Читать книгу Ein Mädchen kommt ins Landschulheim - Marie Louise Fischer - Страница 5
Leona kämpft mit allen Mitteln
ОглавлениеAls Leona die geschwungene Treppe zu dem Restaurant hinaufstieg, knurrte ihr der Magen, und ihre Wangen glühten von der kalten Luft. Jeder Tisch war besetzt, und sie sah sich suchend um.
Ein Angestellter in schwarzem Smoking trat auf sie zu. „Sind Sie verabredet?“
Es tat Leona unendlich wohl, gesiezt zu werden. „Ja, mit Herrn Heuer … Peter Heuer, dem Redakteur“, erklärte sie.
„Herr Heuer ist schon hier! Er sitzt drüben am Fenster. Darf ich Sie führen?“
Leona folgte dem Geschäftsführer. Ihr Vater saß allein an einem kleinen Fenstertisch und studierte die Speisekarte. Obwohl Leona im Augenblick sehr schlecht auf ihn zu sprechen war, mußte sie zugeben, daß er gut aussah. Er trug das dunkelblonde, dichte Haar ziemlich lang, hatte ein gepflegtes Bärtchen zwischen der Oberlippe und der Nase und ein Kinn mit einem lustigen Grübchen.
Allerdings fand Leona, daß er in Jeans und Rollkragenpullover zu sportlich gekleidet war – jedenfalls für diese feine Umgebung und für sein Alter. Er war immerhin schon vierunddreißig Jahre und damit nicht mehr taufrisch.
Sie begrüßte ihn mit Würde.
„Nanu, wie siehst du denn aus?“ fragte er. „Bist du in einen Farbtopf gefallen?“
„Ich habe mich für dich schön gemacht.“ Sie schenkte ihm ein überlegenes Lächeln. „Es tut mir leid, wenn ich deinen Geschmack nicht getroffen habe.“
Er verzichtete auf eine Antwort und reichte ihr die Speisekarte. Sie wählte einen Crevettencocktail, Artischockenböden mit warmer Soße und zum Nachtisch Maroneneis mit Pflaumen. Ihr Vater entschied sich für ein Steak. Als er die Bestellung aufgegeben hatte, entstand ein lastendes Schweigen zwischen ihnen.
Leona entschloß sich, den Stier bei den Hörnern zu packen.
„Wolltest du mir nicht was sagen, Vati?“
„Ja, ich habe dir etwas zu eröffnen. Aber ich glaube, wir sollten damit bis nach dem Essen warten.“
„Oh, warum denn? Ich lasse mir so leicht nicht den Appetit verderben.“
„Na gut, ganz wie du willst. Also: Deine Mutter und ich sind übereingekommen, uns zu trennen.“
„Habe ich mir gedacht“, sagte Leona mit einer gewissen Befriedigung, weil die Mutter ihren Rat befolgt hatte.
„Erst mal vorübergehend. Nicht, daß wir böse aufeinander wären. Wir haben einfach zu jung geheiratet, verstehst du. Ich kann mich nicht ein ganzes Leben an die Kette legen, und für deine Mutter ist es kein Zustand, dauernd allein zu Hause zu hocken.“
„Das habe ich ihr auch schon gesagt.“
„Wie gut, daß du so einsichtig bist. Sie wird also in ihren Beruf zurückkehren. Nun hör mir mal gut zu, Leona. Wir beide, deine Mutter und ich, finden, daß es nicht gut für dich wäre, mit ihr allein zu leben. Du bist ohnehin schon zu altklug, eine Einzelgängerin … “
„Das stimmt doch gar nicht!“
„Leider doch. Du gehörst unter junge Menschen, die … “ Leona fiel ihm ins Wort. „Aber ich bin unter jungen Leuten. Ich habe Freundinnen!“
„Wen denn?“
Diese Frage brachte Leona doch ein bißchen in Verlegenheit.
„Na, Babsi zum Beispiel“, behauptete Sie und spürte selber, daß das nicht sehr überzeugend klang.
„Babsi von nebenan! Na hör mal!“ Peter Heuer lachte. „Der hast du dich doch von jeher haushoch überlegen gefühlt.“
„Deshalb kann sie doch trotzdem meine Freundin sein.“
„Das zeigt mir, daß du keine Ahnung hast, was Freundschaft überhaupt bedeutet. Du nutzt Babsi doch nur aus.“
In Leonas graue Augen kam ein gefährliches Funkeln. „Und das. hältst ausgerechnet du mir vor, wo du Mutti behandelst wie … “
„Über meine Ehe möchte ich nicht mit dir diskutieren!“ sagte Herr Heuer scharf.
„Und ich nicht mit dir über meine Freundinnen!“ fauchte Leona zurück.
Vater und Tochter starrten sich wütend in die Augen.
Dann kam zum Glück der Ober und stellte den Crevettencocktail vor Leona und ein Glas Sherry vor Herrn Heuer.
„Fang schon an“, sagte der Vater.
Leona war die Lust zum Essen eigentlich vergangen, aber die winzigen rosigen Krebschen in der delikaten Soße blickten sie doch zu verlockend an; sie konnte nicht widerstehen.
Herr Heuer hatte einen Schluck Sherry genommen und begann das Gespräch nach einer Weile von neuem.
„Ich gebe ja zu, daß ich mich deiner Mutter gegenüber nicht immer richtig verhalten habe. Wahrscheinlich bin ich sogar selber schuld, daß du dich zu sehr an sie gehängt hast. Sie war zuviel allein. Da habt ihr beide euch einfach daran gewöhnt, dauernd zusammen zu glucken. Also, bitte, von mir aus … ich bin der große Sündenbock.“
Leona merkte sehr wohl, daß der Vater ihr eine Brücke baute, aber sie dachte nicht daran, sie zu betreten; sehr damenhaft tupfte sie sich die Lippen ab und erklärte mit Nachdruck: „Ich kann nichts dabei finden, daß Mutti und ich uns gut verstehen. Wahrscheinlich bist du nur eifersüchtig!“
„Ich? Eifersüchtig?“ Vor Überraschung wurde der Vater laut, merkte es selber und dämpfte die Stimme. „Das soll wohl ein Witz sein?“
„Aber wieso denn?“ erwiderte Leona unerschüttert. „Das liegt doch auf der Hand.“
Peter Heuer leerte sein Glas. „Leider muß ich feststellen, daß mit dir wirklich nicht mehr zu reden ist.“
„Dann lassen wir’s eben.“ Leona machte sich wieder über ihre Vorspeise her.
„Das könnte dir so passen. Nein, so kommst du mir nicht davon. Ich habe dir etwas zu sagen, und ich werde es dir jetzt sagen. Wenn wir uns trennen, bleibst du nicht bei deiner Mutter.“
Leona fiel fast die kleine Gabel aus der Hand. „Du willst mich fortgeben?“
„Nicht ich. Deine Mutter und ich haben gemeinsam beschlossen … “
„Das ist einfach nicht wahr!“ Leona sprang auf und stieß den Stuhl zurück.
„Doch. Und jetzt setz dich gefälligst hin und hör mich an.“
„Du wirst mir nicht weismachen, daß Mutti mich loswerden will!“
„Niemand will dich loswerden, Leona. In deinem eigenen Interesse sind wir übereingekommen, daß es nicht gut für dich wäre, dich noch enger an sie anzuschließen, was zwangsläufig geschehen würde, wenn ich ausgezogen bin.“
„Wenn du erst weg bist, kann es dir doch ganz egal sein, was wir machen!“ Leona stand immer noch.
„Das kannst du doch nicht wirklich glauben. Wie es auch mit deiner Mutter und mir weitergeht, du bist und bleibst immer meine Tochter … “
„ … die du in die Wüste schicken willst!“
„Nicht in die Wüste, Leona, in ein Internat!“
Leona war inzwischen auf etwas Ähnliches vorbereitet gewesen, dennoch verschlug es ihr die Sprache.
„Wir haben das Landschulheim Rabenstein für dich ausgesucht“, erklärte der Vater, „vielleicht hast du schon davon gehört, ein wirklich fabelhaftes …“
„Niemals! Nie kriegt ihr mich dahin!“ Leona war weiß bis an die Lippen geworden.
Der Ober servierte die Artischocken und das Steak.
„Hm, das sieht gut aus“, sagte der Vater, um Leona abzulenken, „nun iß erst mal, und dann …“
„Ach, verdammt, steck dir doch deine Artischocken an den Hut!“ schrie Leona völlig außer sich und ganz undamenhaft, drehte sich um und rannte aus dem Restaurant.
Es dauerte eine gute halbe Stunde, bis Leona sich soweit gefaßt hatte, daß sie ihrer Mutter unter die Augen treten konnte. Sie wollte nicht wie ein heulendes Baby angerannt kommen, denn es war ihr doch so wichtig, von der Mutter ernstgenommen zu werden.
Also war sie erst einmal durch die Straßen gelaufen, hatte sich dann in dem kleinen, noch vorfrühlingskahlen Shakespearepark auf eine Bank gesetzt und erst einmal ausgeschluchzt. Danach hatte sie die verlaufene Wimperntusche und die verschmierten Lidschatten so gut es ging mit Spucke weggewischt.
Endlich wurde ihr bewußt, daß sie in ihrem hübschen Kleid und ohne Mantel erbärmlich fror, und sie beeilte sich, nach Hause zu kommen.
Leona verstand jetzt schon selbst nicht mehr, warum sie sich so aufgeregt hatte.
Das Ganze konnte doch nur eine Schikane vom Vater sein. Sie sollte fort, damit die Mutter ganz allein blieb und ihm tüchtig nachtrauerte. Es war doch ausgeschlossen, daß sie mit ihm unter einer Decke steckte.
So setzte sie sogar ein Lächeln auf, als Irene Heuer ihr die Wohnungstür öffnete.
„Na, wie ist es gegangen?“ fragte die Mutter.
An jedem anderen Tag hätte Leona gleich losgelegt. Aber seit ihrer Auseinandersetzung mit dem Vater war eine Veränderung in ihr vorgegangen. Es fiel ihr auf, daß ihre Mutter noch bedrückter wirkte als vorhin beim Abschied.
„Willst du etwa behaupten, daß Vati dich nicht schon angerufen hat?“ fragte Leona mißtrauisch.
Leona und ihre Mutter standen sich im Wohnungsflur gegenüber und betrachteten sich mit neuen Augen.
„Stimmt, Vati hat mir berichtet, daß du weggelaufen bist“, gab Frau Irene Heuer etwas verlegen zu. „Aber ich wollte von dir hören, wie es dazu gekommen ist.“
„Wie mitfühlend von dir!“ sagte Leona, und es klang, wie es gemeint war: sehr verletzend.
„Leona!“
Das junge Mädchen trat einen Schritt näher auf ihre Mutter zu. „Sei, bitte, ehrlich! Wußtest du, daß Vati mich am liebsten ins Internat stecken möchte?“ In dieser Frage klang die zaghafte Hoffnung mit, die Mutter könnte vielleicht doch so ahnungslos sein, wie Leona selber es noch bis vor wenigen Stunden gewesen war.
Aber diese Hoffnung wurde zerstört.
„Ja“, sagte Frau Heuer.
Leona mußte nach Luft schnappen. „Und du hast mich nicht gewarnt!?“
Frau Heuer biß sich auf die Lippen. „Hör mal, Liebling“, sagte sie mit angestrengt beherrschter Stimme, „ich glaube, du siehst die Sache völlig falsch.“ Sie legte den Arm um Leonas Schultern. „Vati und ich wollen dich doch nicht in die Verbannung schicken … “
Mit einem Ruck riß Leona sich los. „Du willst mich also auch loswerden? Das kann doch nicht wahr sein!“
„Wirklich, Leona, es besteht kein Grund, dich so aufzuregen! Wir wollen nur dein Bestes!“
„Und über mein Bestes entscheidet ihr einfach über meinen Kopf hinweg? Ohne mich auch nur einmal zu fragen, was ich selber möchte? Ihr seid gemein, einfach gemein … alle beide! Du genau wie Vati!“
Unter dieser Anschuldigung zuckte Frau Heuer zusammen, aber sie behielt die Fassung. „Ich verstehe ja, daß du jetzt sehr aufgeregt bist, aber … “
„Nichts verstehst du, gar nichts! Sonst würdest du mir das nicht antun! Immer hast du gesagt, ich wäre deine beste Freundin! Und jetzt läßt du mich fallen wie ’ne heiße Kartoffel! Wie kannst du da sagen, daß du mich verstehst?“ Leona stieß die Mutter beiseite, stürzte in ihr Zimmer, knallte die Tür hinter sich zu und warf sich, ohne auf ihr schönes Kleid zu achten, quer über ihr Bett.
So verzweifelt schluchzte Leona, daß sie gar nicht merkte, wie sich nach einiger Zeit die Tür hinter ihr öffnete und die Mutter eintrat. Sie balancierte ein Tablett und stellte es auf dem Schreibtisch ab.
„Ich habe dir einen Teller gute Bouillon gemacht“, sagte sie, „mit Nudeln! Die ißt du doch so gern!“
„Laß mich in Ruhe!“ protestierte Leona.
„Du sahst vorhin so verfroren aus … und satt kannst du doch auch nicht geworden sein!“
Leona gab keine Antwort.
Irene Heuer zog sich den kleinen Sessel an ihr Bett. „Denkst du denn gar nicht daran, daß ich auch sehr traurig bin?“
„Weil Vati dich sitzenläßt … ja, deshalb!“
„Nein, genauso sehr, weil wir beide uns trennen müssen.“ Leona warf sich herum und richtete sich auf. „Aber wir müssen ja gar nicht!“ Ihr Gesicht war ganz rot, und ihr schönes blondes Haar verstrubbelt und verklebt. „Mutti, bitte, bitte, laß dir doch nichts von Vati einreden! Wir könnten es so schön miteinander haben!“
„Ja, noch ein paar Jahre und dann? Du wirst jetzt dreizehn, in fünf Jahren bist du erwachsen, du wirst heiraten wollen …“ „Nie! Nie nehme ich mir einen Mann!“
„Und wenn doch? Was wird dann aus mir? Denk doch mal nach! Wie würde es dir gefallen, wenn ich dir Vorhalten würde: Ich bin immer für dich dagewesen, jetzt kannst du mich nicht einfach … wie sagtest du doch so schön …? fallen lassen wie ’ne heiße Kartoffel.“
„Aber so weit wird es ja gar nie kommen! Ich werde immer bei dir bleiben, Mutti, immer!“
„Du willst also eine alte Jungfer werden? Und nach meinem Tod einsam und allein und nur für dich leben?“
„Das würde mir auch nichts ausmachen … jedenfalls halb soviel wie jetzt das blöde Landschulheim.“
„Aber es ist nicht blöde, Leona, es ist wunderschön dort in Rabenstein. Es liegt nur etwa achtzig Kilometer von München entfernt in den Voralpen. Ein Tennisplatz gehört dazu, ein geheiztes Schwimmbecken, ein großer, parkartiger Garten …“ Leona hatte sich schon längst die Ohren zugehalten. „Du redest wie ein Werbeprospekt! Laß mich in Ruhe… ich will nichts davon hören.“
„Wie du willst.“ Frau Heuer sah ein, daß es sinnlos war und erhob sich. „Dann lasse ich dich jetzt allein. Aber iß deine Suppe. Sie wird dir guttun.“ Sie ging zur Tür.
„Mutti!“
Frau Heuer drehte sich um.
„Hast du mich denn gar nicht mehr lieb?“
„Doch, Leona. Ich habe dich lieb und auch deinen Vater. Aber ich habe eingesehen, daß ich falsch gelebt habe. Ich habe mich in den letzten Jahren viel zu sehr dir gewidmet… viel mehr als für dich und für mich und für meine Ehe gut war. Laß mich jetzt mal reden, ja? Das ist nun wirklich keine Schleichwerbung. Es hat sich bei mir immer alles nur um dich und um meinen Mann gedreht. Dadurch mußte ich ihm langweilig werden und zu einer Belastung dazu … und wenn ich noch ein paar Jahre so weitermache, werde ich dir genauso zum Hals heraushängen.“ „Das ist einfach nicht wahr!“ Leona schlug mit beiden Fäusten auf das Bett.
„Sag lieber: Du willst es nicht wahrhaben. Es wird nicht mehr lange dauern und du wirst mit Jungens herumziehen …“
„Das habe ich überhaupt nicht vor!“
„Glaube ich dir sogar. Aber paß mal auf, das ergibt sich ganz von selber. Meinst du, es würde mir so furchtbaren Spaß machen, mir deine Geschichten anzuhören? Oder gar das Gefühl zu haben, daß du Heimlichkeiten vor mir hast?“
„Aber das ist doch alles Unsinn! Mutti, Mutti, kennst du mich wirklich so schlecht?“
„Wir werden ja sehen, wer recht behält. Rabenstein liegt nicht aus der Welt. Wir werden uns gegenseitig besuchen und fleißig Briefe schreiben.“
„Jetzt verstehe ich endlich.“ Leonas Stimme klang tonlos. „Du willst mich also wirklich loswerden … auch du. Du willst… frei sein.“ Sie hoffte inständig, daß die Mutter sich diesen Vorwurf verwehren würde.
Aber Irene Heuer sagte ganz ruhig: „Damit hast du nicht so unrecht, Liebling. Wenn ich jetzt wieder arbeite, möchte ich auch für den Abend Verabredungen treffen können. Vielleicht sogar auch einmal fürs Wochenende. Ich möchte neue Menschen kennenlernen … nicht unbedingt Männer, versteh mich nicht falsch… aber junge Frauen meines Alters.“ Sie lächelte flehend. „Ich weiß, daß ich dir weh tue, Liebling, aber das ist besser, als dich anzulügen.“ Nach einem tiefen Atemzug fügte sie hinzu: „Ich will endlich auch wieder mal an mich denken!“
Damit verließ sie das Zimmer, und diesmal hielt Leona sie nicht zurück.