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Auf nach Rabenstein

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Zum erstenmal in ihrem Leben fühlte Leona sich hilflos. Natürlich war es auch früher bei ihr hier und da schon mal zu einer Panne gekommen; sei es, daß sie eine Klassenarbeit verpatzt, ein anderes Mädchen sie angefeindet hatte oder ihr ein Lieblingsspielzeug zerbrochen, ein Lieblingskleid zerrissen war.

Aber immer hatte sie auf den verständnisvollen Trost ihrer Mutter rechnen können, ja, noch mehr, Irene Heuer war sogar immer zum Eingreifen bereit gewesen.

So war sie, wenn in der Schule etwas schief zu laufen drohte, sofort in die Lehrersprechstunde gegangen und hatte guten Wind für Leona gemacht. Lieblingsspielzeug und Lieblingskleidungsstücke waren rasch, oft durch noch schönere ersetzt worden. Frau Heuer hatte auch angeboten, Klassenkameradinnen, die Leona nicht mochten, einzuladen und zu versöhnen. Aber daran hatte Leona selber nichts gelegen, denn ihr waren die anderen Mädchen herzlich gleichgültig.

Jetzt erst, da sie mit ihren Eltern verkracht war, spürte sie, mehr als ihr bewußt wurde, daß ihr eine wirkliche Freundin, bei der sie sich wenigstens hätte aussprechen können, fehlte.

Es blieb ihr nichts anderes übrig, als ihren Kummer stumm und verbissen mit sich herumzutragen.

Natürlich dachte sie daran, auszureißen. Aber sie war zu klug, um diese Idee in die Tat umzusetzen. Sie wußte, daß sie wie alle Ausreißerinnen früher oder später bestimmt erwischt werden und dann in einem öden Erziehungsheim landen würde.

Mit ihren Eltern sprach sie nur noch das Nötigste und ging auf keinen der vielen Versöhnungsversuche ihrer Mutter ein. Dabei wußte sie, daß auch das dumm war. Viel vernünftiger wäre es gewesen, sich durch ein herzliches, liebevolles, hilfsbereites Betragen einzuschmeicheln und die Mutter dahin zu bringen, daß sie es am Ende doch nicht über sich brachte, sich von ihr zu trennen.

Aber das konnte sie nicht. Sie war zu tief verletzt und zu sehr enttäuscht.

Nett zu ihrer Mutter zu sein hätte bedeutet, daß sie sich verstellen mußte, und das brachte sie nicht über sich.

Ihren Vater strafte Leona, seit er ihr eröffnet hatte, daß sie ins Internat sollte, mit Verachtung. Für seine gutmütigen Neckereien, mit denen er sie in bessere Laune zu versetzen suchte, hatte sie nicht das leiseste Lächeln übrig.

Merkwürdigerweise schienen sich die Eltern nun, da die Trennung beschlossene Sache war, mit einemmal viel besser zu verstehen. Irene Heuer kränkte sich nicht mehr, wenn ihr Mann erst spät nach Hause kam. Sie hatte so viel zu tun, nutzte jede freie Minute, ihre Kenntnisse als Sekretärin aufzufrischen und auf den neuesten Stand zu bringen.

Tatsächlich kam Peter Heuer jetzt häufig pünktlich zum Abendessen und brachte sogar manchmal Leckerbissen mit, einen Käse, den sie besonders mochte, Oliven oder frische Crevetten. Beide sprachen lebhaft miteinander und machten Pläne für die Zukunft.

Leona fühlte sich ausgeschlossen.

Selbst wenn es etwas Interessantes im Fernsehen gab, zog sie sich frühzeitig auf ihr Zimmer zurück. Sie wollte die Eltern mit ihrer Kälte strafen und tat sich selber viel mehr damit weh.

Bittere Tränen flossen in ihr Kissen, wenn sie die Eltern gemütlich zusammen im Wohnzimmer wußte. Aber in Gegenwart von Vater oder Mutter weinte sie nie mehr. Sie wußte, es würde ihr doch nichts helfen, und sie wollte sich nicht vor ihnen demütigen. Ihr Abgang vom Max-Josef-Stift, dem MädchenGymnasium in München-Bogenhausen, das sie bisher besuchte, war beschlossene Sache.

Aber Leona sprach zu niemandem darüber.

Erst am letzten Schultag vor den Osterferien, als sie sich, wie üblich mit Babsi auf den Heimweg machte, erklärte sie so beiläufig wie möglich: „Du, ich komme übrigens nach den Ferien nicht mehr wieder!“ – Ihre Stimme klang gepreßt, denn es war ihr, als stecke ihr ein Kloß im Hals.

„Was!?“ Babsi riß förmlich vor Erstaunen Mund und Augen auf.

„Hörst du seit neuestem schlecht?“ fragte Leona hochmütig.

„Überhaupt nicht! Bloß … ich versteh es nicht! Zieht ihr etwa weg?“

„Nein. Meine Mutter will wieder arbeiten, und ich komme in ein Internat.“ Leona warf ihr langes Haar in den Nacken. „Nach Rabenstein, falls du schon mal davon gehört hast?“

„Rabenstein? Und ob!“ Babsi machte einen kleinen Luftsprung. „Mensch, wie ich dich beneide! In Rabenstein sind auch Jungens!“

„Für Jungens interessiere ich mich überhaupt nicht!“

„Warum gehst du dann nicht einfach ins Stift? Ich meine … intera?“

Diese Frage war berechtigt, denn zum Max-Josef-Stift gehört ein Internat, in dem ein Teil der Schülerinnen, die von auswärts kommen oder deren Eltern beide berufstätig sind, wohnen. Die Stiftlerinnen dürfen allerdings jedes Wochenende nach Hause, und das war wohl mit ein Grund, warum Heuers gar nicht auf die Idee gekommen waren, Leona dort hinzugeben. Das aber mochte sie Babsi nicht auf die Nase binden.

„Ich möchte lieber weg“, behauptete sie.

„Du hast ja so recht!“ Vertraulich hängte Babsi sich bei ihr ein.

Sonst hätte Leona sich dieser Berührung sicher entzogen, aber nun, da sie sich mit ihren Eltern verkracht hatte, tat ihr Babsis Anteilnahme wohl.

„Wenn man mich nur ließe“, fuhr Babsi munter fort, „glaub mir, ich würde es genau wie du machen.“

„Ja, bist du denn nicht gern zu Hause?“ Zum erstenmal interessierte sich Leona für die Probleme der anderen, aber das wurde ihr gar nicht bewußt. „Du hast doch nette Eltern!“

„Nett! Was nutzt mir das schon! Abend für Abend sitzen die bloß vor der Glotze. Vati trinkt sein Bierchen und Mutti ihr Likörchen: Wir sollen uns darüber freuen, daß wir dabeisein dürfen. Schon wenn ich mal ins Kino will, heißt’s: ,Wozu? Wir haben doch das Fernsehen?’ Als ob das alles ersetzt?“

Leona war erstaunt, daß Babsi sich Gedanken machte, die sie selber noch nie gehabt hatte. „Ja, was erwartest du denn?“ „Spaß, Abenteuer, Aufregung … einfach, daß was passiert!“ „Dann würde ich an deiner Stelle mal ’ne Bombe platzen lassen!“

„Oh, die platzt eines Tages ganz von selber. Spätestens, wenn ich ’nen Freund habe. Vorläufig ist ja noch keiner in Sicht, aber dann! Also wirklich, ich finde es ungeheuer, daß du deine Alten jetzt quitt bist.“

„So würde ich das nicht sehen.“

„So habe ich es ja auch gar nicht gemeint. Natürlich bleiben sie dir erhalten. Ohne Eltern wär’s ja auch nichts. Aber wenn du erst in Rabenstein bist, können sie dir nicht mehr reinreden. Das ist doch einfach spitze!“

Leona konnte Babsis Standpunkt nicht teilen. Aber ein bißchen hatte das Gespräch sie doch getröstet. Bisher war sie sich wie ein armes, verstoßenes Waisenkind vorgekommen. Jetzt auf einmal wurde ihr klar, daß man ihre Situation auch in einem ganz anderen Licht sehen konnte. Babsi fand sie beneidenswert, und nicht nur sie, sondern eine Menge anderer Mädchen, die noch schlechter mit ihren Eltern zurechtkamen, hätten sicher mit ihr tauschen mögen. Das war doch immerhin etwas.

Allmählich begann sogar eine gewisse erwartungsvolle Vorfreude in ihr aufzukeimen. Was die Mutter ihr von Rabenstein erzählt hatte, hatte doch sehr verlockend geklungen: geheiztes Schwimmbad, Tennisplätze, vielleicht sogar Pferde! Nur ihr Stolz verbot ihr, sich genauer zu erkundigen oder um Prospekte zu bitten. Aber das Bild, das sie sich selber von Rabenstein malte, wurde immer schöner.

Dazu kam, daß sie sich jetzt, seit sie sich mit der Mutter nichts mehr zu erzählen wußte, zu Hause zu langweilen begann. Wochenlang zu bocken ist sehr schwierig. Aber Leona war fest entschlossen, es durchzuhalten. Sie wollte, daß Vater und Mutter sich wie hartherzige, lieblose Rabeneltern fühlten. Das war die Strafe, die sie, ihrer Meinung nach, verdient hatten.

Aber ihre eigene Haltung machte ihr das Zuhausesein alles andere als angenehm. Und so kam es, daß sie den Tag herbeizusehnen begann, an dem sie endlich fortkam.

Noch nie waren ihr die Osterferien so lang vorgekommen. Die Ferien wollten und wollten kein Ende nehmen. Aber dann war es plötzlich doch soweit.

Der Abschied vom Vater fiel frostig aus.

„Mach’s gut, meine Große“, sagte er, „auch wenn’s anfangs vielleicht schwierig ist, du wirst dich bestimmt rasch einleben.“

Sie schenkte ihm keinen Blick, keinen Kuß, kein Lächeln. „Leb wohl“, sagte sie kurz und wandte sich ab.

Die Bahnverbindung nach Rabenstein war ziemlich umständlich. Deshalb fuhr die Mutter sie, auch weil sie großes Gepäck hatte, im Auto hinaus.

Es war ein Sonntagmorgen, der Himmel war, als sie die Dunstkuppel über der großen Stadt erst einmal hinter sich gelassen hatten, strahlend blau. Sie fuhren über die Autobahn in Richtung Salzburg. Bald tauchte die prächtige Kette der Alpen vor ihnen auf, deren höchste Gipfel noch weiß vor Schnee in der Sonne schimmerten.

„Ist das nicht schön?“ rief Irene Heuer.

Leona schwieg verbissen. Mit einem Seitenblick stellte die Mutter fest, daß sie die Lippen fest aufeinander gepreßt und das Kinn verschoben hatte.

„Du willst nicht mit mir reden, wie?“

„Ich wüßte nicht, was wir uns noch zu sagen hätten“, entgegnete Leona.

„Wie du meinst.“ Lrau Heuer seufzte leicht und stellte das Radio an.

Der Rest der Fahrt verlief schweigend.

Bei Siegsdorf bog Frau Heuer von der Autobahn ab, und Leona hätte gern gefragt, ob sie bald da seien. Aber sie wollte sich keine Blöße geben. Die Straße schlängelte sich bergauf, und sie kamen durch ein Dorf namens Wangen – ein malerisches Fleckchen mit schönen altbayerischen Bauernhäusern, einer Kirche mit Zwiebelturm, einem großen Kaufladen und Wirtshäusern.

Mehr konnte Leona bei der ersten Durchfahrt von dem kleinen Ort nicht erkennen.

Hoch über dem Dorf lag, weithin sichtbar, eine mächtige alte Burg, und Leona wußte, noch ehe sie die Hinweisschilder las: Das ist Rabenstein.

Ihr Herz begann heftig zu klopfen, sie wußte selbst nicht, ob aus Angst oder aus Freude.

Die schwarzrotgoldene und die bayerische Fahne flatterten im Wind; später sollte Leona erfahren, daß sie immer zum Ferienende und an Feiertagen aufgezogen wurden.

Frau Heuer mußte in den zweiten Gang zurückschalten, denn das letzte Stück der Straße war jetzt sehr steil. Nach etwa fünfhundert Metern rollten sie durch ein riesiges Burgtor auf einen holprig gepflasterten Hof.

„Da wären wir!“ Frau Heuer schaltete den Motor aus, stieg aus und öffnete den Kofferraum.

Leona nahm ihre Handtasche, Regenmantel und Anorak vom Rücksitz und kletterte auf der anderen Seite hinaus.

Sie war nicht der einzige Ankömmling. Auf dem alten Burghof ging es sehr lebendig zu. Große und kleine Jungen und Mädchen verabschiedeten sich von ihren Eltern und begrüßten lebhaft Freunde und Freundinnen. Eben fuhr ein gelber Bus mit Schülern und Schülerinnen vor.

„Ich glaube, wir lassen den großen Koffer erst mal hier und sehen, wie du untergebracht bist“, schlug Frau Heuer vor.

„Danke, das ist nicht nötig“, erwiderte Leona kalt.

„Wie? Du mußt dich doch nach deinem Zimmer erkundigen!“

„Es ist nicht nötig, daß du mich begleitest“, erklärte Leona mit berechnender Grausamkeit, „ich weiß, daß du mich nicht schnell genug loswerden kannst.“

„Aber wie kannst du das sagen! Schließlich bin ich ja immerhin noch deine Mutter!“

„Ja, das bist du!“ Leonas Ton war bewußt verletzend. Sie wuchtete den Koffer aus dem Gepäckraum. Obwohl sie dabei rot vor Anstrengung wurde, ließ sie sich nicht helfen.

„Liebling, bitte, können wir nicht im Guten Abschied nehmen?“

„Im Guten?“ Leona ließ den Koffer fallen und blickte ihre Mutter aus zornblitzenden Augen an. „Nach allem, was du mir angetan hast? Hau ab, sage ich dir! Hau endlich ab! Ich kann dich nicht mehr sehen!“

Ohne ein weiteres Wort setzte Frau Heuer sich wieder ans Steuer, ließ den Motor an, setzte zurück, wendete und verschwand durch das Burgtor aus Leonas Blickfeld.

Mit einemmal fühlte sie sich unter all den vielen Menschen sehr verlassen. Die Tränen schossen ihr in die Augen, aber sie wollte sich nicht unterkriegen lassen. Entschlossen griff sie zu ihrem Gepäck und versuchte es – mit der rechten Hand den schweren Koffer, in der linken eine Reisetasche, ihre Handtasche am langen Riemen über der Schulter, Mantel und Anorak über dem Arm –, auf das Hauptgebäude zuzuschleppen.

Ein Junge in ihrem Alter, blond und sommersprossig, pflanzte sich vor ihr auf. „Sportlich, sportlich!“ witzelte er und zeigte beim Lächeln spitze Eckzähne. „Hast wohl deine Hanteln mitgebracht, wie?“

„Grins nicht so blöd“, fuhr Leona ihn an, „hilf mir lieber!“

Ein Mädchen kommt ins Landschulheim

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