich doch nicht auf eine Mädchenschule gehen, nur weil ich Petra getauft worden bin!“
„Auch wieder richtig“, sagte der Direktor friedfertig.
„Herr Direktor“, sagte Petra flehend, „Sie werden mich doch aufnehmen, nicht wahr? Ich … ich möchte so gerne weiter aufs Gymnasium gehen, ich habe doch schon zwei Klassen hinter mir … und wirtlich …. ich will mir alle Mühe geben … besonders im Betragen.“
Der Direktor sah Petra erstaunt an. „Ja, was glaubst du denn? Meinst du etwa, wir würden dich nicht aufnehmen, nur weil du Petra heißt?“
„Ja, das hatte ich mir gedacht. Mein Vater hat gesagt … die nehmen dich bestimmt nicht.“
„Was ist denn dein Vater?“
„Opernsänger — das heißt, er singt auch in Konzerten …“
„Sartorius? Ist dein Vater etwa der bekannte Bariton Sartorius?“
„Jawohl, Herr Direktor!“ sagte Petra strahlend.
„Das ist ja wunderbar! Kannst du selber auch singen?“
„Na klar! Das ist doch kein Kunststück.“
Der Direktor lachte. „Für manche Jungens doch, das kannst du mir glauben …. aber das ist großartig. Ich hoffe, du wirst dann auch in unseren Schülerchor eintreten … ich werde dich gleich einschreiben!“ Er machte sich eine Notiz. „Wir haben nämlich einen sehr schönen Chor beisammen, und unser Gesangspädagoge, Herr Dr. Kalbshorn, legt auf schöne Knabenstimmen sehr viel Wert.“
Petra hörte schon gar nicht mehr richtig zu. Das einzige, was sie begriffen hatte, war, daß sie aufgenommen war — alles andere interessierte sie nicht mehr. Sie zappelte vor Ungeduld von einem Bein auf das andere.
„So“, sagte der Direktor, „na schön, du weißt, die Schule fängt am Dienstag an. Du gehörst in die Quarta b, merk dir das, Quarta b … ich denke, ich brauche dir deine Klasse nicht zu zeigen, die wirst du leicht selber finden. Bitte, bestell deinem Vater einen schönen Gruß von mir …“
„Danke, Herr Direktor!“
Der Direktor schüttelte Petra die Hand, sie machte eine Verbeugung, die schon besser ausfiel als das erste Mal, und ging dann gemessenen Schrittes zur Tür. Kaum aber war die Tür des Direktorzimmers hinter ihr ins Schloß gefallen, da rannte sie schon den Gang hinunter — „Wie ein Schimpanse, den man aus dem Käfig gelassen hatte“, brummelte der Pedell mißbilligend — und auf die Straße hinaus.
Am liebsten hätte sie laut gesungen vor Freude, aber rennen und gleichzeitig singen, das ist wohl zuviel.
Babette und der Vater warteten schon auf sie mit dem Mittagessen, als sie in die Wohnung hineingeschossen kam.
„Pappi“, brüllte Petra statt jeder Begrüßung, „ich habe die Wette gewonnen … gewonnen … gewonnen!“
„Was für eine Wette?“ antwortete der Vater verblüfft. „Ich wüßte nicht, daß ich mit dir gewettet hätte.“
Dann erst sah er ihren Aufzug. „Um Himmels willen, Petra! Wie siehst du denn aus? Hast du Theater gespielt oder was ist mit dir los?“
„Das gehört doch dazu, Pappi, begreifst du denn nicht?“
„Woher hast du überhaupt diesen Anzug? Was ist mit deinem Haar passiert? Du siehst ja wahrhaftig aus wie ein richtiger Junge!“
„Das wollte ich doch grade, Pappi, das mußte doch so sein, sonst hätten sie mich doch nicht im Gymnasium aufgenommen …“
„Hast du dich etwa angemeldet?“
„Ja, Pappi, und der Direktor sagt, daß alles in Ordnung ist, ich komme in die Quarta b. Ist das nicht wundervoll?!“
„Halt mal … jetzt erzähl mir die ganze Geschichte der Reihe nach! Hast du dem Direktor etwa weisgemacht, daß du ein Junge bist?“
„Überhaupt nicht“, sagte Petra, „weil ich in Jungenkleidern gekommen bin, hat er das einfach geglaubt … ich habe bestimmt kein Wort davon gesagt, ich lüge doch nicht.“
„Ist es ihm denn nicht aufgefallen, daß du Petra heißt?“
„Doch. Schon. Aber da habe ich gesagt, ihr hättet euch so sehr ein Mädchen gewünscht … das stimmt doch, nicht wahr, Pappi? Das war doch nicht gelogen. Ihr habt euch doch wirklich ein Mädchen gewünscht!“
„Was hat er dazu gesagt?“
„Ich habe ihm gesagt, daß du Sänger bist … und da hat er gesagt: ‚Ach so‘.“
„Petra … Petra …Petra …“, sagte der Vater kopfschüttelnd. „Sachen machst du. Hast du eigentlich schon einmal darüber nachgedacht, wie die Geschichte jetzt weitergehen soll?“
„Ich darf aufs Gymnasium gehen, das ist die Hauptsache!“
„Ja, das ist wahr, aber die Hauptsache ist es nicht. Die Hauptsache ist, daß sie dich als Jungen aufgenommen haben, und nicht als Mädchen. Wenn du also wirklich aufs Gymnasium gehen willst, mußt du weiter als Junge dorthin gehen. Jeden Tag. Du mußt in eine Jungenklasse gehen, und die Jungens werden dich nicht anders behandeln, als jeden anderen ihrer Mitschüler. Du wirst nie mehr ein schönes Kleid anziehen können, denn sonst kommt alles heraus. Nicht einmal eine Freundin wirst du finden, wenn alle dich für einen Jungen halten. Was sollen wir Mutter sagen, wenn sie Weihnachten nach Hause kommt?“
„Weihnachten?“ Petra lachte. „Bis Weihnachten, das dauert doch noch eine Ewigkeit!“
„Drei Monate“, sagte der Vater.
„Was die blöden Röcke betrifft, darauf pfeife ich. Ich möchte viel, viel lieber ein Junge sein … Pappi, bitte, laß mich doch! Du weißt ja gar nicht, was für ein Heidenspaß das sein wird. Stell dir bloß vor, ich werde endlich Fußball spielen können und Eishockey und ich weiß nicht was, und niemand wird mehr sagen … das schickt sich nicht für ein Mädchen. Bitte, bitte, lieber Pappi, sag ja!“
„Ich weiß nicht, ob ich das verantworten kann“, sagte der Vater.
„Doch, das kannst du! Ganz bestimmt. Was soll denn schon passieren?“
„Wenn es herauskommt, fliegst du von der Schule.“
„Aber es braucht doch gar nicht herauszukommen, Pappi. Wenn du mitmachst …“
„Aha, da haben wir es. Ich soll also mitmachen. Babette natürlich auch, und womöglich auch noch deine Mutter und Siegfried. Wir alle sollen lügen und schwindeln, nur damit du nicht erwischt wirst. Ist das nicht ein bißchen viel verlangt?“
„Gar nicht“, behauptete Petra überzeugt. „Ihr braucht nichts weiter zu tun, als Peter zu mir zu sagen und mich zu behandeln, als wenn ich ein Junge wäre. Ich schwöre dir, der Direktor ist gar nicht darauf gekommen, daß ich vielleicht ein Mädchen sein könnte. Niemand wird darauf kommen, wenn man es ihm nicht auf die Nase bindet. Daß ihr das nicht tut, das ist alles, was ich von euch verlange!“
„Du verlangst es?“
„Bitte, wollte ich natürlich sagen … bitte, bitte, lieber Pappi, mach mit! Sieh mal, du weißt doch genau, wie es bei uns ist … vielleicht sind wir im nächsten Jahr schon wieder in einer anderen Stadt. Dann kann ich auch wieder eine Mädchenschule besuchen. Pappi, verstehst du denn nicht? Mir kommt es doch nur aufs Lernen an!“
„Nur?“ fragte der Vater augenzwinkernd.
„Na ja“, gab Petra zu. „Nicht nur. Aber hauptsächlich. Das andere, das ist doch ein herrlicher Spaß! Nicht wahr, Pappi, du gehst nicht zum Herrn Direktor, du darfst mich nicht so blamieren. Hörst du?“—
An diesem Abend schrieb Paul Sartorius einen langen Brief an seine Frau in Argentinien. Er erzählte die ganze Geschichte, und zum Schluß schrieb er: „Du kannst dir vorstellen, liebe Helene, daß ich nur schweren Herzens mein Einverständnis zu dieser tolldreisten Komödie gegeben habe. Ich weiß, du wirst über uns den Kopf schütteln und denken: Solche Dummheiten können auch nur passieren, wenn ich nicht zu Hause bin. Aber vielleicht ist es auch gar keine Dummheit, Helene. Vielleicht wird Petra, wenn sie jetzt als Junge in eine Jungenschule gehen darf und muß, ganz plötzlich entdecken, daß es doch auch sehr schön ist, ein Mädchen zu sein. Vielleicht wird sie dann endlich so werden, wie du dir deine Tochter gewünscht hast — ein richtiges Mädchen, das gelernt hat, sich mädchenhaft zu betragen.“